sprang vom Bock herunter und half ihnen, das Gepack abzuladen. Aus einer Drehtur an der Frontseite des Gebaudes tauchten drei Portiers auf, die ihnen die Taschen abnahmen.
Sie betraten die Hotellobby, die mit ihren wei?en, an der Basis mit Skulpturen verzierten Saulen, dem prachtvollen Deckenmosaik und dem rosafarbenen Marmorfu?boden einfach atemberaubend aussah. Amyus Crowe jedoch steuerte unbeeindruckt auf einen langen holzernen Empfangstresen zu.
»Drei Zimmer fur zwei Nachte«, sagte er zu dem uniformierten Mann hinter dem Tresen.
Der Mann nickte. »Naturlich, Sir«, antwortete er und drehte sich um, um drei Schlussel von einem Brett an der Wand hinter sich zu nehmen. Als er sich wieder zu Crowe umwandte, fugte er noch hinzu: »Wenn Sie sich vielleicht die Muhe machen wurden, hier im Gastebuch zu unterschreiben, Sir.«
Crowe unterschrieb mit schwungvoller Geste und der Portier handigte ihm die Schlussel aus. Diese waren an gro?en Kugeln befestigt, wahrscheinlich – so vermutete Sherlock – damit man sie nicht so leicht verlieren konnte.
»Sherlock und Matthew, ihr teilt euch ein Zimmer«, verkundete Crowe und gab ihnen einen Schlussel. »Ginny bekommt ein Zimmer fur sich, und ich nehme das dritte. Eure Taschen werden auf eure Zimmer gebracht. Matthew, ich schlage vor, dass du und ich uns irgendwohin begeben, wo wir dir was zum Anziehen und ein paar Toilettensachen besorgen konnen.« Kritisch musterte er Matty. »Und einen Haarschnitt«, fugte er hinzu. »Sherlock, Virginia, wie war’s, wenn ihr solange einen Spaziergang macht? Geht nach rechts und dann weiter bis ans Ende der Stra?e, und ihr werdet etwas finden, das euch interessieren konnte. Wir werden in einer Stunde zum Mittagessen wieder zuruck sein. Wenn ihr euch verlauft, fragt jemanden, wie ihr zum Sarbonnier Hotel zuruckkommt.«
Dem Rat Crowes folgend, fuhrte Sherlock Virginia nach drau?en und wandte sich dann nach rechts. Augenblicklich wurden sie von einem dichten Menschenstrom erfasst, der sie in die gewunschte Richtung mit sich fortzog.
Aus Sorge, dass sie getrennt werden konnten, streckte Sherlock seine Hand aus, um Virginia naher an sich heranzuwinken. Doch stattdessen schloss sich ihre Hand um die seine. Ganz warm und weich fuhlte sie sich an, und plotzlich kam es Sherlock vor, als wurde sein Herz doppelt so schnell schlagen. Erschrocken warf er ihr einen Blick zu, und Virginia bedachte ihn mit einem fur sie untypischen schuchternen Lacheln.
Sie brauchten nur ein paar Minuten, bis sie das Ende des Hauserblocks erreicht hatten. Die Stra?e mundete plotzlich auf einen weiten offenen Platz, dessen Mitte von einer gro?en Saule beherrscht wurde, die sich aus einem kantigen Sockel erhob.
Einen Moment lang dachte Sherlock, dass dort oben auf der Spitze der Saule ein Mann stehen wurde, und unwillkurlich hupften seine Gedanken wieder zuruck nach Holmes Manor zu seinem Onkel. Der hatte namlich eines Abends beim Essen etwas uber tiefreligiose, asketisch lebende Eremiten erzahlt, die ihr Leben und ihre Familien aufgaben, um auf der Spitze von Pfahlen zu leben, wo sie uber die Natur Gottes meditierten und nur das a?en, was ihnen von vorbeikommenden Leuten hochgeworfen wurde. Als er genauer hinsah, wurde ihm jedoch sofort klar, dass es sich bei der Gestalt auf der Saule nicht um einen Menschen, sondern um eine Statue handelte. Der Kunstler hatte sie bei der Bearbeitung des Steines so gestaltet, dass es aussah, als wurde sie eine Marineuniform tragen.
»Wer ist das?«, fragte Virginia gebannt.
»Admiral Nelson, glaube ich«, erwiderte Sherlock. »Womit dies hier der Trafalgar Square sein durfte. Er wurde so genannt in Erinnerung an die beruhmte Seeschlacht, die Nelson 1805 gewonnen hat.«
Zwei Wasserfontanen am Fu? der Saule zauberten einen feinen Spruhnebel in die Luft, der im hellen Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben funkelte. Hier war das Herz Londons, der Mittelpunkt eines Empires, das sich bis auf die andere Seite des Globus erstreckte.
Und irgendwo hier in der Nahe sa? sein Bruder Mycroft vermutlich gerade an seinem Schreibtisch und trug dazu bei, es zu lenken.
Sie spazierten eine Weile auf dem Trafalgar Square umher, beobachteten die Leute und bestaunten die schonen Gebaude, die die umliegenden Stra?en saumten. Dann machten sie sich wieder auf den Weg zuruck ins Hotel. Sie trafen gerade rechtzeitig ein: Amyus Crowe stand im Foyer und erwartete sie. In seiner Begleitung befand sich ein Junge, der ungefahr in Matthews Alter war und dessen gepflegte Haare und feine Kleidung in merkwurdigem Gegensatz zu seinem murrischen Gesichtsausdruck standen.
