Fluchtmoglichkeiten beschaftigte, zu der Vermutung gelangen lie?, dass es sich um einen Boxer handeln konnte. Der andere war ein klapperdurrer Mann mit scharfen Wangenknochen und spitzem Kinn. Sie waren offensichtlich ganz versessen darauf, ihn zu fangen – koste es, was es wolle. Bevor er Denny den Unterkiefer gebrochen hatte, hatten sie vielleicht aufgegeben, aber jetzt waren sie von einem Ziel getrieben. Einer von ihnen war bis auf die Knochen blamiert worden, und Sherlock wurde dafur bu?en mussen.

Er drehte sich um und machte sich an den Abstieg.

Die Treppe schraubte sich an der Innenwand eines gigantischen Schachtes in die Tiefe. Hin und wieder wurde sie von einer Galerie unterbrochen, die sich horizontal um den Schacht herumzog, bevor die Stufen weiter in den Abgrund hinabfuhrten. Ein Geruch stieg aus dem Schacht empor. Ein Geruch, in dem sich feuchter Dunst, Faulnis und Moder zu einem einzigen unertraglichen Gestank verbanden, der Sherlock in der Nase stach und ihm das Wasser in die Augen trieb. Wahrend er immer an der Wand des zylindrischen Schachtes entlang in die Tiefe stapfte, nahmen seine Schritte allmahlich einen gleichma?igen Rhythmus an. Er hatte keine Ahnung, was sich unten auf dem Boden des Schachtes befand. Aber ein kurzer Blick uber das Gelander zeigte ihm, was ihn oben erwarten wurde. Zwei von Baron Maupertuis’ Mannern kamen die Treppe herunter auf ihn zugerannt.

Er beschleunigte seine Schritte. Was auch immer er dort unten vorfinden wurde, es konnte unmoglich so schlimm sein wie der sichere und vermutlich langsame Tod, der ihm im Nacken sa?.

Es kam ihm vor, als hatte er einen Gro?teil der letzten paar Tage entweder damit verbracht wegzulaufen oder zu kampfen. Doch selbst jetzt, da seine Fu?e uber die Steinstufen wirbelten und die uber das Treppengelander rutschende Hand wie Feuer brannte, beschaftigte sich ein Teil seines Gehirns fieberhaft mit den entscheidenden Fragen: Was war das fur eine wichtige Sache, die Sherlock nach Meinung des Barons wusste und fur die er sterben sollte? Was genau hatte der Baron vor, und warum stand Sherlock seinen Planen im Wege?

Plotzlich kamen seine Beine aus dem Rhythmus und er strauchelte. Er hatte bereits den ebenen Grund des Schachtes erreicht, ohne es gemerkt zu haben. Er befand sich in einer von Gaslampen erleuchteten Halle, aus der zwei bogenformige Tunneloffnungen in gleicher Richtung fortfuhrten. Die Bogen waren etwa vier bis funf Mal so hoch wie ein erwachsener Mann und aus Ziegelsteinen gemauert. Sherlock musterte die Steine. Wohin sein Blick auch fiel, an allen Stellen war das Mauerwerk triefend nass. Und Sherlock wusste auch warum. Der Lage der Offnungen nach zu schlie?en, verliefen die beiden Tunnel direkt unter der Themse hindurch und endeten vermutlich auf der Nordseite in einem ahnlichen Schacht.

Wenn er es bis zur anderen Seite schaffte, konnte er vielleicht noch einmal mit dem Leben davonkommen.

Er stolperte in den Tunnel zu seiner Linken hinein. Auch hier war alles voller Menschen. Entspannt flanierten sie umher, als ware es die naturlichste Sache der Welt, unter einem Fluss herumzuspazieren. Sogar Pferde wurden hier in aller Seelenruhe am Halfter mitgefuhrt. Die Leute hatten offensichtlich keine Vorstellung von den Abertausenden Tonnen von Wasser, die sich nur ein paar Meter uber ihren Kopfen befanden und nur von brockeligem Mauerwerk und ein bisschen Putz zuruckgehalten wurden.

Es gab Zeiten, in denen uberma?ig logisches Denken ein Fluch war. Und dieser Moment gehorte zweifellos dazu. Sherlock hatte eine gute Vorstellung von dem gewaltigen Druck, der auf den Tunnelwanden lastete. Nur ein kleiner Riss und sie wurden alle im hereinstromenden Wasser ertrinken.

Trotzdem lief er immer weiter. Schlie?lich hatte er keine andere Wahl.

Oder vielleicht doch? Im Laufen fiel ihm auf, dass die beiden Tunnel parallel zueinander verliefen und etwa alle zehn Meter durch kleinere Nebentunnel miteinander verbunden waren. In samtlichen dieser Nebentunnel hatten unternehmenslustige Londoner Stande aufgebaut, an denen sie Essen, Getranke, Kleidung und allen moglichen Krimskrams verkauften. Wenn er sich einfach durch einen dieser Tunnel davonstahl, konnte er sich in dem anderen Haupttunnel wieder zuruck zum Eingangsschacht begeben, zum Lagerhaus zuruckkehren und dort nach Amyus Crowe suchen.

Er hielt nach rechts auf die Tunnelwand zu und bog kurz darauf scharf in den erstbesten Seitentunnel ein, auf den er stie?. Ein Mann wandte sich ihm zu. Eine Ollampe, die an einem Nagel an seinem Bretterstand hing, warf ihr Licht auf sein bleiches Gesicht. Seine graue Haut war feucht und sah aus wie etwas, das viel zu lange unter der Erde gewesen war. Er hatte sich in eine alte Decke gehullt, die mit der Zeit vor Dreck ganz steif geworden war und ihn wie eine bizarre Rustung umgab. Aus Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen, starrte er Sherlock einen Moment an.

