Ein paar Tiere entkamen, aber die meisten blieben bei den zerstorten Bienenstocken zuruck und vollfuhrten torkelnde Bewegungen, als waren sie betrunken. Geteerte Leinwandplanen wurden uber die Trummer geworfen. Dann schleifte man das Ganze uber das Pflaster, um den Inhalt schlie?lich in den schaumigen Fluten der Themse verschwinden zu lassen. Sherlocks Vermutung nach war es anscheinend so gut wie unmoglich, einen zerstorten Bienenstock wieder instand zu setzen.
»Sherlock?«
Eine sanfte Stimme rief seinen Namen. Er blickte sich von seinem Versteck aus um. Die Stimme hatte nicht wie die von Amyus Crowe geklungen. Und auch nicht wie Mattys.
»SHERLOCK?« Die Stimme klang nun eindringlicher. Erneut taxierte er die Umgebung. Plotzlich wurde er auf eine Gestalt aufmerksam, die sich wie er hinter einem Stapel Kisten versteckt hatte. Eine weibliche Gestalt.
»Virginia?«
Sie hatte ihre Reithosen an und trug eine kurze Jacke uber einer schneewei?en Leinenbluse. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm heruber. »Was machst du denn hier?«, zischte sie.
Sherlock schlupfte rasch zu ihr hinuber. »Es wurde zu lange dauern, das zu erklaren«, erwiderte er.
Sie musterte ihn von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert?«
Er dachte einen Augenblick nach. »Bin in einem Haufen Ratten herumgeschwommen. Unter anderem jedenfalls. Und was hast du mir zu erzahlen?«
Uberraschend verlegen, wandte sie den Blick ab. »Ich hatte keine Lust, einfach zuruckgelassen zu werden, wahrend ihr Kerle den ganzen Spa? habt«, flusterte sie. »Also, bin ich in meine Reitkleidung geschlupft und euch gefolgt.«
»Aber wir sind flussabwarts gefahren. In einem
Sie starrte ihn verwundert an. »In einem anderen Boot naturlich. Ich hab dem Bootsfuhrer einfach gesagt, dass er euch folgen soll. Er ist mir zuerst etwas dumm gekommen, aber ich hatte Geld dabei, das Vater mir gegeben hat, und da hat er sich wieder eingekriegt. Wahrend du das Lagerhaus beobachtet hast, habe ich dich beobachtet. Dann hab ich mitbekommen, wie einige Manner aus einer kleinen Seitentur im Lagerhaus geschlichen sind, wahrend ihr alle anscheinend nichts mitbekommen und euch nicht vom Fleck geruhrt habt. Also bin ich ihnen dann bis hierher gefolgt. Hatte sie ubrigens fast noch verloren, als sie in eine Droschke gestiegen sind, aber zum Gluck hab ich auch gleich eine erwischt.«
»Ich habe nichts von dir gesehen«, wandte Sherlock lahm ein.
»Dad hat mir all seine Fahrtensuchertricks beigebracht«, erwiderte sie stolz. »Wenn ich dich verfolge, ist ›nichts‹ genau das, was du sehen sollst.« Sie schwieg. Dann beugte sie sich vor und beruhrte kurz seinen Arm.
»Was du getan hast, war unglaublich gefahrlich«, meinte Sherlock. »Aber ich bin froh, dich zu sehen.«
Sie zuckte die Achseln. »Es war jedenfalls besser, als im Hotel auf eure Ruckkehr zu warten.«
»Aber warum bist du ausgerechnet denen gefolgt? Und nicht zu deinem Vater gegangen, um ihm zu erzahlen, was passiert ist?«
»Einfach darum eben«, sagte sie nur und fugte dann kleinlaut hinzu: »Na ja, eigentlich weil ich seine Spur verloren hatte.«
»Aber ein Madchen … allein … im Londoner East End …« Er brach ab, unsicher, wie er den Satz zu Ende bringen sollte. »Hier laufen ein paar ziemlich uble Kerle rum …«, fing er schlie?lich wieder an. Und dann erzahlte er, was ihm an diesem Nachmittag alles passiert war, und berichtete auch von dem erstochenen Mann und dem Brand in den Tunneln.
Es war eine gro?e Erleichterung, daruber zu sprechen. Aber gleichzeitig war sich Sherlock daruber im Klaren, dass er in todlicher Gefahr geschwebt hatte und er immer noch nicht wusste warum.
»Wir konnen nicht zulassen, dass sie damit durchkommen«, sagte Virginia, als er zu Ende erzahlt hatte. »Du bist nur ein Kind. Die hatten dich umbringen konnen.«
»Du bist auch nur ein Kind«, protestierte Sherlock lahm.
