Stra?en fuhren von einem Ort zum anderen. Ein Weg, der einfach in einer Mauer endet, ist nicht logisch. Er erfullt keinen Zweck und ware somit auch gar nicht erst gebaut worden.«

Sherlock wirbelte herum und lie? den Blick uber die Ziegelsteinmauer gleiten. Keine Turen, keine Fenster. Nichts au?er einem gro?en Schattenfleck in der Ecke, dort, wohin das matte Sonnenlicht nicht vordringen konnte.

Wenn es einen Ausweg gab, dann musste er dort sein.

Er rannte in den Schatten hinein. Hatte sich dort nichts befunden, ware er geradewegs gegen die Ziegelsteine gedonnert und k.o. gegangen. Stattdessen aber stie? er auf einen schmalen Durchgang. Da war sie, seine Fluchtmoglichkeit!

Der enge finstere Gang fuhrte zwischen zwei Gebauden entlang. Er rannte weiter und horte plotzlich frustrierte Rufe hinter sich, als seine Verfolger auf der Suche nach dem Durchgang kurzzeitig orientierungslos im Schatten umhertappten. Dann kamen sie einer nach dem anderen hinter ihm in den Gang gestolpert, und Sherlock horte ihre achzenden Atemzuge von den hohen Mauerwanden widerhallen.

Mal an die linke, dann wieder an die rechte Wand sto?end, sturmte Sherlock im Zickzack weiter durch den dunklen Gang voran, bis er schlie?lich auf eine breite Stra?e hinaussturzte, die auf beiden Seiten von Hausern gesaumt war. Die drohnenden Stiefeltritte seiner Verfolger in den Ohren rannte er ein Stuck geradeaus, bevor er plotzlich aus vollem Lauf schlitternd in einen kleinen Weg nach links einbog. Schon hatte er wieder ein paar Meter Vorsprung gewonnen.

Doch im nachsten Augenblick kam ein Hund aus einer Maueroffnung auf ihn zugeschossen. Allerdings war Sherlock schon vorbei, als die Zahne des Hundes hinter ihm laut in die leere Luft schnappten und das rasende Tier sich gleich darauf auf die Manner sturzte, die hinter ihm her waren. Sherlock horte wutendes Gebell und heftiges Gefluche, als seine Verfolger dem Hund auszuweichen versuchten. Dann vernahm er, wie ein Stiefel mit dumpfem Ton auf etwas Weiches traf – ein Ubelkeit erregendes Gerausch, bei dem Sherlock unwillkurlich zusammenzuckte. Der Hund jaulte laut auf und krabbelte winselnd davon.

Als Sherlock gleich darauf mit Hochstgeschwindigkeit wieder um eine Ecke flitzte, rannte er mit voller Wucht in einen Mann und eine Frau hinein, die anscheinend gerade am Ufer der Themse einen Spaziergang machten. Wahrend Sherlock blo? etwas nach hinten taumelte, schlug der Mann der Lange nach hin.

»Du elender kleiner Dreckskerl«, schrie der Mann, als er sich wieder auf die Beine hievte. »Ich zieh dir die Hammelbeine lang!« Er schob sich die Armel seiner Jacke hoch und entblo?te muskelbepackte Unterarme, die mit blauen Anker- und Meerjungfrauen-Tattoos uberzogen waren.

»Tu ihm nichts, Bill. Er hat’s nicht mit Absicht gemacht!« Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Begleiters. Ihre bleiche Haut war ubertrieben geschminkt. Ihre Lippen sahen aus wie ein blutiger Schlitz, und ihre Augenlider waren mit schwarzem Puder schattiert, was ihr Gesicht im Endergebnis wie einen Totenkopf aussehen lie?. »Er ist doch nur ein Kind.«

»Ich dachte, er war ’n Dieb«, knurrte der Mann noch einmal, diesmal allerdings schon weniger aggressiv.

»Hinter mir sind Manner her«, stie? Sherlock zwischen keuchenden Atemzugen hervor. »Ich brauche Hilfe.«

»Du wei?t, was sie in dieser Gegend mit kleinen Jungen alles anstellen«, sagte die Frau. »Das wurde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wunschen. Tu was, Bill. Hilf dem Jungen.«

»Stell dich hinter mich«, sagte Bill. Da die Armel ohnehin schon einmal hochgekrempelt waren, schien er gro?e Lust auf einen Kampf zu haben, und offensichtlich zerbrach er sich auch nicht allzu sehr den Kopf daruber, mit wem er es gleich zu tun bekommen wurde.

Sherlock schlupfte hinter den massigen Korper des Mannes, als seine Verfolger auch schon um die Ecke kamen.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Bill mit tiefer Stimme, die vor Gewaltbereitschaft nur so triefte. »Lasst das Kind in Ruhe.«

»Keine Chance«, erwiderte Denny, der an der Spitze der funf Manner stand. Er brachte seine Hand in die Hohe, in der er ein Messer hielt. Das Licht der Nachmittagssonne perlte wie eine gluhende Flussigkeit auf dem scharfen Grat der Klinge entlang. »Der gehort uns.«

Bill langte nach dem Messer, doch Denny warf es von seiner rechten in die linke Hand und stie? es dann in einer raschen Vorwartsbewegung in Bills Brust. Der Mann fiel auf die Knie, spuckte Blut und starrte mit unglaubigem Gesichtsausdruck vor sich hin. Fast sah es so aus, als konnte er nicht akzeptieren, dass diese Sekunden hier im Stra?endreck seine letzten auf Erden sein sollten.

