an den Zugeln sein Pferd zum Stehen.
Weit und breit war niemand zu sehen.
»Ist das das Haus?«, rief Crowe.
Sherlock nickte.
»Hier sind frische Radfurchen. Sie kommen aus dem Tor und fuhren dann weiter auf die Stra?e«, fuhr Crowe fort. »Sieht mir ganz so aus, als hatten sie sich verkrumelt.«
Sherlock blickte verwirrt drein und Virginia lachelte. »Abgehauen«, erklarte sie. »Geflohen.«
»Oh, ach so.« Er pragte sich das fur die Zukunft ein.
»Lasst uns der Stra?e folgen und sehen, was wir finden«, rief Crowe und trieb sein Pferd an. Virginia blieb dicht hinter ihm. Sherlock und Matty blickten sich kurz an und folgten dann.
Etwa funf Minuten spater gelangten sie zu einer Taverne – einem Gebaude aus roten, im typischen Diagonalstil der Region angebrachten Backsteinen, der Sherlock schon zuvor aufgefallen war, und wei? verputzten Flachen, die von schwarzen Holztragern durchbrochen waren. Auf dem Rasen vor der Wirtschaft waren lange Tische und Banke aufgestellt worden. Rauch quoll aus dem Schornstein. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg Sherlock in die Nase und augenblicklich verspurte er Hunger.
Crowe hielt an und stieg vom Pferd. »Wir nehmen ein spates Mittagessen zu uns«, rief er. »Matty, Ginny, ihr beide bleibt drau?en und passt auf die Pferde auf. Sherlock, du kommst mit mir.«
Sherlock folgte dem gro?en Amerikaner in die Taverne. Die niedrige Decke lag fast ganz in dickem, fettigem Rauch verborgen, der von einem Lamm aufstieg, das an einem Spie? uber dem Kaminfeuer brutzelte. Frisches Sagemehl bedeckte den Boden. Vier Manner, die zusammen an einem Tisch sa?en, beaugten die Neuankommlinge argwohnisch. Ein funfter Mann sa? auf einem Hocker am Tresen und befasste sich intensiv damit, in seinen Trinkkrug zu starren, anstatt ihnen Beachtung zu schenken. Der Gastwirt, der hinter dem Tresen stand und mit einem Tuch einen Krug polierte, nickte Amyus Crowe zu.
»Tag, die Herren. Soll’s was zu trinken, zu essen oder beides sein?«
»Vier Teller mit Brot und Fleisch«, antwortete Crowe, und Sherlock war verblufft, ihn ohne den ublichen amerikanischen Akzent reden zu horen. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, horte sich seine Stimme an, als ware er ein Farmer oder Arbeiter, der irgendwo aus der Nahe von London kam. »Und vier Kruge Bier.«
Der Gastwirt zapfte vier Kruge Bier und stellte sie auf ein Zinntablett. Crowe nahm eins fur sich und nickte Sherlock zu. »Bring die nach drau?en, Junge«, befahl er ihm mit seiner barschen »englischen« Stimme. Sherlock nahm das Tablett auf und trug es vorsichtig zur Tur. Crowe machte es sich auf einem Hocker am Tresen bequem, wie Sherlock aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Als er nach drau?en kam, stellte er fest, dass Matty einen Tisch und zwei Banke in unmittelbarer Nahe der Taverne in Beschlag genommen hatte, wahrend Virginia noch bei ihrem Pferd war. Er gesellte sich zu Matty und setzte sich so, dass er durch eines der Fenster in die Wirtsstube sehen konnte. Matty nahm einen der Kruge, packte ihn mit beiden Handen und fing gierig an zu trinken.
Sherlock nippte vorsichtig an der dunkelbraunen Flussigkeit. Sie schmeckte bitter und schal und hinterlie? einen unangenehmen Nachgeschmack im Mund.
»Hopfen ist nicht essbar, oder?«, sagte er zu Matty.
Der Junge zuckte die Achseln. »Die kannste schon essen, denk ich mal, aber das tut niemand. Schmecken nicht gerade gut.«
»Warum denkt dann um Himmels willen jeder, dass sich daraus ein Getrank machen lasst?«
»Keine Ahnung.«
Sherlock blickte durch das Fenster in die Taverne und konnte sehen, wie Amyus Crowe mit dem Wirt plauderte. Der Neigung seines Kopfes nach zu schlie?en, schien Crowe eine Reihe von Fragen zu stellen, auf die der Wirt bereitwillig antwortete, wahrend er weiterhin Trinkkruge mit einem stetig schmutziger werdenden Lappen polierte.
Aus der Taverne tauchte ein Madchen mit Schurze auf, das ein Tablett mit vier Tellern voll dampfendem Fleisch trug. Sie kam zu ihnen heruber, platzierte wortlos die Teller samt Besteck auf dem Tisch und verschwand wieder.