Virginia lachelte. »So hab ich’s nicht gemeint«, erwiderte sie. »Was ich sagen wollte, ist, dass wir eigentlich nicht in so etwas hineingezogen werden sollten.«
»Aber das sind wir nun mal«, unterstrich Sherlock. »Und was immer da auch vor sich geht:
»Okay, ich bin bereit. Ich hab was gefunden, um mich perfekt als Junge zu verkleiden«, sagte Virginia stolz und zog eine Kopfbedeckung unter der Stelle hervor, wo sie gerade hockte. Es handelte sich um eine Schirmmutze aus Stoff. Sie hielt mit einer Hand die Haare hinter dem Kopf zusammen und lie? mit der anderen die Mutze darubergleiten. Mit den verborgenen Haaren und der zugeknopften Jacke konnte sie tatsachlich gut als Junge durchgehen, fand Sherlock. Und naturlich hatte sie ja au?erdem noch ihre Reithosen an. Madchen hingegen trugen Kleider, keine Reithosen. Niemand, der sie nicht kannte, wurde den geringsten Anlass haben, misstrauisch zu werden.
»Da wir nun schon mal zusammen hier sind«, sagte Sherlock, »sollten wir die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wohin dieses Schiff fahrt.« Er hielt nach dem Mann Ausschau, den er zuvor gesehen hatte. Dem Mann mit den Papierblattern auf dem Klemmbrett. »Ich glaube, der Mann da druben ist der Lade- oder Kaimeister oder so was. Den konnen wir fragen.«
»Einfach so?«
»Dein Vater hat mir ein paar gute Tipps beigebracht, wie man Fragen stellt.«
Sherlock blickte sich um und wartete, bis niemand in ihre Richtung sah. Dann fuhrte er Virginia aus ihrem Versteck und schlenderte mit ihr zusammen auf dem Kai entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo sie sich auf die Steinmauer setzten, die das Themseufer saumte. Er verspurte ein Prickeln im Nacken, normalerweise ein untrugliches Zeichen dafur, dass er beobachtet wurde. Aber er zwang sich dazu, das Gefuhl zu ignorieren. Denny war mittlerweile vermutlich bei einem Doktor oder Wundarzt, vorausgesetzt, dass sein Kiefer wirklich gebrochen war. Und was die anderen Manner anbelangte, so standen die Chancen ziemlich gut, dass sie gar nicht einen so genauen Blick auf ihn hatten werfen konnen. Jedenfalls nicht so genau, dass sie in der Lage gewesen waren, ihn von anderen Kindern zu unterscheiden. Vor allem jetzt, da er uber und uber mit Dreck, Ru?, Rattenhaaren und allen moglichen anderen Dingen bedeckt war, die er sich lieber nicht genauer ausmalen wollte. Sie sa?en eine gute halbe Stunde lang auf der Mauer, plauderten zwanglos uber dieses und jenes und wurden allmahlich zu einem Teil der Umgebung. Schlie?lich hatte der Lade- oder Kaimeister, oder was auch immer er war, seine Arbeit am Schiff erledigt und schickte sich an, in ihre Richtung zuruckzugehen. Als er an ihnen vorbeikam, blickte Sherlock auf und sagte: »Hey, Boss. Gibt’s hier im Hafen Chance auf Arbeit?«
Der Mann musterte geringschatzig Sherlocks hagere Gestalt. »Komm in funf Jahren wieder, Sohn«, sagte er in nicht ganz unfreundlichem Ton. »Sieh zu, dass du ein paar Muskeln auf dein durres Gerippe kriegst.«
»Aber ich muss aus London verschwinden«, flehte Sherlock eindringlich. »Ich kann hart arbeiten. Ehrlich. Kann ich wirklich.«
Er zeigte auf das Schiff in der Nahe. »Was ist denn mit denen? Die sehen aus, als hatten se zu wenig Leute.«
»Haben sie«, bestatigte der Mann. »Heute Nachmittag sind drei zu wenig gekommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du fur einen von denen einspringen kannst. Und au?erdem: Der Kahn wird dich nicht sehr weit aus London fortbringen.«
»Warum nicht?«, fragte Sherlock.
»Der segelt nur nach Frankreich und dann gleich wieder zuruck. Kein Landgang fur die Crew.« Er lachte. »Wenn du dich fur ’ne Weile verkrumeln mochtest, tret’ doch in die Navy ein. Oder hang hier einfach lange genug rum, bis eins ihrer Presskommandos kommt und dich fortschleppt.«
Immer noch lachend zog er davon.
»Frankreich«, sagte Sherlock fasziniert. »Interessant.«
»Wie ich hore, wollt ihr euch unserer Crew anschlie?en«, rief eine Stimme vom Bug des Schiffes aus. Sherlock verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte in eine andere Richtung. Aber die Stimme sprach weiter: »Warum kommst du mit dem Madchen nicht einfach an Bord? Ja, wir wissen namlich, dass es ein Madchen ist. Haben euch beobachtet, seit ihr hier aufgetaucht seid. Was denn? Habt ihr etwa gedacht, ihr waret unsichtbar?«
Sherlock blickte den Kai entlang zu der Stelle, wo der Lademeister stehengeblieben war und zu ihnen zuruckblickte. Sein Gesichtsausdruck war mitleidig, aber entschlossen. Von ihm war keinerlei Hilfe zu