»Warum nicht, verdammt noch mal?«
»Weil uns der Mistkerl zuvorgekommen ist«, fauchte der Colonel.
Hawkwood sah den Richter fragend an.
»Der Admiral hat sich heute Morgen in seiner Zelle erhangt.«
»Oh, verdammt! Und was ist mit Mandrake? Sagen Sie blo? nicht, dass auch er dem Henker entwischt ist.«
James Read legte seine Hande flach auf den Schreibtisch und stand auf. »Mylord Mandrake ist in Liverpool an Bord eines Schiffs gegangen und befindet sich auf dem Weg nach Amerika. Ich furchte, Runner Lightfoot wird mit leeren Handen zuruckkommen.«
Hawkwood traute seinen Ohren nicht. Und er musste noch eine Frage stellen, die offen im Raum stand: »Und was ist mit dieser Frau?«
»Oh,
»Also«, hakte Hawkwood ungeduldig nach. »Wer, zum Teufel, ist sie?«
James Read runzelte nur die Stirn.
»Ich nehme an, sie ist nicht die Marquise de Varesne.«
»Ah«, sagte der Richter und nickte bestatigend. »Ihre Annahme ist korrekt. Die Lady hei?t Gabrielle Marceau, und sie ist gewiss keine Aristokratin – obwohl sie ihre Rolle perfekt gespielt hat. Sie ist, oder vielmehr war, ein Dienstmadchen.«
»Ein
»Ja, bei der richtigen Marquise. Deshalb konnte sie auch in deren Rolle schlupfen. Ihre Familie steht schon seit Generationen im Dienst der Varesnes. Gabrielle Marceau war einst die Spielgefahrtin der Tochter des Marquis. Die beiden waren etwa gleichaltrig, und Gabrielle hat eine verbluffende Ahnlichkeit mit Catherine. Und diese Ahnlichkeit nutzte das Direktorium und spater Napoleons Geheimdienst zu seinem Vorteil.«
»Und was ist mit der richtigen Catherine?«
Das Gesicht des Richters verhartete sich. »Wie ihre Mutter, ihr Vater und ein jungerer Bruder wurde sie durch die Guillotine hingerichtet. Die ganze Familie ist diesem Terror zum Opfer gefallen. Deshalb konnte Gabrielle Marceau diese Rolle auch so lange spielen. Aus gewissen Quellen habe ich erfahren, dass sie bei ihren Auftraggebern hohes Ansehen genie?t.«
»Wie schade, dass Ihre Quellen Sie nicht fruher daruber aufgeklart haben«, sagte Hawkwood. »Das hatte uns eine Menge Arger erspart.«
Der Oberste Richter nickte. »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.«
»Und niemand hat diese Tauschung bemerkt?«
»Alle, die die Familie Varesne gekannt haben, sind tot. Und wer hinter ihr Geheimnis gekommen ist, wurde eliminiert. Gabrielle Marceau steht unter hochstem Schutz. Sie ist … war eine ihrer besten Agenten und hat Napoleons Geheimdienst die Namen der Sympathisanten der Bourbonen, geplante Attentate und Invasionen verraten. Und sie wurde in hochste Kreise eingeschleust, um Lees Angriff auf die
»Und jetzt sitzt sie im Gefangnis.«
»Ja«, sagte James Read.
»Und wird am Galgen enden.«
Wieder schuttelte der Oberste Richter zu Hawkwoods Erstaunen den Kopf.
»Aber sie steckte doch nicht nur mit Lee unter einer Decke! Dieses miese Flittchen hat zwei Menschen ermordet! Sie hat den Wachmann auf der Kutsche erschossen und Master Woodburn erstochen!«
Der kaltblutige Mord an Josiah Woodburn hatte Hawkwood mehr erschuttert, als er sich eingestehen wollte. Lee hatte zwar gesagt, er wolle Hawkwoods Leichnam nicht im Lagerhaus zurucklassen, damit keine Verbindung zwischen Lord Mandrake und ihm hergestellt werden konne. Deshalb hatte er den Runner im Unterseeboot mitgenommen. Gabrielle Marceau hingegen hatte diesbezuglich keine Bedenken gehabt und den Leichnam im Lagerhaus liegen gelassen.
James Read erlauterte, welches Motiv seiner Meinung nach hinter dem Mord an Master Woodburn steckte.
»Gabrielle Marceau wusste, dass Lord Mandrake unter Verdacht steht, und dass Sie nicht zufallig im Lagerhaus aufgetaucht sind. Und da Sie in Lees Gewalt waren, hielt sie ihre Mission wohl fur beendet. Master Woodburn war ihr im Weg und hatte womoglich ihre Flucht gefahrdet. Er war ihr lastig. Deshalb musste er beseitigt werden.«
Es war entsetzlich, diesen Gedankengang nachzuvollziehen, aber er machte Sinn.
