Lightfoot versteifte sich und warf einen Blick ubers Deck. Der Matrose schnarchte noch immer in seiner Hangematte.

»Warte hier!«, befahl er dem Jungen.

Dann ging er zur Kapitanskajute und sah Licht hinter der Tur brennen. Er klopfte leise.

»Herein!«

Sie sa? an dem kleinen Tisch und las in einem Buch. Als er eintrat, blickte sie auf und fragte: »Ja, was gibt’s?«

Das Haar fiel ihr lose auf die Schultern. Das tief geschnittene Dekolletee ihres Kleides spannte sich uber ihrem uppigen Busen. Ihre Haut schimmerte im Licht der Laterne. Lightfoot schluckte. »Da ist ein Junge. Er sagt, er habe eine Nachricht fur Sie.«

»Eine Nachricht?«, fragte sie und runzelte die Stirn.

»Ja, einen Zettel. Er will nicht unter Deck kommen, aber er soll Ihnen die Nachricht personlich ubergeben. Er betont, es sei wichtig.«

Eine kleine Luge schadet schlie?lich nicht, dachte Lightfoot. Er nahm ihr Umhangetuch vom Haken an der Tur und reichte es ihr zitternd.

Die junge Frau erhob sich, legte sich das Tuch um die Schultern und ging vor Lightfoot aus der Kajute.

Der Junge wartete jetzt unter der Laterne am Mast.

»Du hast eine Nachricht fur mich?«, fragte die Frau und schlang das Tuch enger um sich.

Der Junge hielt den Zettel hoch, kam aber nicht naher. »Ich soll Ihnen das geben …«

Sie ging zu ihm hin und streckte ihre Hand aus. Der Junge reichte ihr den Zettel und trat aus dem Licht.

Sie glattete das Papier und las es unter der Laterne. Darauf stand ein einziger Satz: Willkommen in der Holle.

Die Gewehrkugel durchbohrte Gabrielle Marceaus rechtes Auge, schleuderte ihren Kopf nach hinten und trat an der Ruckseite ihres Schadels wieder aus. Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse spritzten umher. Als sie zusammenbrach, fiel ihr der Zettel aus der Hand und flatterte gleich einem taumelnden Schmetterling aufs Deck.

Lightfoot und der Junge standen neben der Toten. Dann buckte sich Lightfoot, hob den Zettel auf und steckte ihn in seine Tasche. »Mach dich aus dem Staub und vergiss, was du hier gesehen hast«, sagte er zu dem Jungen.

Tooler drehte sich wortlos um, rannte uber die Gangway und verschwand in der Dunkelheit. Vollig ungeruhrt betrachtete Lightfoot die Tote. Im Licht der Laterne sah die Blutlache unter ihrem Korper aus wie schwarzer Teer.

Dann richtete sich Lightfoot auf und lief zum Vorderdeck. Nicht einmal der laute Schuss hatte den schnarchenden Matrosen geweckt.

Lightfoot holte tief Luft, schuttelte den Mann und schrie: »Mord! Mord!«

Der Schrei hallte weit uber den Kai.

Im zweiten Stock eines aufgelassenen Lagerhauses in zweihundert Metern Entfernung kniete Nathaniel Jago vor einem offenen Fenster, der Lauf des Baker-Gewehrs ruhte auf seiner Schulter. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. Pulverdampf umwehte seinen Kopf wie Tabakqualm.

»Exzellenter Schuss.«

Hawkwood senkte das Gewehr. Da seine Schulter noch immer schmerzte und die Muskeln zu schwach waren, hatte er Jagos Schulter als Stutze fur den Lauf benutzt. Er wickelte das Gewehr in das Wachstuch ein.

»Das hat Tooler gut gemacht«, murmelte Jago.

»Und Jeremiah auch«, sagte Hawkwood.

Die beiden Manner stiegen die Treppe hinunter und traten auf den Kai hinaus. Als sie eilige Schritte horten, wichen sie schnell in den Schatten zuruck. Der Matrose lief an ihnen vorbei. Bald wurde er in Begleitung der Constables zuruckkommen.

»Der Oberste Richter wird wissen, dass Sie es waren«, sagte Jago und ging neben Hawkwood den Kai entlang.

»Er wird mich in Verdacht haben«, entgegnete Hawkwood.

