»Baron!«, rief MrSurd. »Das mussen Sie nicht selbst erledigen. Lassen Sie mich die Kinder umbringen.«
»Nein!«, fauchte der Baron. »Ich bin kein Kruppel! Ich werde diese lastige Brut selbst ausloschen! All die Monate, all die Zeit, die ich, zur Bewegungslosigkeit verdammt, damit verbracht habe, dieses Geschirrsystem zu konstruieren – sie waren nicht umsonst.
»Lassen Sie mich wenigstens das Madchen umbringen«, beharrte Surd. »Lassen Sie mich wenigstens das fur Sie machen.«
»Na schon«, gab der Baron nach. »Dann kummere ich mich um den Jungen.«
Als ware er schwerelos, glitt Maupertuis auf Sherlock zu, und obwohl sich seine Fu?e bewegten, beruhrten sie kaum das Holz.
Er streckte die Hande nach Sherlock aus und einen Moment lang dachte Sherlock, der Baron wurde ihn einladen, auf den Tisch hinaufzukommen. Doch stattdessen wurden irgendwo im Armel seiner Uniform Schnure und Drahte straff gezogen und eine glanzende Klinge glitt aus einer am Unterarm verborgenen Scheide hervor. Die zweigartigen Finger des Barons schlossen sich um den wulstigen Griff, wobei sie die Klinge weniger aktiv dirigierten als vielmehr nur lose fuhrten.
Sherlock wich zuruck und geriet dabei unversehens neben die Ritterrustung, die in der Nahe der Tur stand. Er zerrte das Schwert aus dem Panzerhandschuh und warf die Rustung zu Boden.
Sherlock nahm nur halb wahr, wie MrSurd, der die mit einer Metallspitze versehene Peitsche bedrohlich von einer Hand herabbaumeln lie?, aus dem Schatten hervortrat. Denn in diesem Augenblick kam der Baron mit geschwungenem Sabel vom Tisch auf ihn herabgesprungen. Erst jetzt registrierte Sherlock, dass die gerustartige Struktur, die seinen Huften und Beinen Halt gab, unten mit Radern versehen war. Hinter dem Baron konnte Sherlock weitere Diener ausmachen, mit deren Hilfe sich das Gerust rasch in alle Richtungen schieben und ziehen lie?. Maupertuis konnte sich innerhalb von Sekunden an jede Stelle des Raumes begeben. Und sogar schneller noch, als Sherlock es konnte.
Der Baron schwang seinen Sabel. Sherlock parierte ungeschickt und spurte, wie die Wucht des Hiebes ihm schmerzhaft in die Schulter fuhr. Funken blitzten auf, als Klinge auf Klinge prallte. Der Baron schwang sich in die Luft und zielte mit dem Sabel genau auf Sherlocks Kopf. Einen Lidschlag spater fuhr die Klinge in die Ruckenlehne des Stuhls, auf dem Sherlock gerade noch gesessen hatte. Der Hieb spaltete muhelos den Stuhl und Holzsplitter flogen in alle Richtungen.
Sherlock blickte verzweifelt nach rechts, wo Virginia gerade vor MrSurd zuruckwich, der dabei war, seine Peitsche zu entrollen. Im nachsten Augenblick schlug MrSurd auch schon zu, und der Peitschenschwanz schnellte Virginia entgegen. Sie wich zuruck. Aber sie hatte nicht schnell genug reagiert, denn auf ihrer Wange klaffte ein tiefer Schnitt. Blut spritzte hervor und ergoss sich in einem blutenformigen Muster uber ihre Haut.
Sherlock wollte ihr auf der Stelle zur Hilfe eilen, aber mit spielerischer Leichtigkeit landete der Baron direkt vor ihm auf dem Fu?boden. Sherlock sprang auf die Beine und fuhrte mit dem Schwert einen seitlich gerichteten Hieb aus, um eines der Seile und Faden zu durchtrennen, die den Baron aufrecht hielten. Aber die schwarz gekleideten Diener zogen ihren Meister rasch aus Sherlocks Reichweite. Das bleiche, totenschadelahnliche Gesicht des Barons verzog sich zu einer grinsenden Grimasse. Die rosafarbenen rattenartigen Augen schienen vor Triumph formlich zu gluhen. Er machte einen Satz nach vorn, indem er mit dem rechten Fu? uber den Teppich glitt und den rechten Arm, der den Sabel fuhrte, zu einem perfekten Sto? ausfuhr, wahrend sein linker Fu? den Korper abstutzte. Sherlock konnte horen, wie die Diener in den Schatten vor Anstrengung schnauften, als sie ihr Gewicht gegen die Seile stemmten, um den Baron aufrechtzuhalten. Die Klinge sauste auf Sherlocks Kehle zu. Er versuchte den Hieb zu parieren, aber seine Fu?e verfingen sich in ein paar Teppichfalten. Er fiel der Lange nach ruckwarts hin und schlug mit dem Kopf auf den Boden.
»Ich war der beste Fechtmeister in ganz Frankreich!«, prahlte Maupertuis. »Und bin es immer noch!«
Virginia schrie auf, und Sherlock blickte unfreiwillig in ihre Richtung. Surd hatte sie in die Enge getrieben, und nun stand sie mit dem Rucken an der Wand. Auf ihrer Stirn klaffte eine weitere Schnittwunde.
Sherlock versuchte, zu ihr zu kommen, aber wie aus dem Nichts kam die blitzende Sabelklinge des Barons auf ihn zugeschossen. Sie durchschnitt seinen Hemdkragen und brachte ihm eine Wunde quer uber die Brust bei, die wie Feuer brannte. Sherlock rappelte sich wieder auf und wich hastig zuruck, wahrend er gleichzeitig wild mit der Klinge vor seinem Korper hin- und herfuchtelte, im verzweifelten Versuch, die Hiebe des Barons zu parieren.
