Es gab zwei Arten von Reitern. Schwere Reiter begingen ihre Beutezuge im hellen Tageslicht, wahrend die leichten Reiter den Schutz der Dunkelheit vorzogen. Die Jagdgrunde dieser Banden waren am Fluss ankernde Schiffe. Sie nutzten Ebbe und Flut und das Mondlicht, spahten geeignete Frachtkahne und Leichter aus, kappten die Taue und lie?en die Schiffe stromabwarts treiben und an einem geeigneten Landeplatz stranden. Dort entluden sie die Fracht und ubergaben sie Hehlern zur Verteilung und zum Verkauf. Fur Manner mit starken Nerven und den richtigen Verbindungen war das ein gutes Geschaft.
»Warum hat er den Spitznamen ›Ahle‹?«, fragte Hawkwood.
»Wegen seiner Art, mit Leuten umzugehen, die ihm in die Quere kommen. Er verpasst ihnen ein Merkmal, er zeichnet sie. Ja, so konnte man es nennen …«
Hawkwood wartete.
»Die meisten Manner tragen ihren Streit mit den Fausten oder einer Klinge aus«, fuhr Jago fort und deutete auf den Nebentisch. »Scully jedoch benutzt eine Ahle. Das ist eine schreckliche Waffe, wenn sie in die falschen Hande gerat.«
Dieser Erklarung hatte es nicht bedurft, denn Hawkwood kannte alle Arten von Waffen, mit denen Gewalttater ihren Mitmenschen – egal, ob Mannern, Frauen oder Kindern – schwere Korperverletzungen zufugten. Der Seemann Scully war nur ein weiteres Strandgut, das die Flut in die Elendsviertel der Hauptstadt geschwemmt hatte: Entwurzelte, brutale Typen, die fur ihre Zwecke vor keiner Methode der Einschuchterung zuruckschreckten.
»Scully hasst jede Form von Autoritat«, erklarte Jago weiter. Er hatte sichtlich Gefallen an diesem Thema gefunden. »Wie es hei?t, wollte er alle Offiziere der
Jago leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch. »Soll ich noch mal nachschenken?«
Hawkwood schuttelte den Kopf. »Es wird Zeit aufzubrechen. Ich will deine Gastfreundschaft nicht uberstrapazieren.«
»Ohne Begleitung lasse ich Sie nicht gehen«, warnte Jago. »Drau?en ist es schon dunkel. Da ist es gefahrlich, durch die Gassen zu irren. Schlie?lich wei? man nie, wer einem begegnet. Und ich wurde meines Lebens nicht mehr froh, sollte Ihnen was zusto?en«, fugte der Exsergeant augenzwinkernd hinzu.
Dann trat Jago ans Gelander und winkte jemandem in der Schanke unten zu. Aus dem Zuschauerkreis am Hunde-Pit loste sich eine kleine Gestalt und stieg die Treppe hoch. Erst bei naherem Hinsehen erkannte Hawkwood, dass es sich dabei nicht um Jenny, sondern um einen kleinen, zaundurren Wuschelkopf handelte, der ihm bekannt vorkam. Tatsachlich war es der Junge, der Major Lawrence so geschickt die Taschenuhr geklaut hatte. Irgendwo zwischen Witwe Gants Absteige und der Bridewell-Besserungsanstalt war Tooler, dem Taschendieb, wohl die Flucht gelungen.
Tooler grinste Hawkwood frech an, tippte sich mit den Fingern an die Schlafen, als wurde er salutieren, und sah dann Jago erwartungsvoll an.
Ich werde mir Constable Rafferty vorknopfen und ein ernstes Wort mit ihm reden, dachte Hawkwood grimmig.
Jago legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Du bringst ihn sicher nach Hause, Tooler. Den ganzen Weg, horst du? Ich will nicht, dass du plotzlich verschwindest und er Raubern und anderen Taugenichtsen in die Hande fallt. Kapiert?«
Tooler nickte gehorsam.
»Und dann kommst du schnurstracks wieder hierher. Trodle nicht rum, und steck deine klebrigen Finger nirgends rein, wo sie nicht hingehoren, zum Beispiel in die Taschen anderer Leute. Kapiert?«
Hawkwood merkte, dass Jago sich in dieser gonnerhaften Pose gefiel, weil er sich in ubertriebenen Ermahnungen erging. An seiner Stelle hatte ich diese Situation wohl auch ausgenutzt, dachte er sich.
»Passen Sie auf sich auf, Cap’n«, sagte Jago und streckte die Hand aus.
