erwarten.

Sherlock glitt von der Mauer, nahm Virginias Hand und half ihr herunter. »Zeit zu gehen«, sagte er. Aber als er sich umdrehte, sah er sich unversehens einem Halbkreis von Seeleuten und Hafenarbeitern gegenuber, die wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.

Virginia mit sich ziehend, versuchte er wegzurennen. Aber schwere Hande packten ihn und zerrten ihn von ihr fort. Er stolperte, die Hande hielten ihn jedoch mit eisernem Griff auf den Beinen. Er sah, dass auch Virginia stolperte. Doch im nachsten Augenblick nahm er nur noch eine Hand wahr, die mit einem zusammengeknullten Stoffballen in der Innenflache auf ihn zugeschossen kam und sich auf sein Gesicht presste. Ein schwerer, bitterer Medizingeruch drang ihm in die Nase. Dann sturzte er plotzlich in ein bodenloses Loch, das exakt die Farbe von Virginias Augen hatte. Ein abgrundtiefer Schlaf und entsetzliche Traume warteten auf ihn.

14

In seinen Traumen kampfte Sherlock mit einer riesigen Schlange. Ihr Korper war so dick wie ein Bierfass und bestand, soweit er es sehen konnte, nur aus Muskeln und Rippen. Ihr Kopf sah aus wie ein flaches Dreieck mit zwei sageartigen Zahnen an den Seiten. Sie kampften irgendwo im Wasser, aber in seinem Traum war das Wasser so dick und schwarz wie Rubensirup. Die Schlange ringelte sich langsam um seinen Korper und zog sich zusammen, um seine Rippen zu brechen. Aber das zahflussige Wasser erschwerte ihre Bewegungen, und Sherlock war in der Lage, den um ihn gewundenen Korper auseinanderzudrucken, indem er sich mit Armen und Beinen fest dagegenstemmte. Doch als er dann zu fliehen versuchte, wurden seine Schwimmbewegungen von dem zahflussigen Wasser so grotesk verlangsamt, dass die Schlange erneut ihren Korper um ihn schlangeln und langsam wieder zudrucken konnte. Und so ging es immer weiter: Verstrickt in einem endlosen Kampf, versuchte Sherlock unaufhorlich der Schlange zu entkommen, wahrend diese beharrlich bestrebt war, ihn zu umklammern.

Mit dem Gefuhl, dass eine Menge Zeit verstrichen war, erwachte Sherlock endlich. Mund und Hals fuhlten sich staubtrocken an, und als er mit der Zunge uber den Gaumen fuhr, blieb sie zunachst daran haften. Au?erdem war er am Verhungern.

Nach einer Weile fuhlte er sich stark genug, um sich aufzusetzen, ohne dass ihm ubel wurde. Und was er sah, lie? ihn vorubergehend Durst, Hunger und Ubelkeit vergessen.

Er lag in einem Himmelbett, uber das sich ein kunstvoll bestickter Baldachin wolbte. Sein Kopf ruhte auf weichen Daunenkissen und der Raum war mit dunklem Eichenholz getafelt.

Erlesene, mit detailreichen Motiven verzierte Teppiche bedeckten die glanzend lackierten Bodendielen.

Es war derselbe Raum, in dem er aufgewacht war, nachdem man ihn im Boxring k.o. geschlagen hatte, auf dem Jahrmarkt am Rand von Farnham.

Aber wie war das moglich? Baron Maupertuis hatte das Anwesen doch aufgegeben und es vollig leer zuruckgelassen. Er konnte doch unmoglich so rasch zuruckgekehrt sein? Und warum sollte er so was tun?

Sherlock rollte sich vom Bett herunter und stellte sich aufrecht hin. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und war uberrascht, als er um Mund und Nase herum auf irgendetwas Trockenes stie?. Er rieb daran, zog etwas davon von seiner Haut ab und betrachtete seine Finger. Sie waren mit Faden einer schwarzen Substanz bedeckt. Er rieb die Finger aneinander und stellte verwundert fest, dass die Faden leicht klebrig waren.

Er erinnerte sich an den Stoffballen, der ihm auf den Mund gepresst worden war. Eine Chemikalie? Eine Droge, um ihn zu betauben? Das war nicht unwahrscheinlich.

Und Virginia? Der plotzlich in ihm aufbrodelnde Zorn spulte die letzten Reste von Schlaf und Ubelkeit aus seinem Korper. Was war mit Virginia passiert? Sollte jemand ihr etwas angetan haben, dann wurde er ihn …

Was wurde er? Ihn umbringen? Er war momentan nicht gerade in der Lage, so etwas zu tun.

Er musste Informationen sammeln. Herausfinden, was hier vor sich ging, und warum. Erst dann wurde er etwas unternehmen konnen.

Sherlock ging zu den geschlossenen Vorhangen hinuber und zog sie zuruck. Er hatte erwartet, auf trockene rote Erde und Hunderte von Bienenstocken zu blicken. So wie beim letzten Mal, als er in diesem Raum gewesen war. Aber was er nun sah, lie? ihn uberrascht zurucktaumeln.

