»Deine Flucht hat uns fruher zum Handeln gezwungen als geplant«, flusterte der Baron. »In Portsmouth und Southampton waren keine Liegeplatze frei, und unser Schiff hat in London auf den Befehl zum Auslaufen gewartet. Es war im Grunde ineffizient, die Bienenstocke nach London zu bringen, aber leider unvermeidlich. Und damit hat sich nun deine Nutzlichkeit fur mich erschopft … deine und die des Madchens, das neben dir sitzt. Ich wollte eigentlich drohen, sie umzubringen, um dich zum Reden zu zwingen. Aber Zwang war gar nicht erforderlich. Wenn es uberhaupt ein Problem gab, dann bestand es darin, dich dazu zu bewegen, die Klappe zu halten.«
Gedemutigt blickte Sherlock Virginia an und spurte, wie er rot wurde. Aber Virginia lachelte ihn nur an. »Du hast verhindert, dass sie mir wehtun«, flusterte sie. »Danke.«
»Keine Ursache«, antwortete Sherlock automatisch, ohne sich wirklich sicher zu sein, ob er sich das nun wirklich als Verdienst anrechnen sollte.
»MrSurd«, horten sie Baron Maupertuis’ Stimme aus der Dunkelheit, und obwohl er flusterte, drang seine befehlsgewohnte Stimme in jeden Winkel des Raumes.
»Wir mussen unsere Plane beschleunigen. Erteilen Sie die Befehle. Begeben Sie sich zum Fort und lassen Sie die Bienen frei. Wenn sie die britische Hauptinsel erreicht und sich uber das Land verteilt haben, werden die Uniformen schon ausgeteilt sein. Und dann werden Chaos und Verwirrung herrschen!«
15
Die Worte des Barons hallten kalt von den Wanden wider. Vor ihnen im Dunkeln war geschaftiges Geraschel zu horen, wahrend ein Diener mit den Befehlen den Raum verlie?. Sherlock warf einen Blick auf Virginia. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihr Mund hatte sich zu einer entschlossenen Linie verhartet. Er druckte ihre Hand, woraufhin Virginia ihm ein mattes Lacheln schenkte.
Ihr unbeugsamer Geist machte Sherlock Mut weiterzumachen.
»Ein grandioser Plan«, sagte er in die Dunkelheit gewandt. »Nur wird er nicht funktionieren.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Lediglich unterbrochen von den merkwurdigen knarzenden und knarrenden Gerauschen, die er bereits im Haus des Barons in Farnham gehort hatte. Etwas, das klang wie eine vom Meerwasser benetzte Schiffstakelage, an der der Wind und die ruckartigen Bewegungen eines Schiffsrumpfes zerrten, der in den Wellen hin- und hergeschleudert wurde.
»Du scheinst ziemlich selbstsicher zu sein«, meldete sich die Stimme des Barons wieder. »Fur ein Kind.«
»Denken Sie doch mal druber nach. Ihr Plan ist nicht unbedingt wasserdicht, nur weil ihm zufallig zwei Manner zum Opfer gefallen sind. Durch alle moglichen Umstande konnte die Chemikalie zum Beispiel aus dem Uniformstoff herausgewaschen werden. Denken Sie daran, in England regnet es. Es regnet eine Menge. Und einige Soldaten werden ihre Uniformen schon einmal zum Waschen gebracht haben, bevor die Bienen sie erreichen. Vor allem die Offiziere.« Sherlock kam nun richtig in Fahrt, und sein Kopf sprudelte plotzlich nur so von Ideen, warum Maupertuis’ grandiose Verschworung zum Scheitern verurteilt war.
»Statt die von Ihnen gelieferten Uniformen zu benutzen, ziehen einige Soldaten vielleicht ihre alten Waffenrocke vor und behalten sie, oder sie bringen ihren Regimentsschneider dazu, ihnen eine neue zu schneidern. Ich wei? nicht viel von Frankreich, Deutschland oder Russland, aber die Leute in England mogen es nicht, gesagt zu bekommen, was sie zu tun oder anzuziehen haben. Sie finden stets Mittel und Wege, um solche Anweisungen zu umgehen.«
»Und was ist mit den Bienen?«, fugte Virginia unerwarteterweise hinzu. »Wie viele von ihnen werden die Hauptinsel tatsachlich erreichen? Wie viele Bienen brauchen Sie, um alle Gegenden abzudecken, in denen die Armee stationiert ist? Haben Sie auch wirklich genug? Und was ist, wenn es einen Kalteeinbruch gibt und die Bienen sterben, oder wenn es in England irgendein Tier gibt, das sie frisst, oder wenn sie sich einfach irgendwo niederlassen, einen neuen Staat grunden und hier zu einem Teil der naturlichen Umgebung werden? Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich mit den einheimischen Bienen kreuzen, mit den britischen Bienen, und jede Spur von Aggressivitat verlieren, auf der Ihr Plan beruht.«
»All diese Faktoren sind berucksichtigt worden«, erwiderte der Baron mit knochentrockener Stimme. Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit durchklang. »Und selbst wenn einige Uniformen vorher gewaschen worden sind und ein paar Bienen sterben, was soll’s? Viele Angriffe werden trotzdem erfolgreich sein. Es wird ein Massensterben geben. Und die britische Armee wird gelahmt sein vor Angst.
