brauchen. Und packe eine Tasche mit ausreichend Sachen fur zwei Tage. Ich werde drau?en in der Kutsche warten.« Er wandte sich MrsEglantine zu und zog mit extrem ubertriebener Geste seinen Hut. »Ma’am«, sagte er.
So schnell er konnte, schlang Sherlock sein Fruhstuck hinunter, allerdings ohne besonders viel davon zu schmecken. Er wurde nach London fahren! Und wenn er richtig Gluck hatte, wurde er wahrend seines Aufenthaltes vielleicht Mycroft treffen!
Amyus Crowe wartete in einer vierradrigen Kutsche vor dem Gebaude. Neben ihm sa? Virginia. Sie sah alles andere als glucklich aus. Entweder wegen des Ruschenkleides und der Haube, die sie trug, oder weil sie eingepfercht in der Kutsche sitzen musste, anstatt drau?en im Freien zu sein.
»Du siehst nett aus«, sagte Sherlock, als er ihr gegenuber Platz nahm und der Kutscher seine Tasche hinten bei dem anderen Gepack verstaute.
Sie starrte ihn finster an.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und die uber den Kies ratternden Rader ubertonten ihre Antwort. Aber Sherlock war sich sowieso nicht so sicher, ob er sie horen wollte.
Als sie zum Bahnhof von Farnham kamen, wartete Matty bereits auf sie. Amyus Crowe strahlte ihn an. »Dann hast du meine Nachricht also bekommen?«
»Bin von irgend so’m Kerl geweckt worden, der sie gebracht hat. Woher wussten Sie, wo mein Boot liegt?«
»Es ist mein Beruf zu wissen, wo sich alles befindet. Mein Beruf und auch mein Vergnugen. Hast du Lust auf eine Reise, Junge?«
»Hab keine Klamotten zum Wechseln, oder sonst was«, sagte Matty.
»Wir werden dir besorgen, was auch immer du brauchst, sobald wir in London sind. Jetzt lasst uns sehen, dass wir die Fahrkarten bekommen.«
Crowe kaufte vier Fahrkarten nach London fur die Zweite Klasse und anschlie?end begab sich die kleine Gruppe auf den Bahnsteig hinab, wahrend der Kutscher ihr Gepack ablud. Crowe hatte alles perfekt geplant. Innerhalb von zehn Minuten traf der Zug ein: ein gewaltiges Monster von einer Maschine! Aus der riesigen rohrenformigen Lok kam von irgendwoher unter lautem Zischen Dampf hervorgeschossen, die wuchtigen Kolben schwangen vor- und zuruck wie bei einer Aufziehfigur, und die metallenen Rader, die fast so gro? wie Sherlock waren, erzeugten auf den stahlernen Schienen ein ohrenbetaubendes Kreischen.
»Eine von Joseph Beattie konstruierte Lokomotive der Saxon-Klasse«, bemerkte Amyus Crowe. »Allgemein als ›2-4-0‹ bezeichnet. Kannst du mir sagen, warum, Sherlock?«
»Warum Saxon-Klasse oder warum 2-4-0?«
Crowe nickte. »Richtig, das Sammeln von korrekten Informationen hangt in erster Linie von einer korrekten Fragestellung ab«, raumte er ein. »Ich meinte die 2-4-0-Bezeichnung. Ich denke, das mit der Saxon-Klasse ist nur Ausdruck eines historischen Faibles, das der Ingenieur hat. Eine andere Maschine, die er entwickelte, hat er zum Beispiel ›Nelson‹ genannt.«
Sherlock lie? den Blick uber die Lokomotive gleiten. Ihm fiel auf, dass die Rader nicht in gleichma?igen Abstanden, sondern in Gruppen angebracht waren.
»Ich wurde sagen, das hangt damit zusammen, wie die Rader angeordnet sind«, probierte er sein Gluck. »Aber das kann eigentlich nicht sein.«
»Doch, so ist es tatsachlich«, erwiderte Crowe.
»Die zwei an der Frontachse gelagerten Vorderrader sind frei beweglich und lassen sich seitlich einschlagen, so dass die Lokomotive auch um Kurven fahren kann. Dann folgen vier weitere Rader auf zwei Achsen, die direkt mit der Dampfmaschine verbunden sind. Das sind die Antriebsrader.«
»Und die Null?«, fragte Sherlock.
»Einige Lokomotiven haben hinten noch ein zusatzliches Radpaar als Antrieb«, erwiderte Crowe. »Die Null zeigt an, dass diese Lok dieses dritte Paar nicht hat.«
»Also hat es eine Nummer verpasst bekommen, um anzuzeigen, dass es eigentlich keine Nummer braucht, weil etwas gar nicht da ist«, stellte Sherlock fest.
»Korrekt«, sagte Crowe lachelnd. »Es mag vielleicht nicht sinnvoll sein, aber es ist absolut logisch, wenn man einmal das System akzeptiert, fur das sie sich entschieden haben.«
Sie fanden ein Abteil fur sich allein und machten es sich fur die Reise bequem. Auf Sherlock, der noch nie zuvor mit der Eisenbahn gefahren war, sturzten jede Menge neue Eindrucke ein: das Vibrieren der Sitze, Wande und Fenster, als sie so dahinfuhren, der merkwurdig su?lich riechende Rauch, der zu ihnen hineinwehte, die Art, wie die Landschaft an ihnen vorbeiflog, standig sich verandernd und doch auf seltsame Weise immer gleichbleibend. Matty sa? mit weit aufgerissenen Augen nervos auf seinem Platz. Sherlock vermutete, dass sein Freund bisher in seinem Leben noch nicht einmal mit dem mageren Luxus eines Zweite-Klasse-Abteils Bekanntschaft gemacht hatte.
Walder flogen vorbei und machten weiten Feldern Platz. Bei den Pflanzen, die dort wuchsen, handelte es sich weder um Mais noch um Weizen oder Gerste. Es waren braune, spindeldurre Gewachse mit kleinen grunen Blattern, die sich um etwa zwei Meter hohe Holzstangen rankten, die im Boden steckten. Sherlock wollte Crowe gerade fragen, um was es sich dabei handelte, als Matty, der Sherlocks Interesse bemerkt hatte, sich vorbeugte und einen Blick nach drau?en warf.
»Hopfen«, sagte er lapidar. »Fur die Brauereien. Die Gegend ist bekannt fur das gute Bier, das hier gebraut wird. Allein in Farnham gibt es an die drei?ig Pubs und Tavernen.«
Und so ging die Reise – lediglich unterbrochen von einem einmaligen Umsteigen in Guildford – weiter, bis sie Waterloo Station erreichten, den gro?en Endbahnhof in der geschaftigen Weltmetropole London.
Der Stadt, in der Mycroft Holmes lebte und arbeitete.
12
Waterloo Station war eine wimmelnde Masse von Menschen, die unter einem riesigen Dach aus Stahl und Glas in alle Richtungen davoneilten und alle moglichen Arten von Schachteln, Paketen, Koffern und Gepackstucken mit sich schleppten. Die Warme der Sonne wurde durch das Glas noch verstarkt, wodurch es im Bahnhof warmer war als drau?en auf den umliegenden Stra?en. Zuge schleppten sich schnaufend zu den ihnen bestimmten Bahnsteigen und spien jede Menge Dampfwolken und weitere Menschenmengen aus, die sich augenblicklich dem hitzigen Treiben hinzugesellten. Sherlock spurte, wie sich unter seinem Halskragen Schwei? zu sammeln begann.
Amyus Crowe heuerte sogleich einen Gepacktrager an und wies ihn an, ihre Taschen aus dem Zug zu holen. Der Trager geleitete sie nach drau?en, wo eine Reihe von Droschken Reisende aufnahmen, die in einer langen Schlange warteten. Ein Halfpenny Extratrinkgeld bewegte den Trager dazu, sie an der Warteschlange vorbeizulotsen und dorthin zu fuhren, wo die gerade angekommenen Droschken ihre Fahrgaste herauslie?en, bevor sie sich in die Linie der wartenden Droschken einreihten. Ein kurzes Feilschen, und dann stiegen sie auch schon durch eine Tur in die Droschke, noch wahrend die vorherigen Fahrgaste diese auf der anderen Seite verlie?en.
Amyus Crowe, der sich in London auszukennen schien, wies den Kutscher an, sie zum Sarbonnier Hotel zu fahren. Die Droschke setzte sich in Bewegung, noch wahrend Sherlock und Matty sich jeweils auf ihrer Seite aus dem Fenster beugten, um die Sehenswurdigkeiten zu bewundern.
Die Gro?e der Gebaude war beeindruckend, verglichen mit denen in Farnham, Guildford oder anderen Stadten, die Sherlock vertraut waren. Einige von ihnen ragten funf oder sogar sechs Stockwerke in die Hohe. Andere hatten wuchtige Saulen vor den Fronteingangen, um riesige Vorhallen abzustutzen, und wiesen Reihen von Skulpturen an den Dachrandern auf. Soweit Sherlock es erkennen konnte, handelte es sich dabei in einigen Fallen um menschliche Figuren, in anderen um mythische Kreaturen mit Flugeln, Hornern und Rei?zahnen.
Nach kurzer Zeit fuhren sie uber eine Brucke, die sich uber einen breiten Fluss spannte.
»Die Themse?«, fragte Sherlock.
»So ist es«, bestatigte Crowe. »Einer der dreckigsten, verkehrsreichsten und ubelsten Flusse, die ich jemals das unangenehme Vergnugen gehabt habe kennenzulernen.«
Nachdem die Droschke auf der anderen Flussseite von der Brucke heruntergerattert und dann ein paarmal abgebogen war, hielt sie schlie?lich vor einem langgezogenen Gebaude aus orangefarbenem Stein. Der Kutscher