doch jeder, dass sein Plan irre und sein Wunschziel unmoglich ist. Ob es ihm nun gefallt oder nicht: Gro?britannien ist eine Weltmacht. Und das kann er nicht ruckgangig machen.«

»Ich bin erstaunt«, fauchte der Baron, »dass du dieses Land so energisch verteidigst, Madchen.«

Uberrascht, dass der Baron sie plotzlich mit einbezog, blickte Virginia auf. »Erstaunt? Warum?«, fragte sie. »Ich mag es nun mal nicht, wenn unschuldige Menschen getotet werden. Ist das so ungewohnlich?«

»Dein Amerika hat uber zweihundert Jahre lang zu diesem Land gehort«, hob der Baron hervor. »Dort wurde alles von London aus geregelt. Ihr wart einfach nur so etwas wie eine weitere Grafschaft. So wie Hampshire oder Dorset, blo? gro?er und weiter weg. Ihr musstet erst gegen die britische Herrschaft rebellieren, um das Joch von Westminster abzuschutteln.«

»Und das haben wir in einem sauberen Kampf getan«, stellte sie klar. »Nicht mit Hilfe von irgendwelchen Tricks, Verschworungen oder Geheimplanen. Wenn es schon Kriege geben muss, dann sollten sie so sein: fair, offen und sauber. Es sollte Regeln geben fur den Krieg. Genauso wie furs Boxen.«

»Wie naiv«, murmelte der Baron. »Wie uberaus naiv. Und so sinnlos. Leider werdet ihr es nicht mehr erleben, wie eure wertvolle Weltordnung einsturzt. Denn vorher werdet ihr beide sterben.«

»Sie wirken gerne im Dunkeln, nicht wahr?«, sagte sie. Der harte Ton in ihrer Stimme hatte Sherlocks Aufmerksamkeit erregt. Er warf einen Blick auf Virginia und fragte sich, was sie im Schilde fuhrte.

»Der erfolgreiche Kampfer schlagt aus der Dunkelheit zu und begibt sich danach wieder in ihren Schutz, so dass der gro?ere und starkere Feind nicht wei?, wo er zuschlagen soll«, flusterte der Baron. »So sieht die Kriegfuhrung der Zukunft aus. So kann ein kleinerer Gegner seinen viel gro?eren Feind bezwingen. Durch List.«

»Sie ziehen die Dunkelheit vor? Dann sehen wir doch mal, was Sie vom Sonnenlicht halten«, schrie Virginia und sprang auf die Beine. Sherlock spurte, wie jemand im dunklen Bereich des Raumes in hektische Aktivitat verfiel. Offensichtlich MrSurd, der sich anschickte, seine mit einer Metallspitze versehene Peitsche zum Einsatz zu bringen. Aber Virginia huschte rasch zur Seite, bevor sich die Peitschenzunge in die Ruckenlehne des Stuhles fra?, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Sie packte die schwarzen Samtvorhange, die die eine Raumseite saumten, und zog mit aller Kraft daran. Sherlock horte Stoff rei?en und dann – mit einem Gerausch, das an ferne Regenschauer erinnerte – kam in einer langsamen weichen Stofflawine eine komplette Vorhangbahn herunter. Grelles Sonnenlicht flutete einen Teil des Raumes.

Schwarz gekleidete und maskierte Gestalten, die um sie herum postiert waren, bedeckten schutzend ihre Augen. Aber Sherlocks Blick war auf die Gestalt des Barons gerichtet, der in einem uberdimensionalen Stuhl am anderen Tischende sa?. Es war tatsachlich derselbe wei?haarige Mann mit den rosafarbenen Augen, den er in der Kutsche in Farnham gesehen hatte. Er blinzelte ins Licht und bedeckte dann mit einer Hand sein Gesicht, wahrend er sich mit der anderen eine Brille mit dunklen Linsen aufsetzte, um die empfindlichen Augen zu schutzen.

Seine dunnen Arme waren irgendwie verbogen und sahen aus wie die bizarr gekrummten Aste einer uralten Eiche. Sein Kopf hing kraftlos auf eine Schulter herab. Gekleidet war er in eine Art Militaruniform, deren schwarzer Stoff auf Brust und Armelaufschlagen mit goldenen Litzen verziert war. Um seine Stirn herum zog sich ein merkwurdiger Gegenstand, der wie ein Holzrahmen aussah. Plotzlich richtete sich sein Kopf auf, und unter den dunklen Linsen hervor gluhten ihn seine Augen so durchdringend an, dass Sherlock fast ihre Hitze zu spuren meinte. Ihm fiel auf, dass Leinen vom Rahmen aus in die Hohe fuhrten und dass diese genau in dem Moment straff gezogen worden waren, als Maupertuis’ Kopf sich aufgerichtet hatte.

MrSurd stand neben dem Baron. Das grelle Licht der Sonne brachte seine Narben so zum Leuchten, dass sie formlich lebendig zu werden schienen und aussahen wie ein Haufen Wurmer, die auf einem Totenschadel wimmelten. Mit einem Blick, der Tod und Verderben versprach, fixierte er Sherlock und Virginia und holte mit der Peitsche aus.

»Nein!«, zischte der Baron. »Sie gehoren mir

Fast wie unter Zwang wanderte Sherlocks Blick nun wieder zum verdrehten Korper des Barons zuruck. Er nahm weitere Seile wahr, die an kleineren, an Handgelenken und Ellenbogen montierten Holzrahmen befestigt waren, sowie einen gro?eren Holzrahmen, der seine Brust umschloss. Dickere Seile fuhrten von diesem Brustrahmen in die Hohe. Als Sherlock ihnen mit den Augen zur Decke folgte, erkannte er, dass alle Seile an einem gro?en Balken befestigt waren, was wie ein uber dem Baron schwebender Galgen aussah. An dem Sherlock zugewandten Balkenende war im rechten Winkel ein kleinerer Querbalken angebracht, der mit Metallhaken und auf winzigen Achsen gelagerten Radchen ubersat war.

