treiben.
Vorsichtig setzte er sich auf. Weder Kopf noch Magen reagierten sehr dankbar auf die Bewegung.
Die Wande des Raumes, in dem er sich befand, waren mit Holz getafelt. Er selbst lag in einem Himmelbett, uber dem sich ein mit kunstvollem Stickwerk verzierter Baldachin wolbte. Weder das Bett noch sonst etwas an der Einrichtung kam ihm von Holmes Manor her bekannt vor. Er sah an sich hinab. Er war immer noch angekleidet, auch wenn man ihm die Jacke ausgezogen hatte. Er blickte sich um und sah sie schlie?lich an einem Kleiderhaken hangen, der an der Innenseite der Tur angebracht war.
Er warf die Decke zuruck, unter der er gelegen hatte, und druckte sich langsam in die Hohe. Einige Augenblicke lang schien die ganze Welt wie Wasser hin- und herzuschwappen, das in einem gerade abgestellten Eimer allmahlich zur Ruhe kam. Man hatte ihm die Schuhe ausgezogen. Aber wie er feststellte, waren sie nebeneinander ans Fu?ende des Bettes gestellt worden. Er wankte ans Bettende und gab sein Bestes, um in die Schuhe zu schlupfen, ohne sich nach vorne zu beugen. Denn das, sagte ihm ein untrugliches Gefuhl, ware eine au?erst schlechte Idee.
Er ging zum Fenster hinuber und zog den Vorhang zuruck. Aber der Ausblick, der sich seinen Augen bot, hatte keinerlei Ahnlichkeit mit der Landschaft, die Holmes Manor umgab.
Das Land dort drau?en war flach und ode, und auf der rotlich braunen, trockenen Erde wuchsen weder Gras noch sonstige Pflanzen. Stattdessen war das Grundstuck, so weit das Auge reichte, mit Holzkisten ubersat, die jeweils auf einer Bodenplatte mit vier massiven Beinen standen. Sie sahen ein wenig wie Huhnerstalle aus, waren aber viel kleiner. Jede Kiste wies unten – kurz oberhalb der Stelle, wo sie auf der Bodenplatte ruhte – ein kleines Loch auf.
Die Kisten waren in einem regelma?igen Muster aufgestellt. Eine rasche Multiplikation im Kopf verriet Sherlock, dass er auf etwa funfhundert Kisten starrte.
Rauchschwaden schienen sich uber einigen Kisten zu krauseln. Allerdings musste der Wind hier auf ziemlich merkwurdige Weise verwirbelt werden, denn die Rauchwolken uber den einzelnen Kisten wehten in ganz unterschiedliche Richtungen davon. Einige schwebten nach oben, einige nach links oder rechts, wahrend andere einfach nur vor den Offnungen in den Kisten umherzuschweben schienen, als wurden sie versuchen heraus- oder hereinzukommen.
Hinter einer der Kisten kam eine Gestalt hervor. Sie war in einen locker sitzenden Overall gekleidet, der aus Leinen zu bestehen schien. Der Kopf war vollstandig von einer Maske aus Musselinstoff bedeckt, der durch holzerne Streben vom Gesicht abgehalten wurde und so dunn war, dass der Trager hindurchsehen konnte. Die Gestalt ging zu einer anderen Kiste und hob vorsichtig den Deckel an. Noch mehr Rauch quoll nach drau?en und umhullte den Kopf der Gestalt, was ihr jedoch nichts auszumachen schien. Vielmehr beugte sie sich noch naher heran, um nach einem Blick in die Kiste den Deckel schlie?lich wieder zu schlie?en. Daraufhin zog sie aus dem Boden der Konstruktion etwas heraus, das wie ein holzernes Tablett aussah. Die Gestalt musterte das Tablett ein paar Sekunden lang. Dann machte sie ein paar Schritte und legte es auf einen Stapel gleichartiger Tabletts ab.
Plotzlich war Sherlocks Hirn wieder hellwach, und schlagartig wurde ihm klar, was er da gerade beobachtete. Die Wolke, die er von der Mannerleiche im Wald nahe Holmes Manor hatte aufsteigen sehen; der Rauch, den Matty beobachtet hatte; die Pollen, die er zu Professor Winchcombe gebracht hatte: Endlich ergab das alles einen Sinn.
Sie hatten es nicht mit Rauch, sondern mit Bienen zu tun. Kleine schwarze Bienen. Und das bedeutete, dass es sich bei den Kisten um Bienenstocke handelte, und der Mann in der Maske ein Imker war.
Aber was waren das fur Bienen und wozu brauchte man sie? Um Honig zu produzieren? Zur Verteidigung? Oder fur etwas anderes? Aber noch wichtiger: Wo zum Teufel war er eigentlich?
Hinter ihm ging die Tur des Zimmers auf. Rasch drehte er sich um. Zwei Manner standen im Turrahmen. Ihre schwarze Samtkleidung aus kurzem Uberrock, Weste, Kniehose und Beinlingen war makellos rein, aber von altmodischem Schnitt. Die Gesichter steckten hinter schwarzen Samtmasken mit Sehschlitzen.