»Sie verstehen einfach nicht, wie die Briten denken, nicht wahr?«, spottete Sherlock. In seinem Geist blitzten Erinnerungen an diverse Schulstunden auf, an das, was er – zusammengekauert auf einem Stuhl in der Bibliothek seines Vaters – in Buchern und Zeitungen gelesen oder von seinem Bruder Mycroft gehort hatte.
»Haben Sie jemals etwas von dem Todesritt der leichten Brigade gehort?«
Das Knarren und Knarzen stoppte abrupt, und plotzlich hatte Sherlock das Gefuhl, als ob viele Ohren aufmerksam seinen Worten lauschten.
»Oh, ja«, zischte der Baron. »Ich habe von dem Todesritt der leichten Brigade gehort.«
»Wahrend des Krimkrieges 1854«, fuhr Sherlock unbeeindruckt fort, »bekamen die Soldaten des 4. und 13. leichten Dragonerregiments, des 17. Ulanenregiments sowie des 8. und 11. Husarenregiments wahrend der Schlacht von Balaclava den Befehl, die russischen Stellungen anzugreifen. Sie sturmten durch ein enges Tal voran, in dem sie von vorne und von beiden Seiten russischem Kanonenfeuer ausgesetzt waren. Trotzdem sind sie einfach weitergeritten und haben, ohne in Panik zu geraten oder zu meutern, ihre Befehle ausgefuhrt. Ich behaupte nicht, dass blinder und bedingungsloser Gehorsam eine gute Sache ist, aber britische Soldaten haben praktisch ein Ruckgrat aus Eisen und die Disziplin mit der Muttermilch aufgesogen. Ich wei? das, denn mein Vater ist Offizier. Sie geraten nie in Panik. Niemals. Nein, selbst wenn es Tote gibt, wird man damit umgehen, als ware es ein gewohnlicher Cholera- oder Pockenausbruch. Verstehen Sie denn nicht?
»Gut gesprochen«, sagte der Baron. »Aber das kaufe ich dir nicht ab. Offensichtlich mochtest du daran glauben, dass euer Empire auf stabilem Felsfundament errichtet ist. Doch da irrst du dich. Die Fundamente sind morsch, und das prachtvolle Gebaude darauf wird in sich zusammenfallen, wenn man nur kraftig genug dagegentritt.
Du denkst, dass morgen noch alles so ist wie heute. Aber das wird nicht der Fall sein. Die Welt wird sich andern und das Gleichgewicht der Machte sich zu Gunsten meiner Partner in der Paradol-Kammer verschieben.«
Paradol-Kammer? Was war das? Wahrend Maupertuis weitersprach, pragte sich Sherlock den seltsamen Begriff genau ein. Konnte sich das doch noch als wichtiger und verhangnisvoller Versprecher erweisen, der Mycroft sicher brennend interessieren wurde.
Vorausgesetzt naturlich, dass sich Sherlock uberhaupt noch einmal die Gelegenheit bieten wurde, seinen Bruder wiederzusehen.
»Du mochtest daran glauben, dass dein Bruder weiterhin eine wichtige Rolle in der britischen Regierung spielen wird« fuhr Maupertuis fort. »Aber das wird er nicht. Ebenso wie der Rest seiner Kollegen wird er von der Flutwelle der Geschichte hinweggeschwemmt werden. Wenn euer aufgeblasenes kleines Land zur blo?en Provinz einer europaischen Supermacht geworden ist, die es in Gro?e und Macht mit Amerika aufnehmen kann, sind Mycroft und seinesgleichen uberflussig. Ihre Sorte Mensch wird in der neuen Weltordnung nicht mehr benotigt. Sie werden der Guillotine oder Garotte anheim gegeben und nicht uberleben.«
Maupertuis’ Stimme war mittlerweile zu einem leisen Fauchen geworden, so sehr hatte er sich in seine Gifttirade auf ein Land und ein Volk hineingesteigert, die er abgrundtief verabscheute. Warum hasste er Gro?britannien so sehr? Sherlock fragte sich unversehens, welche Taktik wohl am vielversprechendsten sein wurde. Sollte er weiterhin eher auf ein rationales Streitgesprach setzen oder den Baron so provozieren, dass dieser sein emotionales Gleichgewicht verlor?
Wie er sich auch entschied, der Ausgang war ungewiss, und aller Wahrscheinlichkeit nach wurden sie beide sterben.
»Er ist verruckt«, sagte Virginia plotzlich mit leiser, aber fester Stimme zu Sherlock. »Vollig verruckt. Es sieht