»Und du auf dich, Nathaniel«, entgegnete Hawkwood und druckte fest Jagos Hand. Dieser Handedruck druckte die nach wie vor innige gegenseitige Freundschaft aus und besiegelte auch Jagos stillschweigendes Versprechen, irgendwelche Informationen uber den Raububerfall auf die Kutsche, die ihm zu Ohren kommen sollten, an den Captain weiterzuleiten.
Jago sah Hawkwood und dem Jungen nach, als die beiden sich durch die Menge in der Schanke drangten. Und kaum war der hochgewachsene Runner aus der Tur, entspannte sich die Atmosphare im Keller merklich.
Jetzt erhoben sich zwei der Manner am Nebentisch.
»Bleib, wo du bist, Asa Hawkins«, knurrte Jago warnend.
»Und du auch, Will Sparrow. Mir schwant, dass ihr Boses im Schilde fuhrt, Jungs. Habe ich Recht, Ahle? Vielleicht wollen deine Jungs meinem Freund irgendwo auflauern?«
»Nein, wir gehen nur pinkeln, Jago«, wimmerte Hawkins.
»Und Sparrow soll ihn wohl dabei halten und hinterher ausschutteln, wie? Setzt euch. Eine Weile konnt ihr bestimmt noch warten. Und was ist mit dir, Ahle? Verspurst du auch ein dringendes Bedurfnis?«
»Du haltst dich wohl fur verdammt schlau, was, Jago?«, stie? Scully mit wildem Blick hervor. »Dieser Schei?kerl ist ein Runner. Er hat hier nichts verloren. Wei?t du eigentlich, wie viele von uns er schon hopsgenommen hat?«
»Kann ich nicht auf Anhieb sagen«, entgegnete Jago. »Aber jeder, der blod genug ist, sich erwischen zu lassen, hat es wohl verdient. Willst du deshalb diese Idioten hinter ihm herschicken? Damit sie ihm eine Abreibung verpassen? Die Drecksarbeit uberlasst du wohl lieber anderen, wie? Vielleicht hatte ich deine Speichellecker nicht zuruckhalten sollen. Ihnen ware eine heilsame Lehre erteilt worden.«
»Wir waren schon mit ihm fertig geworden«, prahlte Sparrow, der schmachtigere von beiden. »Mit links.«
Jago betrachtete Sparrow mitleidig. »Dass ich nicht lache! Ihr hattet keine Chance gehabt. Glaubt mir, ich habe euch einen Gefallen getan.«
»Zwei gegen einen, pah!«, hohnte Scully.
Jago versteifte sich. »Ja, aber lass dir was uber diesen einen erzahlen, Ahle. Er war Soldat, ein Offizier im 95. Rifles Regiment. Von denen hast du doch schon gehort, oder? Das harteste Regiment der ganzen verdammten Armee. Er hat mehr Manner getotet als du Halbe Bier geschluckt hast. Und er war der beste Offizier, unter dem ich je gedient habe. Hast du die Narbe unter seinem Auge gesehen? Die hat er vom Sabel eines franzosischen Husars. Der Hieb hat eigentlich mir gegolten, aber er ist dazwischengegangen. Das allein macht ihn zu einem Mann, der du nie sein wirst, Ahle. Solange er sich also unter diesem Dach aufhalt, steht er unter meinem Schutz. Hast du das kapiert, Ahle? Und jeder hier, der anders daruber denkt, kriegt’s mit mir zu tun!« Jago umfasste mit der rechten Hand seinen Knuppel aus Schlehdornholz. »
Die Manner am Tisch rutschten unruhig auf ihren Stuhlen herum. Alle, bis auf Scully, dessen Augen schwarz und hart wie Stein wurden. Der kahle Schadel und das pockennarbige Gesicht verliehen ihm ein furchterregendes Aussehen. Er schnellte so abrupt hoch, dass sein Stuhl auf den Boden krachte. Durch die plotzliche Bewegung und den Larm aufgeschreckt, sprang der scheckige Hund auf und knurrte bosartig. Scully loste die lederne Hundeleine vom Tischbein.
»Eines Tages, Jago, werden wir unter vier Augen ausmachen, wer der Konig im Schloss ist.« Dann riss Scully hart an der Leine, wandte sich ab und ging zu dem Hunde-Pit in der Schanke hinunter.
Jago sah ihm nach und murmelte: »Jederzeit, Ahle. Jederzeit.«
6
Ich schicke Sie, Hawkwood, weil sonst niemand zur Verfugung steht«, sagte James Read und sah von seinem Schreibtisch auf. »Au?erdem dachte ich, Sie wurden sich uber die Abwechslung freuen.«
Hawkwood erkannte an der entschlossenen Miene des Obersten Richters, dass es zwecklos war, ihm zu widersprechen.
Die Abwechslung, wie Read sie genannt hatte, war ein Ball im Stadtpalais von Lord Mandrake. Bei