Sherlocks Schulter.
»Denny wird ’n Wortchen mit dir reden wollen«, flusterte der Mann und brachte sein Gesicht dicht vor Sherlocks. Sein Atem stank, als wurde in seinem Mund eine Leiche verwesen. »Und ich glaub nich, dass dir sehr gefallen wird, was er zu sagen hat.«
Sherlock wollte gerade antworten, als er etwas auf dem Boden des Seitentunnels wahrnahm. Der von Rauch und Dampf verschleierte Grund schien sich plotzlich zu heben und dann wellenformig auf und ab zu bewegen, als ware er ein lebendiges Wesen. Gleich darauf erkannte er, dass er damit auch gar nicht so falsch lag. Allerdings handelte es sich nicht um
Der Mann, der Sherlocks Schulter gepackt hielt, lockerte seinen Griff, als die Tiere um seine Knochel wuselten und ihn mit ihren winzigen Zahnen bissen. Fluchend schlug er mit einer seiner schaufelartigen Hande auf sie ein. Sherlock riss sich aus seinem Griff los, sturzte sich in die lebende Masse und griff nach dem Kind, das unter der wogenden Flut verschwunden war. Winzige Krallen trippelten ihm uber Arme, Beine, Kopf und Rucken.
Ein widerlicher, bei?ender Gestank wie nach altem Urin drang ihm in die Nase. Seine Finger schlossen sich um einen kleinen Arm, und Sherlock zog aus Leibeskraften. Mit weit aufgerissenen Augen und den Mund schon zum Schreien geoffnet tauchte das Madchen aus dem Rattenberg auf. »Du bist in Sicherheit«, beruhigte Sherlock sie. Er schob sie zuruck in die Arme ihrer Eltern. Dankbar rissen sie das Madchen an sich und umarmten es.
Und dann war die Rattenflutwelle uber sie hinweggezogen, mit Ausnahme von ein paar kranken und lahmen Nachzuglern. Sherlock konnte sehen, wie die Tiere in beide Tunnelrichtungen vor dem Rauch davonflitzten, der weiterhin aus dem Seitentunnel quoll. Der Schlagertyp, der Sherlock geschnappt hatte, klopfte sich immer noch verzweifelt die Kleidung ab, und unter dem Kleidungsstoff konnte Sherlock mehrere hin- und herhuschende Ausbeulungen erkennen. Wie es aussah, waren ein paar der um ihr Leben rennenden Tiere von unten in die Hosenbeine geflitzt und in ihrer Panik dann aus dieser Falle nicht mehr herausgekommen. Sherlock wandte sich ab und wollte gerade schon in Richtung des sudlichen Flussufers zurucklaufen, als ihm die beiden anderen Schlager einfielen. Hochstwahrscheinlich wurden sie oben am Schachteingang auf ihn warten. Nein, seine beste Chance bestand darin, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, und so rannte er den Tunnel hinunter auf das Nordufer der Themse zu. Schlie?lich gab es ja Brucken und Fahrleute, um wieder ans andere Ufer zu kommen. Er wurde schon zuruckfinden. Irgendwann jedenfalls.
Sherlock hastete durch den Tunnel und entfernte sich immer weiter vom Feuer. Manner in bunt zusammengewurfelten Uniformen kamen mit Wassereimern an ihm vorbeigerannt: offenbar eine freiwillige Feuerwehrtruppe, die fur die Sicherheit im Tunnel zustandig war. Er achtete nicht weiter auf sie und rannte weiter.
Schlie?lich erreichte er das Nordufer der Themse.
Der dortige Schacht samt seiner in Spiralen nach oben fuhrenden Treppenstiege war das exakte Spiegelbild seines Pendants auf der anderen Flussseite. Fast am Ende seiner Krafte stapfte er auf den Steinstufen nach oben, und auf jeder Galerieebene musste er erst einmal anhalten, um zu verschnaufen.
Aus der Dunkelheit in das Licht der Nachmittagssonne zu treten war dann, als ware er aus der Holle ins Paradies entkommen. Die Luft roch su?, und die leichte Brise war angenehm kuhl auf der Haut.
Er blieb einen Augenblick stehen und schloss die Augen, um das Gefuhl in vollen Zugen zu genie?en. So einfach und doch so perfekt.
Die Gegend am nordlichen Tunneleingang schien etwas besser zu sein als die Sudseite. An den Kais lagen dicht aneinandergedrangt Schiffe aller Gro?en, und auf den Gangways schleppten Heerscharen von vierschrotigen Hafenarbeitern emsig Guter zwischen Schiffen und Kaianlagen hin und her. Sherlock ging am Ufer der Themse an den Schiffen vorbei und hielt nach einer Brucke Ausschau, auf der er wieder auf das andere Ufer hinuberkame. Er wusste, dass mehrere Brucken uber die Themse fuhrten. Er hatte nur keine Ahnung, ob sich diese in der Nahe von Rotherhithe und dem Tunnel befanden. Aber logischerweise musste er irgendwann auf eine sto?en, wenn er lange genug weiterging. Vorausgesetzt naturlich, er ging in die richtige Richtung, sprich auf das Stadtzentrum zu. Allerdings hatte er daran kaum einen Zweifel. Denn wenn der Tunnel sich in Ostlondon befand, was ja der Fall war, und er diesen von Sud nach Nord durchquert hatte, was ebenfalls der Fall war, und er sich dann aus dem Tunnel kommend nach links wandte, musste er zwangslaufig in die richtige Richtung gehen. Das Sarbonnier Hotel, in dem Amyus Crowe ihre Zimmer reserviert hatte, lag fast direkt am Themseufer und noch dazu am nordlichen. Wenn er also weit genug lief, wurde er es vermutlich auch finden. Viel lieber jedoch wollte er eigentlich wieder uber die Themse zuruck, um Amyus Crowe und Matty Arnatt ausfindig zu machen.