Lachelnd musterte Denny Sherlock, als Bill nach vorne auf das Pflaster krachte. »Bei dir«, versprach er, »wird’s nicht so schnell gehen.«

13

Sherlocks gesamter Korper schien vor Entsetzen und Fassungslosigkeit zunachst wie gelahmt zu sein. Doch dann wurde er von gluhend hei?er Wut gepackt. Er trat auf Denny zu und rammte ihm mit voller Wucht die Faust in den Unterleib. Verzweifelt nach Luft japsend, klappte der Schurke zusammen. Als sein Gegner zu Boden ging, wich Sherlock etwas zuruck und trat ihm gegen den Unterkiefer. Etwas knackte. Der Mann schrie aus weit aufgerissenem Mund, mit einer grotesk verbogenen Kinnlade, die plotzlich wie eingerastet zu sein schien.

Die Frau – Bills Begleiterin – schrie ebenfalls wie am Spie?. Ihr schrilles Gekreische schnitt wie ein Messer durch die Luft. Fassungslos sahen sich die anderen vier Manner an. Dann bewegten sie sich auf Sherlock zu und streckten ihre schmutzigen Hande nach ihm aus. Alle Einzelheiten dieses schrecklichen Erlebnisses sollten sich unausloschlich in Sherlocks Gedachtnis einbrennen: der Dreck unter ihren Fingernageln, die Haare auf den Handrucken, die sich auf dem Boden ausbreitende Blutlache, das Gekreische der Frau und Dennys Schreie, die sich zu einem einzigen Schreckenslaut der Qual vereinten. Die Welt um ihn herum schien sich zu verlangsamen und schlie?lich zu erstarren, um gleich darauf in unzahlige Teile zu zerspringen. Mit trockenem Mund wandte er sich der Frau zu. »Es tut mir so leid«, brachte er hervor.

Dann nahm er wieder die Beine in die Hand. Zwei der Manner folgten ihm, wohingegen die anderen bei Denny zuruckblieben, der neben Bill auf dem Stra?enpflaster zusammengebrochen war. Die Frau stand einfach nur da und blickte auf die beiden hinab, wahrend ihr Gekreische nach und nach zu einem erstickten Schluchzen verebbte.

Als Sherlock um eine Ecke bog, sah er ein riesiges kuppelformiges Gebaude vor sich. So wie es inmitten eines ansonsten unbebauten und mit Buschen und Baumen bepflanzten freien Gelandes stand, wirkte es irgendwie ganz und gar fehl am Platz. Mehrere Stra?en – keine schmalen Wege diesmal, sondern richtige, breite Stra?en – fuhrten von dem Gebaude fort, das von einem unablassigen Wirrwarr aus Menschen und Pferden umschwarmt wurde. Weiter hinten konnte Sherlock eine Steinmauer erkennen und dahinter wiederum das graue, aufgewuhlte Wasser der Themse.

Sherlock rannte auf das Gewimmel zu. Wo Leute waren, war er wahrscheinlich auch in Sicherheit.

Obwohl er in vollem Lauf immer wieder gut gekleidete Herren und Damen umkurven und sich einmal sogar unter einer Kutschendeichsel hindurchducken musste, hielt er unbeirrt auf das Gebaude zu. Als er naherkam, sah er, dass die Fassade mit Statuen und Fliesenmosaiken verziert war. Dann nahm er eine riesige Offnung wahr, die sich dunkel und bedrohlich vor ihm auftat. Das musste der Eingang sein! Er anderte leicht die Richtung und steuerte direkt darauf zu. Laute Fluche und Schreie hinter ihm zeigten an, dass seine Verfolger noch nicht aufgegeben hatten.

Der Eingang fuhrte in eine runde Halle. Erleuchtet wurde der weite Raum von hellem Sonnenlicht, das durch unzahlige in der Kuppel eingelassene bunte Glasfenster fiel. Das Licht verlieh dem Ort eine zirkushafte, clowneske Atmosphare. In der Hallenmitte befand sich ein gro?es Loch im Boden, das von einer Galerie umgeben war. Dicht aneinandergereiht standen dort jede Menge Menschen, die auf irgendetwas hinabstarrten. Auf einer Seite schraubte sich am Rand des Loches eine breite Steintreppe in weiten Spiralen in die Tiefe der Erde hinab.

Sherlock sturzte darauf zu und schob sich, so schnell es ging, durch die dichte Menschenmenge. Als er den Anfang der Treppe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie zwei seiner Verfolger sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Einer von ihnen war ein glatzkopfiger Kerl mit deformierten Ohren und einer ebensolchen Nase, was den kleinen Bereich in Sherlocks Hirn, der sich gerade nicht verzweifelt mit potentiellen

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