In kurzer Entfernung zum Haus zog sich ein Strand aus grauem Sand entlang und dahinter erstreckte sich bis zum fernen Horizont eine Flache aus rollenden, schaumgekronten Wogen. Der Himmel war strahlend blau. Und irgendwo in der Ferne konnte Sherlock mehrere Segel erkennen.

Er schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. Halluzinierte er gerade? Durchaus moglich, vermutete er. Aber der Traum von der Schlange und dem sirupartigen Wasser hatte etwas Bizarres und Unlogisches in der Wahrnehmung gehabt. Etwas, das – im Nachhinein betrachtet – bewirkt hatte, dass ihm irgendwie klar gewesen war, dass er traumte. Wohingegen das da drau?en klar erkennbar war und irgendwie echt aussah.

War das Bild, das sich ihm drau?en vor dem Fenster bot, etwa genau das? Ein perfekt ausgefuhrtes Gemalde, das einem den Eindruck vermittelte, es mit realem Strand, Meer und Sonne zu tun zu haben, wahrend es sich tatsachlich nur um Farbpigmente auf einer Leinwand oder einer Tafel handelte? Er offnete wieder die Augen und sah noch einmal genauer hin.

In weiter Entfernung waren kleine, wei?e w-formige Umrisse zu erkennen, die uber den Wellen kreisten, sich also bewegten, wahrend er sie beobachtete. Seevogel, die sich im Aufwind treiben lie?en. So etwas konnte man nicht in einem Bild vortauschen. Was auch immer sich da drau?en befand, war real.

Und da es in der Nahe von Farnham keinen Ozean gab, lag die logische Schlussfolgerung nahe, dass er sich nicht mehr in der Nahe von Farnham befand. Und vermutlich noch nicht einmal mehr in England. Der Kaimeister hatte erzahlt, dass das Schiff Frankreich ansteuern wurde. Das wurde auch die merkwurdige Felskuste erklaren.

Aber was war mit dem Raum? Das war vermutlich ganz simpel durch die Tatsache zu erklaren, dass Baron Maupertuis ein Gewohnheitstier war und, wo immer er sich auch aufhielt, es zu schatzen wusste, wenn seine Umgebung stets so vertraut wie moglich war. Gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Anwesen au?erhalb von Farnham nicht um seinen Familiensitz handelte, so hatte er es vermutlich so umgebaut und umgestaltet, dass es dem glich, was er als sein Zuhause bezeichnete – wo immer es auch sein mochte. Wobei es sich dabei durchaus um dieses franzosische – wie sagte man hier doch gleich … Chateau? – handeln konnte, in dem er sich gerade aufhielt.

Ein seltsames Gefuhl der Selbstzufriedenheit erfullte ihn. Er war einer Sache auf die Spur gekommen, die von seinen Widersachern seiner Vermutung nach eigentlich dafur vorgesehen war, ihn zu verwirren und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als dann das Turschloss hinter ihm klickte und die Tur nach innen aufschwang, drehte er sich nicht einmal um. Er wusste bereits, was er dort zu sehen bekame: zwei Diener in schwarzen Kniebundhosen, schwarzen Beinlingen, schwarzen Westen und kurzen schwarzen Jacken. Mit schwarzen Samtmasken im Gesicht. Genau wie beim letzten Mal. Er zahlte im Kopf bis zehn und drehte sich um. Er hatte recht. Jedenfalls zum Teil. Die beiden Diener, die links und rechts in der Tur standen, waren genauso angezogen, wie er sich erinnerte. Allerdings stand noch ein dritter Mann in der Mitte des Turrahmens. Genauer gesagt, war er so riesig, dass er diesen fast vollstandig ausfullte. Seine Arme waren so dick wie die Beine eines normalen Mannes, wahrend seine eigenen Beine den Umfang von Baumstammen aufwiesen. Seine Hande glichen in Gro?e und Gestalt gro?en Schaufelblattern. Aber das, womit er in erster Linie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war sein Kopf. Er war kahlgeschoren, doch seine Kopfhaut war so dicht von gewundenen braunen Narben uberzogen, dass es auf den ersten Blick aussah, als hatte er einen uppigen Haarschopf auf dem Kopf. Uber einem schlabberig sitzenden grauen Anzug trug er einen langen braunen Ledermantel, dessen weiter Schnitt und schiere Masse ihn sogar noch gro?er wirken lie?en.

»Der Baron will dich sehen«, sagte er mit einer Stimme, die sich anhorte, als wurden zwei Millionen Mahlsteine aufeinanderreiben.

»Und was ist, wenn ich den Baron nicht sehen will?«, erwiderte Sherlock ruhig. Die beiden Diener tauschten Blicke aus, aber der Narbenmann schuttelte nur leicht den Kopf. »Was der Baron will, kriegt er auch. Etwas anderes gibt es nicht.«

»Was ist, wenn ich mich weigere, mit euch zu gehen?«

»Dann packen wir dich am Kragen und tragen dich.«

Sherlock wusste, dass er sich kindisch benahm. Aber seine Widersacher sollten begreifen, dass er nicht einfach nur ein willenloses und passives Opfer war.

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