Da dammerte Hawkwood die schreckliche Wahrheit. Als Lee ihn gezwungen hatte, an Bord des Unterseeboots zu gehen, hatte Josiah Woodburn versucht, ihm mit Blicken eine Botschaft zu ubermitteln. In diesem Augenblick war dem Uhrmacher klar gewesen, dass auch er zum Tode verurteilt war. Denn nur Hawkwood und er wussten von Lord Mandrakes Verrat.
James Read legte Hawkwood die Hand auf den Arm – ein fur den Richter ungewohnt spontaner Ausdruck des Mitgefuhls – und sagte beruhigend: »Machen Sie sich keine Vorwurfe. Sie konnten es nicht verhindern.«
»Ich habe ihn einfach zuruckgelassen …« Hawkwood rang um Fassung.
»Master Woodburn hat gewusst, dass Sie ihm nicht helfen konnten«, sagte der Oberste Richter und seufzte. »Er war ein sehr tapferer Mann.«
Die Ermordung des Uhrmachers und die Wut, dass er auf die infame Intrige der falschen Catherine de Varesne hereingefallen war, schurten in Hawkwood einen heiligen Zorn. Er schwor sich, alle daran Beteiligten, vor allem diese falsche Schlange, zur Rechenschaft zu ziehen.
Um seine druckenden Schuldgefuhle etwas zu lindern, hatte Hawkwood noch einmal das Haus des Uhrmachers besucht. Er hatte sich diesen Weg ersparen konnen, denn James Read hatte dem Hauspersonal die Nachricht vom Tod Josiah Woodburns bereits uberbracht. Diese schwere Pflicht hatte der Oberste Richter keinem seiner Mitarbeiter ubertragen wollen. Doch seitdem hatte die Schuld schwer auf Hawkwood gelastet, dass er den Mord an Master Woodburn nicht hatte verhindern konnen. Er furchtete sich nicht so sehr vor der Reaktion der Hobbs, sondern hatte Angst, der Enkelin des toten alten Mannes in die Augen sehen zu mussen.
Die Hobbs hatten mit vor Trauer gezeichneten Gesichtern Hawkwood ins Haus gebeten. In dem Augenblick, als er uber die Turschwelle getreten war, hatte er die Stille wahrgenommen und gespurt, dass Elizabeth nicht da war. Ob er daruber erleichtert gewesen war, wusste er nicht mehr.
»Elizabeth lebt jetzt bei ihrer Tante in Sussex«, hatte Mrs. Hobbs ihm gesagt. »Ihr Onkel ist dort Vikar einer kleinen Gemeinde au?erhalb von Rottingdean. Sie haben eine gleichaltrige Tochter. Wir hielten es fur richtig, Elizabeth der Obhut des Vikars anzuvertrauen, bis die Familie die Angelegenheiten des Masters geregelt hat.« Mr. Hobb hatte traurig genickt und hinzugefugt: »Eine schreckliche Sache, Officer Hawkwood. Eine Tragodie. Die Morder werden doch ihre gerechte Strafe bekommen, nicht wahr?«
»Ja«, hatte Hawkwood versprochen. »Dafur sorge ich personlich.«
Davon war er zu diesem Zeitpunkt uberzeugt gewesen.
Noch immer in Gedanken versunken, hatte er beinahe uberhort, was der Richter sagte.
»Sie wird ausgetauscht.«
»
»Gabrielle Marceau ist Napoleons beste Agentin in England. Das konnen wir zu unserem Vorteil nutzen. Wir beabsichten, sie gegen britische Agenten in franzosischer Gefangenschaft auszutauschen. Erste Sondierungsgesprache finden bereits statt. Die Franzosen werden funf unserer Manner freilassen, sobald Mademoiselle Marceau an Bord eines Schiffs nach Calais ist. Das ist ein hervorragendes Abkommen.
Ich wei?, was Sie denken, Hawkwood«, fuhr James Read mit ungewohnlich ruhiger Stimme fort. »Wir befinden uns im Krieg, und viele gute Manner haben bereits ihr Leben lassen mussen: der Wachmann, Officer Warlock, Master Woodburn … Aber hier gilt es, nationale, das hei?t politische, Interessen zu wahren. Um diesen Konflikt beizulegen, mussen beide Seiten Zugestandnisse machen und diplomatische Kanale offen halten. Doch Napoleons Befehl, die