»Willste ’ne Uhr?«, fragte er hoffnungsvoll. »Erstklassige Chronometer. Gehen immer richtig. Immer genau. Tischuhren, Standuhren … Hab alles da. Was immer du willst.«

»Nein danke«, sagte Sherlock und druckte sich am Stand vorbei. Ihm kam der Gedanke in den Sinn, wie bedeutungslos doch so etwas wie Zeit hier tief unter der Themse war. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht. Die Zeit ging einfach so dahin. Wozu brauchte man da eine Uhr?

»Wie war’s mit ’ner schonen Taschenuhr? Wenn de ’ne Uhr hast, brauchste nie mehr nach der Zeit fragen. Mit ’ner Savonette machen junge Burschen wie du schweren Eindruck auf die Ladys. Echtes Silber. Auch mit Schmuckgravur. Und drinnen im Deckel konntest de ’n Bild von deinem Schatz aufbewahren.«

Na klar! Echtes Silber, mit Gravur. Und vermutlich Diebesgut. »Nein, danke«, erwiderte Sherlock au?er Atem. »Aber mein Vater hat Geld. Der kommt in einer Minute hier vorbei. Sagen Sie ihm, dass ich eine Uhr will. Und lassen Sie ihn nicht weg, ohne dass er eine kauft.«

Das Lacheln des Standbesitzers lie? Sherlock an einen rauberischen Riesenkrebs denken, der, unter einem Stein lauernd, darauf wartete, dass ein ahnungsloses Opfer in seine Nahe kam.

Sherlock ging weiter zum anderen Ende des Seitentunnels und lugte um die Ecke. Er blickte zum Eingangsschacht zuruck, durch den er gekommen war, und stie? einen Fluch aus. Seine Verfolger mussten sich getrennt haben. Einer war ihm in den linken Tunnel gefolgt, doch der andere hatte den rechten genommen und kam jetzt auf ihn zu. Der Mann schob sich durch die Menge und musterte argwohnisch jeden Mann, der junger als zwanzig zu sein schien, um ganz sicherzugehen. Offensichtlich kannten sich seine Verfolger besser in der Gegend aus als er.

Sherlock entschloss sich abzuwarten, bis der Mann am Tunneleingang vorbeigegangen ware. Dann wurde er einfach wieder zuruckgehen. Aber sein Plan wurde durch einen Tumult zunichte gemacht, der sich plotzlich hinter ihm erhob. Er drehte sich um und sah, wie der Standbesitzer dem Schurksen, der Sherlock durch den linken Tunnel gefolgt war, eine kleine Reiseuhr in die Hand zu drucken versuchte. Es war der glatzkopfige Mann mit den Blumenkohlohren und der zerquetschten Nase. Laut fluchend stie? der Schlagertyp ihn weg. Aber der Standbesitzer kam zuruckgetippelt und sah unter seinem harten Deckenpanzer nun mehr und mehr aus wie irgendein Krustentier, das am Grunde des Meeres lebte.

Wieder versuchte er, dem Glatzkopf die Uhr in die Hand zu drucken. »Fur Ihren Sohn! Fur Ihren Sohn!«, kreischte er dabei aus vollem Hals. Der Ex-Boxer versetzte ihm wieder einen Sto?. Diesmal einen harteren. Der Standbesitzer strauchelte, kam gegen die Ollampe und schmetterte sie dabei gegen die Wand. Das Glas zersplitterte, und das Ol ergoss sich uber die schmutzverkrustete Decke des Standbesitzers. Der noch brennende Docht fiel ebenfalls auf die Decke und setzte sie in Brand.

Rasch breiteten sich die Flammen aus, wahrend der Standbesitzer eine Schrecksekunde lang einfach nur wie gelahmt auf der Stelle stand. Doch gleich darauf flitzte er, wild mit den Armen um sich schlagend, in den linken Haupttunnel hinaus. Panisch wichen die Leute vor ihm zuruck. Dennoch stie? er mit einem Passanten zusammen, und augenblicklich sprang das Feuer auf dessen Gehrock uber. Der Mann sprang zur Seite und schlug hastig mit der Hand auf die Flammen ein. Aber der einzige Erfolg bestand darin, dass er den ausladenden Reifrock einer Frau neben ihm in Brand setzte. Ein Pferd, das gerade am Halfter durch den Tunnel gefuhrt wurde, ging beim Anblick der Flammen durch und schleifte seinen Besitzer hinter sich her.

Innerhalb kurzester Zeit verwandelte sich der Tunnel in ein Flammeninferno. In Windeseile fingen zunachst Kleidungsstucke Feuer, dann folgten die Stoffabdeckungen der Stande, bis diese – trotz ihres feuchten Holzes – selbst in Flammen aufgingen. Rauch und Dampf vermischten sich im Tunnel zu einem erstickenden Nebel. Entsetzt floh Sherlock vor Feuer und Rauch in den rechten Tunnel, der zum Gluck noch frei von Flammen war.

In dem jedoch auch noch einer seiner Verfolger steckte.

Eine haarige Hand packte ihn an der Schulter.

»Hab ich dich, du Drecksack«, fauchte der Mann. Seine Jackenarmel waren so schwarz vor alten Schwei?flecken, dass sie ganz steif und wachsig geworden waren. Der Gestank, den die Kleidung des Mannes verstromte, war unbeschreiblich.

Sherlock zappelte und wand sich unter seinem Griff. Aber es war sinnlos. Seine Finger bohrten sich hart in

Вы читаете Death Cloud
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату