»Wie denn?«, rief Matty eingeschnappt. »Ich hab hinten am Karren gehangen! Hatte die wohl kaum noch tragen konnen, oder?«
»Gutes Argument!« Sherlock blickte sich um, wahrend sie weiterrannten. Sie befanden sich auf der Ruckseite des Hauses. Statt eines Gartens erstreckte sich hinter einer ausladenden, mit Steinen gepflasterten Veranda und einer kleinen Steinmauer das Feld mit den Bienenstocken, das er bereits zuvor gesehen hatte. »Also, wie sollen wir hier rauskommen?«
»Hab ’nen Stall gefunden, Mann«, sagte Matty, der offensichtlich immer noch sauer war. »Da gibt’s Pferde.«
»Ich kann nicht reiten!«
Hinter ihnen tauchten drei schwarz gekleidete Manner mit schwarzen Gesichtsmasken an einer Front offener Glasturen auf, die vermutlich in den Salon fuhrten. Die Gruppe zerstreute sich in verschiedene Richtungen. Doch dann sah einer von ihnen Sherlock und Matty, und stie? einen Schrei aus.
Matty blickte Sherlock finster an. »Na ja, viel Zeit das zu lernen, wirste nicht mehr haben«, sagte er.
Nachdem Matty Sherlock hastig um die Hausecke herumgefuhrt hatte, konnten sie vor sich eine gro?e Scheune erkennen. Die beiden rannten uber die offene Flache auf das Gebaude zu. Hinter sich horten sie die raschen Schritte ihrer Verfolger auf dem Steinboden drohnen. Dann hatten sie auch schon die Scheune erreicht und sprinteten durch die offenen Turen hinein.
In der Scheune war es ziemlich duster, und Sherlock brauchte etwas, bis sich seine Augen an das dammrige Licht gewohnt hatten. Matty, der schon vorher dort gewesen war, steuerte sofort auf zwei Pferde zu, die man drau?en vor ihrer Box an Holzpfosten festgebunden hatte. Beide waren bereits fertig gesattelt.
»Los, rauf da«, sagte Matty. »Nimm die Bretterwand der Stallbox als Tritthilfe.«
Die polternden Schritte ihrer Verfolger kamen naher. Matty packte den Sattel des kleineren Pferdes, setzte seinen Fu? in einen Steigbugel und schwang sich hinauf. Sherlock quetschte auf halber Hohe der Boxenwand den rechten Fu? in eine Bretterspalte, stemmte sich an der Wand empor, schlupfte mit dem linken Fu? in den Steigbugel und versuchte anschlie?end, Mattys flussige Bewegung auf seinem eigenen Pferd, einer gro?en Fuchsstute, nachzuahmen.
Am Ende landete er mehr durch Gluck als durch Konnen im Sattel. Doch das Pferd blickte sich nur gelassen nach ihm um und blieb ansonsten ruhig. Offensichtlich schien es vollig unbeeindruckt von der Tatsache zu sein, dass ihm ein Fremder plotzlich auf den Rucken gesprungen war.
»Los jetzt!«, schrie Matty. Er hatte die Zugel in eine Hand genommen, wahrend er mit der anderen das Pferd losband. Sherlock griff die Zugel seines Pferdes und versuchte, sich daran zu erinnern, was Virginia ihm daruber erzahlt hatte, wie man ein Pferd ritt.
Ohne sich umzublicken, trieb Matty sein Pferd zur Scheunentur hinaus. Anscheinend ging er einfach davon aus, dass Sherlock ihm schon folgen wurde. Sherlock nestelte das Seil los, mit dem sein eigenes Pferd festgebunden war. Eine Welle der Panik uberkam ihn plotzlich, als ihm unversehens bewusst wurde, dass Virginia ihm zwar erklart hatte, wie man ein Pferd lenkte und stoppte, aber nicht, wie man es in Gang setzte. Zaghaft presste er beide Knie in die Flanken des Tieres. Gehorsam setzte sich das Pferd in Bewegung. Sherlock beugte sich leicht im Sattel vor, um die schaukelnde Bewegung auszugleichen. Er druckte fester mit den Knien zu und schlenkerte versuchsweise mit den Zugeln. Das Pferd fing an zu traben und ging gleich darauf in leichten Galopp uber. Warum taten die Leute nur immer so, als ob Reiten so schwer ware? Es war doch nur eine Sache von Signalen und bestimmten Bewegungen!
Als sie hinausgaloppierten, sturzte die Szenerie vor der Scheune in einem Wirbel aus Farben und Ereignissen auf Sherlock ein. Matty preschte mit einer Gruppe maskierter Diener auf den Fersen davon, die allerdings zu Fu? waren und rasch zuruckfielen.
Zwei maskierte Manner tauchten vor Sherlock auf und blockierten ihm den Weg. Einer von ihnen fuchtelte mit einem Revolver herum und feuerte auf Sherlock, der spurte, wie etwas Hei?es an seinem Haar vorbeipfiff. Er trieb sein Pferd zu schnellerem Galopp an. Das Tier schoss genau zwischen den beiden Mannern hindurch und schleuderte sie dabei zu Boden. Mit den Knien brachte Sherlock das Pferd nun in den gestreckten Galopp, und es war, als wurden sie uber den Boden dahinfliegen. Rasch hatten sie Matty eingeholt.