Etwa eine halbe Stunde spater stie? er tatsachlich auf eine Brucke: ein riesiges Gebilde mit Zwillingsturmen aus grauem Stein auf beiden Ufern und einer gepflasterten Fahrbahn, die auf beiden Seiten von zahlreichen Laden und Standen gesaumt war. Mude schleppte er sich uber die Brucke und ignorierte das Geschrei der verschiedenen Handler, die ihm, von einem ganzen Ochsen bis hin zu einer geladenen Pistole, alles Mogliche zu verkaufen versuchten. London kam ihm immer mehr als Ort der unbeschrankten Moglichkeiten vor. Vorausgesetzt man war bereit, dafur zu zahlen.
Am Sudende der Brucke angekommen, wandte er sich wieder nach links. Er ging weiter auf Stra?en, Gassen und Wegen und setzte seinen Weg sogar ein paarmal oben auf der breiten Krone der Ufermauer fort, um ja die richtige Richtung zum Lagerhaus in Rotherhithe nicht zu verlieren, wo er Amyus Crowe und Matty zuletzt gesehen hatte. Links von ihm am Themseufer bildeten die zahlreichen in den Himmel ragenden Schiffsmasten einen dichten Wald aus schlanken Holzstammen, und vom Fluss stieg der ewig prasente Gestank menschlicher Exkremente auf. Wenn Mycroft tagein tagaus an einem solchen Ort arbeiten musste, hatte er sich allein dafur schon einen Orden verdient, dass er das uberlebte.
Ungefahr eine Meile flussabwarts von der Brucke entfernt kam Sherlock an einem Schiff vorbei, das gerade von einer Gruppe Hafenarbeiter beladen wurde. Schwitzend und fluchend versuchten sie, sperrige Holzkisten auf schragen Gangways hinaufzubugsieren, ohne die Fracht in den Fluss fallen zu lassen. Etwas an der Gro?e und der Form der Kisten machte Sherlock stutzig. Im Schutz eines benachbarten Gebaudes pirschte er sich naher heran.
Ein korpulenter Mann in marineblauer Jacke stand etwas abseits auf dem Kai. Mit prufendem Blick musterte er ein Bundel Papierblatter, das auf einem Klemmbrett fixiert war.
Mit Hilfe eines Bleistiftes, dessen Spitze er immer wieder anlecken musste, damit er funktionierte, versah er die Blatter hin und wieder mit irgendwelchen Anmerkungen.
Die Kisten waren mit denen identisch, die Sherlock auf dem Anwesen des Barons gesehen hatte. Dort, wo er gefangengehalten worden war. Aus Holzlatten konstruierte kistenformige Behaltnisse fur Bienen. Und in der Nahe standen stapelweise jene Holztabletts herum, die – wie er vor Ort gesehen hatte – unter die Kisten geschoben werden konnten. Zwar hatte man sie nun in Wachspapier eingeschlagen, aber ihre Umrisse waren unverkennbar.
Er war versehentlich mitten in die Geheimoperation des Barons hineingestolpert.
Ohne die Szene aus den Augen zu lassen, ruckte Sherlock noch naher heran und duckte sich hinter einen Kistenstapel. Einige der Bienenstocke wurden gerade auf eine Palette geladen, die daraufhin von schwitzenden Hafenarbeitern an Seilen in die Hohe gezogen wurde, um dann in den Schiffsladeraum herabgelassen zu werden. Der Himmel allein mochte wissen, wie sie die Bienen davon abhielten, in Massen uber sie herzufallen. So, wie sie es bei den beiden Unglucklichen in Farnham gemacht hatten. Vielleicht hatte der Baron ein Mittel, sie zu beruhigen.
Als Sherlock beobachtete, wie eine weitere Palette mit Kisten auf das Schiff zuschwang, riss an einer Ecke plotzlich eines der Halteseile. Die Palette kippte zur Seite und vier Bienenstocke rutschten herunter. Sich trage drehend, fielen sie herab und zersplitterten auf der steinernen Kaimauer in etliche Teile.
Von der Seite kamen augenblicklich Manner mit Zinkeimern angerannt, an die ein russelformiger Ausgie?er angebracht war. Irgendetwas in den Eimern erzeugte Rauch und dieser Rauch schien die Bienen in einen schlafartigen Zustand zu versetzen.