»Aber das spielt keine Rolle. Hauptsache, dieses Miststuck ist tot. Au?erdem habe ich ein Alibi.«

»Stimmt. Wir beide haben im Blue Swan gezecht. Wird der Richter mir, einem ausgemachten Schurken und Deserteur, denn glauben?«

»Was glaubst du, Schurke? Richter Read hat mit seinen Verbindungsleuten bei der Gardekavalleriebrigade gesprochen und erreicht, dass du begnadigt wirst. Also bist du ganz offiziell kein Deserteur mehr, sondern eine Stutze der Gesellschaft.«

»Klar«, sagte Jago grinsend. »Und Sie sind der Kaiser von China.«

Hawkwood betrachtete seinen Freund lachelnd. »Es ist wahr, Nathaniel. Du musst dich nicht mehr vor der Militarpolizei verstecken.«

»Klingt langweilig«, meinte Jago. »Was war denn das fur ein Leben?«

»Du konntest ja bei mir mitmachen«, sagte Hawkwood. »Da Henry Warlock leider nicht mehr lebt, ist die Stelle eines Special Constables frei geworden.«

Jago blieb abrupt stehen. »O verdammt! Ich soll ein Runner werden? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Oder sind Seine Ehren auf diese Idee gekommen?«

»Er hat es vorgeschlagen und mich gebeten, dich zu fragen.«

»Ach, tatsachlich? Hat ihm jemand aufs Hirn geschlagen oder reingeschissen?«

»Das Angebot steht.«

Jago schuttelte unglaubig den Kopf und fragte dann: »Wie steht’s denn mit der Bezahlung?«

Als Hawkwood die Summe nannte, fing Jago an zu lachen. Hawkwood grinste und stimmte dann in das Gelachter ein.

Als sie das Ende des Kais erreichten, lachten die beiden noch immer. Ihr Gelachter hallte durch die Nacht, und die Dunkelheit legte sich wie ein schutzender Mantel um sie.

Geschichtlicher Hintergrund

Nach Bonapartes Staatsstreich im November des Jahres 1789 unterbreitete der amerikanische Wissenschaftler und Erfinder Robert Fulton dem inzwischen zum Ersten Konsul und somit zum Militardiktator avancierten General an der Spitze der franzosischen Republik den Plan, ein Unterseeboot mit dem Ziel zu konstruieren, die britische Marine vollstandig zu vernichten. Da sein Angebot positiv beschieden wurde, konstruierte Fulton in den Perrier-Werkstatten den ersten Prototyp seines neuartigen Schiffs. Er nannte es Nautilus und im Juni 1800 bestand das Boot seine Testfahrt in der Seine.

Trotz des positiven Ergebnisses finanzierten die Franzosen dieses Projekt nicht weiter. Sie argumentierten mit der Begrundung, es handle sich dabei um eine zu entsetzliche Waffe gegen einen arglosen Feind. Doch inzwischen hatte die britische Regierung von diesem neuen Kriegsgerat erfahren und schickte Agenten aus, die Fulton uberzeugen sollten, fur England zu arbeiten. Aus Enttauschung uber die Franzosen wechselte Fulton die Seiten und traf im April 1804 in England ein.

Eine Sonderkommission wurde gebildet, deren einzige Aufgabe darin bestand, Fultons Unterseeboot sowie seine Unterwasserbomben, die so genannten Torpedos, auf seine Tauglichkeit zu prufen. Auch diese Tests waren erfolgreich, und sie endeten mit der Zerstorung der Brigg Dorothea, die vor der Kuste in Walmer Roads, in der Nahe von Dover, lag.

Doch nach Nelsons triumphalem Sieg uber die Franzosen und Spanier bei Trafalgar im Jahre 1805 glaubten die Briten ihre Seeherrschaft endgultig gesichert und verzichteten auf die Weiterentwicklung von Fultons Boot. Fulton kehrte au?erst emport in die Vereinigten Staaten zuruck und sandte 1811 einen Vertreter nach Frankreich in dem Bemuhen, Kaiser Napoleon noch einmal zu veranlassen, seine Waffe gegen die Briten einzusetzen.

Viele Personen in meinem Roman haben wirklich gelebt, so die Mitglieder der Admiralitat – mit Ausnahme des erfundenen Admirals Dalryde – und die Mitglieder der Sonderkommission, deren Aufgabe es war, Fultons

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