Unter heftigem Seilgeknarze wurde plotzlich die holzerne Stutzkonstruktion und mit ihr der Baron in die Hohe gehievt und gleich darauf kam Maupertuis’ Korper auch schon auf Sherlock zugeflogen. In einem Angriff, den zu parieren selbst einem Ubermenschen Probleme bereitet hatte, drang er auf Sherlock ein und schwang seinen Sabel wie eine Sense in horizontalen Bewegungen hin und her. Ungeachtet seiner Fechtmeisterambitionen hatte er offensichtlich jeden Gedanken an die hohe Fechtkunst verbannt, denn er hackte nun einfach nur noch wie von Sinnen auf Sherlock ein. Von der Anstrengung, die Streiche zu parieren, wurden Sherlocks Arme immer schwerer. Seine Muskeln brannten, und die Sehnen waren so straff gespannt wie Violinensaiten.
Etwas flog durch die Luft an Sherlocks Kopf vorbei und er drehte sich danach um. Es war ein eiserner Panzerhandschuh, der zur Ritterrustung gehorte, die er zuvor umgeworfen hatte. Virginia hatte ihn vom Boden aufgehoben und auf MrSurd geworfen, der versuchte, sein Gesicht mit der Hand zu schutzen. Gleich darauf nahm Virginia einen Panzerschuh und schleuderte ihn MrSurd entgegen. Diesmal hatte sie mehr Erfolg. Die Spitze des Metallschuhs traf den Narbenmann knapp uber dem Auge, und er stie? einen wilden Fluch aus.
Sherlock wich noch einmal zuruck, als Maupertuis weiteren Boden gutmachte, wahrend uber ihm laut die Seile unter der Last des deformierten Mannes knarrten.
Wie brachten es die schwarz gekleideten Marionettenspieler nur fertig, ihre Bewegungen so gut zu koordinieren? Maupertuis bewegte sich genauso gut wie jemand, der nicht solche schrecklichen Verletzungen erlitten hatte. Seine Schritte hatten sogar etwas Prahlerisches.
Der Baron hob den Sabel an seinem linken Ohr vorbei und lie? die Klinge diagonal auf Sherlocks Kopf niedersausen. Sherlock parierte den Hieb, und als die Klingen aufeinanderprallten, stoben Funken wie kleine Gluhwurmchen in alle Richtungen davon und brannten sich ihm schmerzhaft in Hals und Schulter.
Es war hoffnungslos. Maupertuis war ein meisterhafter Fechter, selbst mit dem Nachteil, dass er jede einzelne Bewegung von seinen anonymen Dienern ausfuhren lassen musste. Entweder handelte es sich bei seinen Helfern auch um Fechtmeister – was Sherlock sich fast vorstellen konnte – oder sie hatten mit dem Baron so lange trainiert, dass sie mittlerweile alle, ohne nachzudenken oder miteinander zu kommunizieren, instinktiv wie ein einziger Organismus agierten. Wie viele Tausende von Stunden hatte Maupertuis wohl damit verbracht, sie zu drillen, bis sie zu personifizierten Verlangerungen seines eigenen Willens geworden waren?
Sherlock wich abermals zuruck, stie? aber mit Ellenbogen und Schultern gegen etwas Hartes. Die Wand! Er hatte sich nun so weit zuruckgezogen, wie es moglich war.
Maupertuis’ Ellenbogen hob sich mit einem Ruck, und der Sabel schoss wie ein Blitz auf Sherlock zu. Verzweifelt warf sich Sherlock zur Seite. Die Klinge fuhr durch den Jackenkragen und bohrte sich dann knirschend zwischen zwei Ziegelsteinen in eine Fuge. Sherlock versuchte, sich loszurei?en, aber er steckte fest. Aufgespie?t wie ein Schmetterling auf einer Schautafel.
Er spannte den Korper an und wartete darauf, dass Maupertuis die Klinge fur den finalen Sto? zuruckziehen wurde, um dann zur Seite zu gleiten und vielleicht noch einmal zu entkommen. Aber stattdessen hob Maupertuis seine linke Hand in die Hohe. Drahte und Schnure spannten und krummten sich wie Sehnen, und dann glitt etwas aus dem linken Armel des Barons. Einen Moment lang dachte Sherlock, es ware ein Messer. Aber die Spitze war irgendwie merkwurdig. Sie sah aus wie eine Metallscheibe mit einem gezackten Rand.
In der Dunkelheit hinter dem Baron fing etwas zu surren an. Die Scheibe begann sich zu drehen und schickte funkelnde Lichtblitze in alle Richtungen. Sherlock konnte spuren, wie ihm Luft ins Gesicht stromte, als der Baron die Sagezahnscheibe naher und naher an sein rechtes Auge brachte.
Verzweiflung uberkam ihn. Er war dem Baron nicht gewachsen. Gegen diesen Gegner wurde er nicht mehr lange uberleben.
Aber er musste Virginia retten.
Der Gedanke trieb ihn zu einer letzten Kraftanstrengung. Er wand sich, zog seinen Arm aus dem Jackenarmel und fiel in dem Moment auf die Bodenfliesen, als die Scheibe auf die Wand traf. Funken und Steinchen stoben in alle Richtungen, wahrend sich die rotierende Scheibe kreischend in den Stein fraste und eine flache Furche hinterlie?. Fluchend versuchte der Baron, den Sabel wieder zwischen den beiden Ziegelsteinen herauszuziehen.
Wenn Sherlock den Baron nicht mit seinen Fechtkunsten besiegen konnte, wurde er ihn eben mit der Kraft seines Verstandes bezwingen mussen. Er musste nur eine verwundbare Stelle finden, etwas, das er ausnutzen