Virginia kam zu ihnen herubergeschlendert, und Sherlock ruckte ein wenig beiseite, um ihr Platz zu machen. Sie stocherte mit der Gabel in dem hei?en Lammfleisch herum, spie?te ein paar Fleischstuckchen auf und fuhrte die Gabel an den Mund. Doch plotzlich hielt sie inne. »Dir ist schon klar, dass ich diesen Brief nicht geschrieben habe, oder?«
»Jetzt wei? ich das.« Unfahig, ihr direkt in die Augen zu sehen, wandte Sherlock den Kopf zur Seite und blickte uber die Felder. »Aber in dem Moment dachte ich, dass es deiner war. Vermutlich weil ich wollte, dass er es war. Hatte ich daruber nachgedacht, hatte mir klarwerden mussen, dass er nicht von dir stammen konnte.«
»Warum nicht?«
Er zuckte die Achseln. »Das Papier war fein und feminin, die Handschrift sehr akkurat. Es war, als ob jemand vorzutauschen versuchte, ein Madchen zu sein«, sagte er und ertappte sich prompt bei seinem Fauxpas. »Ich meine eine Frau. Eine junge Frau. Ich meine …«
»Ich wei?, was du meinst.« Sie lachelte leicht. »Und warum glaubst du, dass ich normalerweise kein feminines Schreibpapier benutze und uber keine akkurate Handschrift verfuge?«
Dieses Mal brachte er es fertig, sie anzusehen, und einen langen Augenblick lang ruhten ihre Blicke aufeinander.
»Ich bin noch keinem englischen Madchen begegnet, das so ist wie du«, sagte er schlie?lich. »Du bist einzigartig. Ich versuche immer noch, aus dir schlau zu werden. Aber ich glaube, wenn du wollen wurdest, dass ich irgendwohin komme – zum Beispiel zum Jahrmarkt – wurdest du einfach aufkreuzen und mich fragen.« Er hielt einen Moment inne und uberlegte. »Oder wahrscheinlicher noch, es mir einfach sagen«, fugte er hinzu.
Dieses Mal war sie an der Reihe, rot zu werden. »Du denkst, ich bin zu herrisch?«
»Nicht
Mattys Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »Woruber sprecht ihr beide da uberhaupt?«
»Ach, nichts«, antworteten Sherlock und Virginia im Chor.
Sherlock sah wieder durch das Fenster und stellte fest, dass Crowe sich zu den vier Mannern gesellt hatte, die zusammen am Tisch sa?en. Sie schienen alle gut miteinander zurechtzukommen. Crowe machte eine Geste in Richtung des Wirts, der sich daraufhin anschickte, weitere Kruge mit Bier zu fullen.
»Dein Vater ist ein interessanter Mann«, sagte Sherlock und wandte sich wieder Virginia zu.
»Er hat so seine guten Momente.«
»Was hat er eigentlich druben in Amerika gemacht?«
Sie hielt ihren Blick auf den Teller gesenkt. »Willst du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Er war ein Fahrtensucher.«
»Du meinst, er hat Tiere gejagt?«
Sie schuttelte den Kopf. »Nein, Menschen. Er hat Killer verfolgt, die der Justiz entkommen sind. Und Indianer, die einsame Siedlungen uberfallen haben. Er hat sie tage- und wochenlang durch die Wildnis verfolgt, bis er nah genug war, um sie zu uberrumpeln.«
Sherlock konnte einfach nicht glauben, was er da gerade gehort hatte. »Und was hat er … Ich meine, hat er sie dann der Justiz ubergeben?«
»Nein«, erwiderte sie leise. Abrupt stand sie auf und ging wieder zuruck zu den Pferden.
Sherlock und Matty sa?en schweigend eine Weile da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschaftigt.
Schlie?lich kam Amyus Crowe aus der Taverne heraus. Er zwangte seinen gro?en Korper zwischen Bank und Tisch und setzte sich zu ihnen.
»Interessant«, sagte er, wieder ganz in sein »amerikanisches« Selbst zuruckverwandelt.
»Was gibt’s Neues?«, fragte Sherlock. »Wissen die da drinnen etwas uber die Villa?«
»Und wie haben Se die dazu gebracht, Ihre Fragen zu beantworten?«, fugte Matty hinzu. »Sie sind fremd hier und normalerweise sind die Leute Fremden gegenuber ziemlich verschlossen.«
»Dann ist es doch das Beste, einfach kein Fremder zu sein«, erwiderte Crowe. »Wenn du eine Weile blo? so dasitzt und dich mit dem Wirt unterhaltst, wirst du sozusagen Teil der Einrichtung. Dann schaltest du dich in die Konversation ein, wenn sich eine gunstige Gelegenheit bietet, und erzahlst den Leuten was von dir: wer du bist, warum du da bist und so weiter. Hab ihnen erzahlt, dass ich mich nach ’ner Farm umsehe, um Schweine zu zuchten,