»Was, wenn ich mich am Turrahmen festkralle und mich weigere loszulassen?«

»Dann brechen wir dir die Finger und nehmen dich trotzdem mit.«

Der Mann lachelte, aber in seinem Ausdruck lag keine Spur von Heiterkeit. Es war lediglich ein blo?es Zurschaustellen seiner Zahne. Wie ein Tiger, der sich bereit zum Sprung auf sein Opfer machte. »Der Baron braucht von dir nur das, was ubrig bleiben muss, um Fragen zu beantworten. Mehr nicht. Das bedeutet also deinen Kopf, damit dein Hirn denken und dein Mund sich bewegen kann, und deinen Brustkorb, damit deine Lungen atmen und dich am Leben halten konnen. Alles andere ist optional. Deine Wahl.«

Sherlock wartete noch einen Augenblick, nur um zu demonstrieren, dass er sich daruber bewusst war, eine Wahlmoglichkeit zu haben und diese auch in Anspruch nahm. Dann bewegte er sich auf die Tur zu. Der Narbenmann ruhrte sich nicht von der Stelle, bis Sherlock kurz davor war, in ihn hineinzulaufen. Erst dann drehte er sich etwas zur Seite. Doch gerade nur so viel, dass Sherlock durch die Tur kam.

»Mein Name ist MrSurd«, sagte er, als die beiden Diener und er Sherlock auf dem Korridor folgten. »Ich bin personlicher Diener und Faktotum des Barons. Was immer er auch verlangt, ich erledige es. Will er ein Glas Madeira, gehort es zu meinen Aufgaben, ihm eines einzuschenken. Will er deinen Kopf auf einem Tablett, ist es meine Pflicht, ihn abzuschneiden und zu servieren. Kein Vergnugen, keine ehrenvolle Aufgabe. Einfach nur ein Job. Verstehst du mich?«

»Ich verstehe«, sagte Sherlock. »Sie waren das mit der Peitsche, als ich das letzte Mal beim Baron war, oder? Sie haben da im Dunkeln gestanden.«

»Nur ein Job«, wiederholte der Narbenmann. »Aber ein gut gemachter Job erfullt mich mit gro?er Befriedigung.«

Der obere Korridor und die Treppe, die hinunter in die Haupthalle fuhrte, sahen genauso aus, wie er sie von dem Anwesen in Farnham her noch in Erinnerung hatte. Unversehens ertappte Sherlock sich dabei, wie er nach den Hufspuren suchte, die Matty und er bei ihrer Flucht hinterlassen haben mussten. Doch halt, nein. Dies war nicht dasselbe Haus, sondern ein anderes. Eines, das einfach nur so aussah wie das in Farnham.

Virginia stand neben einem gro?en Teakschrank in der Halle. Direkt vor dem Raum, in dem, wie Sherlock sich erinnerte, Baron Maupertuis auf sie warten wurde. Bewacht wurde sie von zwei maskierten Dienern, die sich neben ihr postiert hatten.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Nur ein paar seltsame Traume«, erwiderte sie. »Ich bin auf Sandia geritten, aber er war so wild, dass ich ihn beim besten Willen nicht kontrollieren konnte. Wir sind einfach weiter und weiter durch eine komische Landschaft geritten, die immer in dem Augenblick zerflossen ist, in dem ich einen Blick darauf geworfen habe.« Sie schuttelte sich, um die unangenehme Erinnerung loszuwerden. »Und was ist mit dir?«

»Schlangen«, sagte er nur.

»Was war das fur ein Zeugs, mit dem sie uns betaubt haben? Mein Kopf fuhlt sich immer noch ganz benebelt an.«

»Ich glaube, es war Laudanum, in Alkohol gelostes Opium. Meine Mutter und mein Vater haben es auf Anordnung des Arztes immer meiner kranken Schwester verabreicht. Ich erkenne den Geruch wieder. Es wird aus Mohn gemacht.«

»Mohn?« Sie lachte. »Den hab ich noch nie gemocht. Das sind ganz gruselige Blumen.«

MrSurd schob sich an ihnen vorbei und offnete die Tur zu dem Raum, in dem der Baron auf sie wartete. Mit einer Geste forderte er sie auf einzutreten.

Wie bei ihrer letzten Begegnung lag der Raum im Dunkeln. Am Kopfende eines riesigen Tisches waren zwei Stuhle platziert worden. Das andere Ende des Tisches lag im Schatten verborgen. Schwere schwarze Vorhange verhullten die Fenster und verhinderten, dass Sonnenlicht ins Zimmer drang. Die wenigen Wandbereiche, die Sherlock erkennen konnte, waren mit Schwertern und Schildern bedeckt. Und an einer Stelle war sogar eine vollstandige Ritterrustung aufgestellt worden, die so arrangiert war, dass der in der Rustung steckende imaginare Ritter ein Schwert in der Hand hielt.

MrSurd bedeutete ihnen, sich zu setzen. Sherlock spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern. Aber dann nahm er etwas in MrSurds Blick wahr. Etwas, das ihn zu dem Schluss kommen lie?, dass der Diener genau dies nicht nur von ihm erwartete, sondern sich sogar regelrecht wunschte, um Sherlock eine schmerzhafte Lektion erteilen und ein fur alle Mal sicherstellen zu konnen, dass er gehorchte.

