Du kannst die Ruckseite im Auge behalten, und ich werde zwischen euch hin- und herpendeln.«
»Wonach halten wir Ausschau?«, fragte Sherlock.
»Nach allem, was aus der Reihe fallt. Nach irgendetwas, das uns vielleicht Aufschluss daruber geben kann, was hier vor sich geht.«
Crowe legte Matty die Hand auf die Schulter und dann machten sie sich auf den Weg. Sherlock befolgte die Anweisungen, indem er sich hinhockte und einen der kleinen Pflastersteine aus dem Dreck klaubte. Er lie? den Stein vor- und zuruckkullern. Ein ziemlich stupides und langweiliges Spiel, aber es reichte, um ihn als naturlichen Teil der Szenerie wirken zu lassen. Und wie sich herausstellte, konnte er, wahrend er demonstrativ so vor sich hinspielte, tatsachlich noch aus den Augenwinkeln sehen, was um ihn herum geschah.
Die Frontseite des aus Backsteinen errichteten Lagerhauses wurde fast komplett von einem gro?en Holztor eingenommen, dessen zwei Flugel so aufgehangt waren, dass sie sich nach au?en zur Stra?e hin offneten. Nichts an dem Gebaude war eindeutig verdachtig, und Sherlock fragte sich, ob sie auch wirklich die richtige Stelle beobachteten oder einfach nur ein zufallig ausgesuchtes Gebaude.
Nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorgekommen war, kam Amyus Crowe wieder zuruckgeschlendert. Vermutlich jedoch war gerade erst eine halbe Stunde vergangen.
Obwohl er noch dieselben Sachen trug wie zuvor und diese nicht so eindrucksvoll beschmutzt hatte wie Sherlock und Matty, sah er ziemlich zerzaust aus. Sein Jackett war schrag zugeknopft, was seiner Haltung irgendwie eine schiefe Erscheinung verlieh, und das Hemd hing ihm aus der Hose. Er schwankte leicht und starrte die ganze Zeit konzentriert auf den Boden unmittelbar vor seinen Fu?en. Er blieb in Sherlocks Nahe stehen und lie? sich gegen die Wand fallen.
»Alles klar?«, murmelte er.
»Hier ist nichts passiert«, erwiderte Sherlock ebenso leise.
»Bist du okay?«
»Mir ist langweilig.«
Crowe kicherte. »Willkommen auf der Jagd. Lange Phasen der Langeweile, unterbrochen von Momenten des Hochgefuhls und der Todesangst.« Er schwieg einen Moment und sprach dann weiter. »Ich denke, ich mach mal einen kleinen Bummel in die Taverne dort und schau mal, was da drinnen so geredet wird.«
»Gut. Dann konnten Sie mir doch ein Glas Wasser rausbringen lassen, oder?«
»Junge, vermutlich bist du besser dran, wenn du Wasser aus der Themse statt aus der Taverne trinkst. Wenn du Hunger oder Durst hast, dann nimm es einfach zur Kenntnis, hake es ab und halte dich nicht mehr damit auf. Ein Mensch kann es drei bis vier Tage ohne Wasser aushalten. Halte dir das einfach standig vor Augen.«
»Sie haben leicht reden.«
Crowe lachte.
»Kann ich Sie etwas fragen?«, sagte Sherlock, im Bestreben, Crowe noch ein wenig zum Dableiben zu bewegen.
»Sicher.«
»Was machen Sie in England? Und was ist das fur ein Geschaft, das Sie vorhin erwahnt haben?«
Crowe lachelte freudlos. Er sah fort und mied Sherlocks Blick. »Ich bin jedenfalls kein Tutor, soviel ist mal sicher«, sagte er mit sanfter Stimme. »Auch wenn sich das allmahlich zu einem immer interessanteren Zeitvertreib entwickelt. Nein, ich bin – nun ja, sagen wir mal von der amerikanischen Regierung, um es leichter zu machen – angeheuert worden, um Manner aufzuspuren, die wahrend des Burgerkrieges die entsetzlichsten Graueltaten begangen haben und ins Ausland fliehen konnten, bevor die amerikanische Justiz sie ergreifen konnte. So ist es auch gekommen, dass ich deinen Bruder kennengelernt habe: Er hat namlich den Vertrag unterzeichnet, der es mir gestattet, hier zu sein. Und deswegen habe ich mir auch ein Netz von nutzlichen Leuten aufgebaut, vor allem in den Docks und in den Hafen. Als du mir also erzahlt hast, dass der Baron seinen Plan – um welchen auch immer es sich handeln mag – mit gro?erem Tempo vorantreiben wollte, habe ich einfach meine Leute benachrichtigt, dass sie nach den Frachtkarren des Barons Ausschau halten sollen. Und wie ich zugeben muss, war ich uberrascht, dass sie sie so leicht aufgespurt haben.« Er blickte wieder Sherlock an. »Zufrieden?«
Sherlock nickte.
»Das habe ich nicht vielen Leuten erzahlt«, fugte Crowe hinzu. »Ware dir dankbar, wenn du es fur dich behalten wurdest.« Dann machte er sich wieder davon, noch bevor Sherlock etwas sagen konnte.