Sherlock brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es tatsachlich Matty war.
»Kein Wort«, warnte Matty sie. »Sagt einfach … nichts.«
Sherlock und Virginia lachten.
Gemeinsam gingen sie in den Speisesaal, um zu Mittag zu essen. Sie waren umgeben von Frauen in turkisblauen Seidenkleidern und Reifrocken, die selbst im Saal ihre Hute und Handschuhe nicht ablegten, sowie von Mannern mit glanzenden Schnurrbarten im Gehrock. Aber abgesehen von einem fluchtigen ersten Blick schenkte ihnen niemand besondere Beachtung. Offensichtlich wurden sie fur eine Familie gehalten, die nach London gekommen war, um die Sehenswurdigkeiten zu bestaunen, die die Hauptstadt des wichtigsten Staates der Erde ihren Besuchern bot.
Sherlock hatte Lammkoteletts, die innen noch blutig und somit perfekt zubereitet waren, und mit Kartoffeln und Bohnen serviert wurden. Matty und Amyus Crowe entschieden sich beide fur eine Rindfleisch-Nieren-Pastete, wahrend sich die etwas abenteuerlustigere Virginia auf Huhnchen einlie?, das mit einer mit Pfefferkornern und Sahne verfeinerten French Sauce serviert wurde.
Beim Essen erklarte Crowe ihnen, warum sie nach London gekommen waren.
»Ich habe vorher einem Mann telegraphiert, den ich in dieser schonen Stadt kenne«, sagte er zwischen zwei gro?en Gabelhaufen mit Nierenpastete. »So eine Art Geschaftspartner von mir.«
Sherlock fragte sich kurz, in was fur eine Art Geschaft Crowe wohl involviert sein mochte, da er nie zuvor etwas davon berichtet hatte. Aber dann redete Crowe schon wieder weiter.
»Ich habe ihm erzahlt, auf welcher Stra?e der Konvoi nach London kommen wurde, und ihn gebeten, die Wagen abzupassen und dann ihren endgultigen Zielort herauszufinden. Ich habe ihm gesagt, in welchem Hotel wir logieren, und gerade hat er ein Telegramm geschickt, um mir mitzuteilen, dass sie die ganzen Kisten in einem Lagerhaus abgeladen haben, das in einem Stadtteil namens Rotherhithe liegt. Und er hat mir genau beschrieben, wie man da hinkommt.«
»Rotherhithe?«, fragte Sherlock.
»Liegt ein paar Meilen flussabwarts. Ein ziemlich unappetitlicher Ort, wo Seeleute zwischen ihren Schiffsreisen ihr Vergnugen suchen und Frachtguter gelagert werden, bevor man sie auf die Schiffe verladt. Kein Ort, an dem man sich nach Einbruch der Dunkelheit gerne rumtreiben wurde.« Er schuttelte unzufrieden den Kopf. »Normalerweise wurde ich es nicht riskieren, dich dahin mitzunehmen. Aber das hier ist zu wichtig. Der Baron fuhrt irgendetwas im Schilde. Etwas so Gro?es, dass er bereit ist, dafur zu toten. Was er ja auch schon getan hat. Euch zu beseitigen, wurde ihm kaum mehr ausmachen, als eine Spinne zu zertreten. Das Problem ist nur: Wir mussen sichergehen, dass es sich bei den Kisten, die auf den Frachtkarren hierhergebracht wurden, auch tatsachlich um die Bienenstocke handelt, die du in Farnham gesehen hast. Und das bedeutet, dass ich dich in Rotherhithe brauche, damit du einen Blick darauf wirfst, Sherlock. Aber ich warne dich: Es konnte gefahrlich werden. Sehr gefahrlich.«
Sherlock nickte langsam. »Das Risiko gehe ich ein. Ich will rausfinden, was da vor sich geht … und warum er dauernd versucht, mich umzubringen.«
Crowe blickte zu Matty hinuber, der sich mit dem Loffel gerade Erbsen in den Mund schaufelte. »Und du, junger Mann … Ich vermute mal, dass du schon so einige finstere Hafengegenden gesehen hast, in Anbetracht der Tatsache, dass du dein Leben damit verbringst, auf einem kleinen Kahn durch die Welt zu schippern. Und vermutlich wei?t du auch, wie du dich bei einem Kampf verhaltst.«
»Wenn’s ’nen Kampf gibt«, sagte Matty durch einen Mundvoll Erbsen hindurch, »renn ich. Und wenn das nicht geht, hau ich zu. Tief und hart.«
»Besser hatte ich’s nicht sagen konnen«, nickte Crowe. »Ich komme naturlich mit euch, aber vielleicht werden wir uns trennen mussen, um verschiedene Stellen im Auge zu behalten.«
»Und was ist mit mir?« Virginias Stimme hatte vor Entrustung einen schrillen Klang angenommen und ihre violetten Augen blitzten gefahrlich. »Was mache ich?«
»Du bleibst hier«, sagte Crowe finster. »Ich wei?, dass du bei einem Gerangel schon alleine klarkommst. Aber du hast keine Ahnung, was einer jungen Frau in Rotherhithe so alles passieren kann. Die Leute, die dort leben, sind schlimmer als Tiere. Ich konnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren wurde … nicht nach …« Er