Also setzte sich Sherlock lieber, wahrend Virginia neben ihm Platz nahm.

MrSurd und die vier Diener gingen zum anderen Ende des Raumes und verschwanden in der Dunkelheit.

Eine Weile war es still im Zimmer. Abgesehen von einem feinen Knarren und Knarzen, Gerauschen, wie sie unter Spannung stehende Taue und Holz von sich geben und die Sherlock schon beim letzten Mal aufgefallen waren.

Dann erklang eine flusternde Stimme, die sich wie trockene Blatter anhorte, die im Wind raschelten. »Du beharrst darauf, meine Plane zu durchkreuzen, und dabei bist du doch nur ein Kind. Wegen dir war ich gezwungen, eines meiner Anwesen aufzugeben.«

»Sie scheinen es zu lieben, wenn ihre Hauser identisch konstruiert und eingerichtet sind«, sagte Sherlock. »Warum? Ziehen Sie es vor, dass die Dinge alle gleich aussehen?«

Eine Weile herrschte Stille, und jeden Augenblick erwartete Sherlock, zu spuren zu bekommen, wie sich die aus der Dunkelheit schnellende Peitschenspitze in sein Fleisch schnitt.

Aber stattdessen antwortete die Stimme.

»Wenn ich einmal etwas gefunden habe, das ich mag«, sagte sie, »sehe ich keinen Grund darin, etwas anderes zu ertragen. Ob nun der Grundriss und die Einrichtung eines Hauses oder ein Regierungssystem … Sobald ich etwas gefunden habe, das funktioniert, will ich es duplizieren, damit die Dinge absolut identisch sind, wo immer ich auch bin. Ich finde das … irgendwie trostlich.«

»Und deswegen kleiden Sie ihre Diener auch in schwarze Masken. So konnen Sie sich der Illusion hingeben, dass Sie – egal, wo Sie sich gerade aufhalten – stets von denselben Leuten umgeben sind.«

»Sehr scharfsinnig.«

»Und wir befinden uns gerade wo … in Frankreich?«

»Du hast die Landschaft erkannt? Ja, dieses Haus liegt in Frankreich. Wahrend man euch auf dem Schiff und dann in der Kutsche hierhergebracht hat, wurdet ihr die ganze Zeit uber betaubt gehalten.«

»Aber was ist mit MrSurd?«, fragte Sherlock. »Von ihm gibt’s nur einen.«

»MrSurd ist unersetzlich. Wohin ich gehe, geht auch er hin.«

»Sie sind Baron Maupertuis, nicht wahr?«

»Du uberraschst mich schon wieder. Ich hatte nicht gedacht, dass mein Name weithin bekannt ist.«

»Ich … hab das anhand von Anhaltspunkten kombiniert.«

»Sehr clever. Wirklich sehr clever. Mein Kompliment fur deine Kombinationsgabe. Und was hast du dir sonst noch so zusammenkombiniert?«

Virginia legte warnend eine Hand auf die seine. Aber Sherlock spurte plotzlich Stolz in sich aufkeimen – Stolz auf die Nachforschungen, die er unternommen hatte, auf die Sachverhalte, die er aufgedeckt hatte, und darauf, dass sich die Einzelteile der Verschworung in seinem Kopf allmahlich zu einem Bild zusammenzufugen begannen. Und au?erdem, so sagte er sich, war es wichtig, dass Maupertuis erfuhr, dass seine Plane nicht mehr langer geheim waren. »Ich wei?, dass Sie Bienen gehalten haben, und ich wei?, dass es sich um eine auslandische Spezies handelt, die aggressiver ist als jede europaische Bienenart. Das bedeutet, Sie halten die Tiere nicht, um Honig zu produzieren, sondern um ihrer Stachel willen. Sie wollen, dass sie Menschen verletzen oder toten.« Sein Hirn arbeitete jetzt auf Hochtouren und jonglierte fieberhaft mit diversen Fakten herum, um auf Muster zu sto?en, die er zuvor kaum fur moglich gehalten hatte. Amyus Crowes Absicht war es gewesen, ihn zu unterrichten, ihn zu trainieren. Baron Maupertuis aber nahm ihn tatsachlich ernst … oder besser gesagt, betrachtete ihn als ernsten Gegner. Er horte sich Sherlocks Schlussfolgerungen an, als hatten sie wirklich eine Bedeutung. Als waren es nicht blo? Antworten theoretischer Natur, die sich auf kunstlich konstruierte Problemstellungen bezogen, in denen Hasen und Fuchse involviert waren.

»Sie haben auch eine Fabrik betrieben, um Kleidung zu produzieren … Armeeuniformen, glaube ich.« Er hielt eine Sekunde inne. Da war etwas, das er mit seinen Gedanken noch nicht ganz greifen konnte, ein bedeutsames logisches Ziel, auf das alles hinauslief und dessen Elemente er bereits alle kannte. Mit Ausnahme des letzten, das einen eher intuitiven Sprung erforderte. »Einer ihrer Manner, ich glaube Wint war sein Name, hat ein paar Kleidungsstucke gestohlen und sie in seinem Haus gelagert. Er wurde von Bienen attackiert. Ein anderer Mann, der

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