Wenige Augenblicke spater hatten sie die Grenzmauer des Anwesens erreicht, die gut und gerne an die drei Meter hoch war. In weitem Bogen lenkten die beiden Jungen ihre Tiere auf das Haupttor zu. Die uber den Boden donnernden Pferdehufe anderten ihren Klang, als sie plotzlich nicht mehr auf weicher Erde, sondern dem steinigen Untergrund des Zufahrtsweges galoppierten. Sherlock rutschte das Herz in die Hose, als er sah, wie die beiden Torflugel zugeschoben wurden. Davor hatten sich zwei maskierte Diener mit Schrotflinten postiert, die offensichtlich auf die Pferde zielten. Im gleichen Augenblick zogen Sherlock und Matty an den Zugeln. Kieselsteine spritzten auf und schlitternd kamen die Tiere zum Stehen.
Einer der Manner feuerte seine Flinte ab. Ein Knall hallte uber dem Gelande wider, und gleich darauf meinte Sherlock, fur den Bruchteil einer Sekunde einen Schwarm wutender Mucken an sich vorbeischwirren zu sehen, als eine Wolke Schrotkugelchen ihn knapp verfehlte.
Mit energischem Druck des linken Knies und unter instinktiver Zuhilfenahme des Zugels riss er sein Pferd herum. Matty machte es ihm nach, und gleich darauf rasten sie auch schon wieder in vollem Galopp uber das Anwesen. Diesmal allerdings direkt auf das Haus zu, das sich dunkel und unheilverkundend vor ihnen erhob.
Ein fluchtiger Blick nach rechts und links zeigte Sherlock, dass hinter den beiden Gebaudeecken weitere Maskierte hervorkamen, bewaffnet mit diversen Revolvern, Schrotbuchsen, Vogelflinten und Mistgabeln.
Somit blieb nur noch eine Richtung. Und zwar direkt geradeaus auf den Haupteingang des Hauses zu.
Matty verlangsamte sein Pferd und blickte sich unsicher um.
Sherlock galoppierte an seinem Freund vorbei und schrie: »Mir nach!«
Sie konnten weder zuruck noch nach links oder rechts. Fast glaubte er in diesem Moment Mycrofts Stimme zu sich sprechen zu horen:
Als wurde das Pferd seine Absicht ahnen, sprang es die wenigen Stufen zur Saulenvorhalle empor und eilte zielsicher auf die weit geoffneten Frontturen zu. Sherlock duckte sich und spurte, wie der Turrahmen sein Haar streifte, als das Pferd durch die Tur in die Eingangshalle hineingaloppierte. Mit lautem Klappern schlitterten die Hufe uber den gefliesten Boden und beinahe ware Sherlock aus dem Sattel geschleudert worden, bevor sein Pferd wieder Halt fand. Die Dunkelheit in der Halle verwirrte ihn einen Moment lang. Aber innerhalb von Sekunden hatten sich seine Augen daran gewohnt, und er trieb sein Pferd geradeaus an der Marmortreppe vorbei auf die Ruckseite des Hauses zu. Maskierte Diener sturzten aus Tureingangen hervor, nur um sich aus Panik vor den beiden Pferden, die fast den ganzen vorhandenen Platz ausfullten, gleich wieder zuruckzuziehen. Anstatt die der Dienerschaft vorbehaltenen Bereiche anzusteuern, lenkte er sein Pferd scharf nach rechts. Sie stie?en eine Tur auf und kamen in einen Raum, bei dem es sich – in Anbetracht von dessen Lage und bei vergleichender Betrachtung mit Holmes Manor – vermutlich um einen Salon handelte. Er hatte recht!
Der Raum vor ihm war geraumig und hell und hatte eine gro?e glaserne Doppelflugeltur, die auf die Veranda hinausfuhrte. Und diese Tur – wie sich Sherlock von ihrer Flucht vorhin aus dem Haus noch erinnerte – stand tatsachlich weit offen!
Innerhalb von Sekunden galoppierte er durch den Salon auf die Veranda hinaus. Hinter ihm ertonte ein Mordsradau, als Mattys Pferd einige Mobelstucke zur Seite fegte und dann mit klappernden Hufen auf die mit Steinplatten ausgelegte Veranda galoppiert kam.
Vor sich, noch hinter dem Feld mit den Bienenstocken, erblickte Sherlock ein kleineres Nebentor, durch das normalerweise wahrscheinlich Lebensmittel und andere Versorgungsguter angeliefert wurden. Wie es aussah, war es unbewacht. In vollem Galopp ritt er darauf zu. Die Mahne seines Pferdes wehte ihm ins Gesicht, und der Wind rauschte in seinen Ohren. Wenige Augenblicke spater preschte sein Pferd auch schon in eine der Zwischenreihen des geometrischen Musters, das die kastenformigen Umrisse der Bienenstocke bildeten. In vollem Tempo galoppierten sie in gerader Linie mitten durch das Bienenstockfeld hindurch. Wolken von Bienen stiegen hinter ihnen aus ihren Behausungen auf, aber die Pferde waren zu schnell fur sie, und sie schwirrten nur verwirrt und ziellos umher.
Das Nebentor war verschlossen. Aber Sherlock brauchte nur einen Moment, um abzusteigen und den Riegel zuruckzuschieben. Dann drehte er sich um und blickte uber das Gelande zum Haus zuruck, wahrend Matty auch schon neben ihm Halt machte. Maskierte und bewaffnete Manner drangten sich auf der anderen Seite des