Sherlock widmete sich weiter seinem Spiel und rollte den Pflasterstein unermudlich vor und zuruck, wahrend eine Minute nach der anderen verstrich. Er behielt das Lagerhaustor permanent im Auge, aber es blieb fest verschlossen und nichts ruhrte sich.
Plotzlich erhob sich irgendwo hinter ihm ein wilder Radau, und fast hatte er sich umgedreht, um nachzusehen. Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig davon abhalten. Er lie? den Pflasterstein ein wenig weiter wegkullern. Als er ihn zuruckholte und sich schlie?lich wieder umdrehte, lie? er seine Augen zur Seite gleiten, wodurch er einen Blick auf die Taverne werfen konnte. Eine Tur stand offen und eine Gruppe offensichtlich stark angetrunkener Manner kam auf die Stra?e hinausgetorkelt. Sie scherzten derbe miteinander, wandten sich dann in seine Richtung und kamen auf ihn zu. Er konzentrierte sich auf seinen Stein und lauschte angestrengt, ob einer von ihnen etwas uber das Lagerhaus, die Bienenstocke, Baron Maupertuis oder sonst irgendetwas sagte, das mit den ratselhaften Vorgangen in Verbindung stand.
»Wann ziehen wir ab?«, fragte einer von ihnen.
»Beim ersten Tageslicht, gleich morgen fruh«, antwortete ein anderer. Etwas an der Stimme kam Sherlock bekannt vor, aber er konnte sie einfach nicht einordnen.
»Wer hat den Einsatzplan?«, fragte eine dritte Stimme.
»Den hab ich im Kopf«, erwiderte der zweite Mann. »Du machst dich nach Ripon auf. Snagger geht nach Colchester. Jungspund Nichelson hier macht ’ne Spritztour nach Woolwich, und ich muss zuruck nach Aldershot.«
»Kann ich nicht lieber nach Aldershot?«, fragte eine Stimme mit nordlichem Akzent – vermutlich besagter Jungspund Nichelson.
»Du gehst dahin, wohin man es dir sagt, Sonnenschein«, erwiderte der zweite Mann. Beim Sprechen kam er dicht an Sherlock vorbei. Sein Fu? stie? gegen Sherlocks Pflasterstein und beforderte diesen ein Stuck die Stra?e hinunter.
Ohne es zu wollen, sah Sherlock auf … und blickte dem Mann genau in die Augen.
Es war Denny: der Mann, dem Sherlock zum Lagerhaus in Farnham gefolgt war, der Mann, der dabei gewesen war, als sein Freund Clem auf das Boot gesprungen war, um Sherlock und Matty anzugreifen. Der Mann, der fur Baron Maupertuis arbeitete.
So viel zum Thema Unsichtbarkeit. Dennys Gesicht wurde augenblicklich rot vor Wut.
Hande griffen nach Sherlock. Er rollte sich rasch zur Seite, sprang auf die Beine und rannte auf dem Pflasterweg davon. Eigentlich hatte er auf die Taverne zulaufen wollen, in der sich Amyus Crowe befand, aber die Manner standen zwischen ihm und der Tavernentur. Stattdessen rannte er also immer weiter weg … fort von Crowe, fort von Matty und von allem, was er von der Gegend kannte.
Hinter ihm wirbelten drohnende Schritte uber das Pflaster. Gespenstisch hallte ihr Echo von den Hauserwanden wider, an denen er vorbeiflitzte. Ihm brannte der Atem in der Kehle, und sein Herz hammerte wie ein lebendes Wesen, das man in seinem Brustkorb eingesperrt hatte und sich nun mit aller Macht befreien wollte. Zweimal spurte er, wie Finger seinen Nacken streiften und hastig nach seinem Kragen griffen, und zweimal musste er sich in einer verzweifelten Kraftanstrengung losrei?en. Abgesehen von Sherlocks pochendem Herzen, den unterdruckten Fluchen, die seine Verfolger beim Laufen ausstie?en, sowie dem Drohnen ihrer Stiefel verlief die Hetzjagd in absoluter Stille.
Als er ein gutes Stuck weiter gerannt war, erkannte er plotzlich, dass der Weg vor ihm abrupt in einer Ziegelsteinmauer endete. Entsetzt riss Sherlock die Augen auf.
Er sa? in der Falle! Er drehte sich um und versuchte fieberhaft abzuschatzen, ob er noch genug Zeit haben wurde, um zuruckzurennen und einen anderen Weg zu finden. Aber die Manner kamen schnell naher. Insgesamt hatte er es mit funf Kerlen zu tun, wie er in einer merkwurdigen Mischung aus Angst und Gelassenheit feststellte, die plotzlich Besitz von ihm ergriffen hatte. Und alle hielten entweder Messer oder schwere Stocke in den Handen. Er wurde niemals lebend hier rauskommen.
Plotzlich konnte er eine deutlich vernehmbare Stimme in seinem Kopf horen. Er hatte trotzdem nicht sagen konnen, ob sie seinem Bruder, Amyus Crowe oder ihm selbst gehorte, aber auf jeden Fall sagte sie: »Wege und