Die Seile liefen durch die Haken und uber die Radchen wieder nach unten. Sherlock folgte ihnen mit dem Blick weiter nach hinten, wo maskierte, schwarz gekleidete Diener die Seilenden in Handen hielten. Es mussten gut zwanzig, vielleicht sogar an die drei?ig Seile sein, die alle mit bestimmten Korperteilen des Barons verbunden waren. Und als Sherlock noch unglaubig auf die Szenerie starrte, setzten sich einige der Diener in Bewegung und zogen mit aller Kraft an ihren Seilen, wohingegen andere wiederum mit ihren Seilen nachgaben oder sie nur einfach lose in der Hand hielten, ohne daran zu ziehen. Und wahrend sie das taten, richtete der Baron sich ruckartig auf.

Er war eine Marionette! Eine menschliche Marionette, die ausschlie?lich von anderen bewegt wurde.

»Ziemlich grotesk, was?«, zischte der Baron. Mund und Augen schienen die einzigen Korperteile zu sein, die er noch selbstandig bewegen konnte. Seine rechte Hand hob sich und wies auf seinen Korper. Doch die Bewegung wurde von einer Reihe von Seilen erzeugt, die an Handgelenk, Ellenbogen und Schulter befestigt waren, sowie von feineren Schnuren, die man an Fingerringen fixiert hatte. Alle diese Korperteile bewegten sich nicht, weil der Baron sie kraft seines Willens dazu brachte, sondern weil seine schwarz gekleideten Diener vorhersahen, welche Bewegung er machen wurde, wenn er konnte.

»Das ist das Vermachtnis, das mir das Britische Empire hinterlassen hat. Du hast den Todesritt der leichten Brigade erwahnt, Junge. Ein odes, sinnloses Gefecht, ausgelost durch missverstandene Befehle, geschehen in einem Krieg, der niemals hatte gefuhrt werden durfen. Ich war selbst dort, an jenem wolkenverhangenen Tag. Gemeinsam mit dem Earl of Lucan. Ich war sein Verbindungsoffizier zur franzosischen Kavallerie, die an seiner linken Flanke postiert war. Ich habe die Befehle gesehen, als sie von Lord Raglan eintrafen. Ich wusste, dass sie schlecht formuliert waren und dass Lucan sie missverstanden hatte.«

»Was ist passiert?«, fragte Sherlock.

»Wahrend der Attacke wurde mein Pferd eingeholt und vom Kanonenfeuer so erschreckt, dass ich unmittelbar vor Hunderten von britischen Pferden abgeworfen wurde. Sie sind direkt uber mich hinweggaloppiert. Ich bezweifle, dass sie mich uberhaupt gesehen haben. Ich spurte, wie meine Knochen brachen, als die Hufe auf mich eintrommelten. Ob Beine, Arme, Rippen, Huften, Schadel … alle gro?eren Knochen in meinem Korper waren gebrochen, und auch die meisten kleineren. Innen drin glich ich einem Puzzle.«

»Eigentlich hatten Sie sterben sollen«, keuchte Virginia uberrascht, und Sherlock war nicht sicher, ob das mitfuhlend oder bedauernd gemeint war.

»Ich wurde von meinen Landsleuten gefunden, nachdem die Briten von den russischen Kanonen in Stucke gerissen worden waren«, fuhr Maupertuis fort. »Sie haben mich vom Schlachtfeld getragen und meine Wunden versorgt. Sie haben mich zusammengeflickt, so gut sie konnten, und haben alles getan, damit meine Knochen heilten. Aber meine Wirbelsaule war gebrochen, und obwohl mein Herz immer noch schlug, konnte ich die Beine nicht mehr regen. Da sie es nicht wagten, mich allzu weit fortzubewegen, lag ich ein Jahr lang im Zelt. In der stinkenden Hitze und der eisigen Kalte der Krim. Ein ganzes Jahr lang. Und fur jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat, die ich da lag, verfluchte ich die Briten und ihre dumme Einfaltigkeit, mit der sie stur einfach Befehle befolgen, egal wie toricht diese auch sein mogen.«

»Sie sind freiwillig dort gewesen und haben es sich ausgesucht«, hob Sherlock hervor. »Sie haben eine Uniform getragen. Und Sie sind am Leben, wahrend Hunderte von guten Mannern umgekommen sind.«

»Und jeden Tag wunschte ich, ich ware mit ihnen gestorben. Aber ich lebe, und ich habe eine Bestimmung: das Britische Empire in die Knie zu zwingen. Und mit dir fange ich an, Junge.«

Als er diese Worte ausspie, schien Maupertuis in die Luft emporzuschweben, um gleich darauf leicht wie eine Feder auf den Tisch herabzusinken. Die von seinen schwarz gekleideten Puppenspielern betatigten Seile uber ihm strafften sich, und ein knarzendes Gerausch erfullte den Raum, als die Seile und die Holzkonstruktion mit dem Gewicht des Barons belastet wurden. Irgendwie hatten die Diener erahnt, welche Bewegungen er von ihnen erwartete. Sherlocks Vermutung nach arbeiteten sie schon so lange mit ihm zusammen, dass sie seine Gedankengange instinktiv erfassen und sie augenblicklich in entsprechende Bewegungen umsetzen konnten. Als Maupertuis’ Fu?e den Tisch beruhrten, sprang Sherlock von seinem Stuhl auf.

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