Einer der Manner wies uber die Schulter nach hinten. Die Bedeutung war klar: Sherlock sollte mit ihnen kommen. Einen kurzen Moment lang spielte er mit dem Gedanken zu rebellieren. Schlie?lich war er noch nie besonders gut darin gewesen, Befehlen zu gehorchen, die ohne Erklarungen erteilt wurden. Aber nachdem er eine Sekunde daruber nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass sie ihn einfach packen und mit sich fortschleppen wurden, wenn er ihren Anordnungen nicht Folge leistete. Und irgendwie hatte er das Gefuhl, dass sie dabei auch nicht gerade zimperlich vorgehen wurden.
Au?erdem, so wurde ihm bewusst, war das wohl die einzige Moglichkeit herauszufinden, was da vor sich ging.
Obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte, gelang es Sherlock, eine ruhige, ja sogar gelangweilte Miene an den Tag zu legen, als er auf die Tur zuging. Die beiden Diener traten zuruck, um ihn durchzulassen.
Die Tur fuhrte auf einen weiten, opulent geschmuckten Korridor hinaus, der in satten Rot- und Violetttonen gehalten war. In die Tapete war ein markantes Wappen eingewebt, das als Stickmotiv auch auf den Samtvorhangen zu sehen war.
Einer der Diener geleitete Sherlock eine breite Treppe hinab, wahrend der andere ihm auf den Fersen folgte. Bis auf Sherlocks Schritte, die von den wei?en Marmorstufen widerhallten, war kein Laut zu horen. Denn die Schuhe der Diener waren umwickelt und erzeugten kaum mehr als den Hauch eines Scharrens.
Am Fu? der Treppe angekommen, fuhrte der erste Diener Sherlock auf eine geschlossene Tur zu, die sich neben einem wuchtigen Teakholzschrank befand. Er zog die Tur auf und bedeutete Sherlock mit einer Geste hindurchzugehen.
Mit einem dumpfem, endgultig klingendem Ton schloss sich die Tur hinter ihm.
Der Raum, in dem er nun stand, war gro?, kalt und lag fast vollstandig im Dunkeln. Samtliche Fenster waren mit dicken Vorhangen bedeckt. Lediglich ein paar wenige, diagonal verlaufende Lichtstrahlen durchdrangen die Finsternis, und in ihrem sparlichen Licht konnte Sherlock unmittelbar vor sich gerade eben noch die vorderen Konturen eines riesigen Holztisches erkennen, vor dem ein massiver Stuhl stand. Alles andere war im Dunkeln verborgen, mit Ausnahme einiger glitzernder Flecken, bei denen es sich um metallene Gegenstande handeln mochte, die an den Steinwanden hingen.
Es schien offensichtlich, was man von ihm erwartete. Er spurte, wie ihm vor Nervositat und Anspannung Schwei?perlen den Nacken hinabrannen, als er auf den Stuhl zuging und sich setzte.
Eine ganze Weile herrschte absolute Stille. Nur das rasche Schlagen seines Herzens drohnte in seinen Ohren. Er strengte die Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen. Aber au?er der Tischflache unmittelbar vor ihm war nichts zu erkennen.
Doch dann, ganz allmahlich, begann er ein feines Gerausch wahrzunehmen: ein rhythmisches Knarren und Knarzen, ahnlich wie es die Takellage eines Schiffes erzeugt, das von den Wellen irgendeines imaginaren Ozeans hin- und hergeworfen wird. Das Gerausch schien an- und abzuschwellen. Fast so, als wurde eine schwache Brise in regelma?igen Abstanden in ein Leinensegel fahren und an nassem Tauwerk zerren, um es dann sogleich wieder fahren zu lassen. Er kam einfach nicht darauf, um was es sich dabei handelte. Er konnte doch unmoglich auf einem Schiff sein? Der Blick vorhin aus dem Zimmerfenster hatte ihm gezeigt, dass er sich an Land befand, und der Boden unter ihm hob und senkte sich nicht. Was also war das fur ein Gerausch?
»Du warst im Lagerhaus.« Die Mannerstimme, die aus der Dunkelheit von der anderen Tischseite her zu ihm drang, war kaum mehr als ein Flustern. Sherlock meinte, die Spur eines Akzentes herausgehort zu haben – der Buchstabe »H« im Wort »Lagerhaus« horte sich irgendwie fast verschluckt an –, doch er kam einfach nicht darauf, aus welchem Land der Sprecher stammen konnte. »
»Wer sind Sie?«, fragte Sherlock entschieden, wobei er eine gro?spurige Entschlossenheit in seine Stimme legte, die er eigentlich uberhaupt nicht empfand.
»
»Mein Onkel wird sich Sorgen um mich machen«, polterte Sherlock. »Sie werden Suchmannschaften ausschicken.« Er wusste nicht, ob das stimmte, aber es kam ihm schlau vor, das zu sagen. Vielleicht wurde er seinen mysteriosen Befrager damit aus dem Konzept bringen.
»Ich werde dich nur noch einmal fragen. Und dann wirst du die Konsequenzen tragen mussen. Also,
»Ich wei? nicht, wovon Sie reden.«