Der Arzt verstaute die Instrumente wieder in seiner Arzttasche, lachelte und beruhigte den Obersten Richter.

»Die Bauchwunde ist nur oberflachlich, und die Stichwunde habe ich bestmoglich gesaubert. Mehr kann ich fur den Patienten im Augenblick nicht tun. Doch er ist kraftig und wird sich schnell erholen.«

Erleichtert nickte James Read und sagte: »Danke, Doktor.«

Als der Arzt durch die Tur ging, rausperte sich Kommissar Dryden diskret. »Wurden Sie mich bitte entschuldigen, Gentlemen. Ich muss mich jetzt um meine Werft kummern. Wahrscheinlich haben Sie auch noch etwas unter vier Augen zu besprechen …« Dann lachelte er beinahe schuchtern und sagte zu Hawkwood: »Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir.« Jago nickte er nur kurz zu. Dann folgte er dem Arzt nach drau?en.

Jago und der Corporal hatten Hawkwood in Kommissar Drydens Haus getragen. Der Kommissar hatte seinen Arzt gebeten, Hawkwood zu untersuchen und zu verbinden.

»Er ist ein ausgezeichneter Mediziner«, hatte Dryden dem Richter versichert, »und hat unter Collingwood auf der Dreadnought gedient.«

Als auch Dryden weg war, betrachtete James Read seinen Runner. Er lachelte – was er nur selten tat – und sagte: »Wie schon, Sie wieder in unserer Mitte zu sehen.«

Hawkwood sah sich in dem lichtdurchfluteten Zimmer um. Das Dienstmadchen hatte die Vorhange zuziehen wollen, aber er hatte gebeten, es nicht zu tun. Er sehnte sich nach Sonne und Warme, seit er mit knapper Not dem kalten nassen Grab entkommen war. Die letzten Minuten in der Narwal waren die schrecklichsten in seinem Leben gewesen. Den Kopf in dem uberfluteten Turm schon unter Wasser, hatte er fast aufgegeben, bis ihm plotzlich Lees Worte eingefallen waren: Dann halten wir die Luft an und beten.

Also hatte Hawkwood in dem stockfinsteren Turm die Luft angehalten und gebetet, dass er die Luke offnen konne, bevor er ertrinken wurde. Er hatte verzweifelt mit einer Hand nach dem Riegel getastet, wahrend ihn die eisige Kalte fast lahmte. Im letzten Augenblick hatte der Riegel nachgegeben und er sich durch die Luke zwangen konnen, Luft und Licht entgegen.

Als Hawkwood nicht auf James Reads freundliche Worte reagierte, machte sich der Richter Sorgen und fragte: »Haben Sie Schmerzen?«

»Ich war mit meinen Gedanken bei Lee«, sagte Hawkwood. »Ich konnte ihn nicht daran hindern, die Thetis zu zerstoren.«

James Read schwieg und schaute zu Jago, der den Blick erwiderte.

»Was ist denn?«, fragte Hawkwood irritiert.

»Hat er nicht«, sagte Jago.

»Was hat er nicht?«

»Er hat die Thetis nicht in die Luft gesprengt«, sagte James Read.

»Naturlich hat er es getan«, widersprach Hawkwood. »Ich habe doch die Detonation gehort. Und ich habe das Wrack gesehen, als Jago mich ans Ufer brachte.«

Der Oberste Richter schuttelte den Kopf. »Nein. Lee hat ein Schiff in Trummer gelegt, aber nicht das Schiff.«

Hawkwood zweifelte an seinem Verstand. Doch Jago grinste breit. Er starrte die beiden Manner entgeistert an.

»Sie haben die Schiffe ausgetauscht, Cap’n«, sagte Jago.

»Diese durchtriebenen Mistkerle haben die Schiffe ausgetauscht.«

Hawkwood schloss kurz die Augen. Als er sie wieder offnete, war Jago noch immer da. Er grinste noch immer.

Jago sah den Obersten Richter an. »Also? Erzahlen Sie’s ihm, oder soll ich das tun?«

»Dieses Vergnugen will ich Ihnen nicht nehmen, Sergeant.«

James Read lachelte.

»Na, dann rede endlich!«, drangte Hawkwood.

»Also gut«, willigte Jago ein. »Es war nicht die Thetis, die Lee in die Luft gejagt hat, sondern ein abgetakeltes Schiff.«

»Ein was?«

»Ein altes, ausgemustertes Schiff mit einem Mastkran. Es wird auch Arbeitspferd genannt. Keiner kennt mehr seinen Namen, weil es wahrscheinlich schon vor unserer Geburt im Einsatz

war … Na ja, bevor Sie geboren wurden, auf jeden Fall. Also, wo war ich stehen geblieben? Ah, ja … so haben sie’s gemacht.«

»Die Kunst der Tauschung, Hawkwood. Etwas verbergen zu konnen, was man deutlich sieht …« Der Oberste Richter schritt zum Fenster und blickte auf die Werft hinaus, wo die Arbeit nach diesem aufregenden Morgen wieder ihren normalen Lauf nahm. »Das war die einzig logische Losung unseres Problems, weil wir nicht sicher waren, ob es Ihnen gelingen wurde, Lee aufzuhalten. Also beschlossen wir, ihm sozusagen einen Lockvogel vor die Nase zu setzen. Und ausschlie?lich dieses abgetakelte Schiff eignete sich dafur. Unser Hauptproblem bestand darin, das Au?ere so herzurichten, dass Lee es fur unser neues Kriegsschiff hielt. Zum Gluck waren genugend Werftarbeiter und ausreichend Farbe vorhanden. Ein Team hat den Rumpf angestrichen, und ein Maler hat den Namen Thetis ans Heck gepinselt. Da die Thetis nur mit einem Notmast ausgestattet war, also ohne Takelage flussabwarts segeln sollte, mussten wir am Mastkran nur ein Segel hissen, Flaggen und Wimpel an die Relinge zurren, die Standarte des Prinzregenten prasentieren, die Mannschaft einkleiden … Bei eingehender Betrachtung ware die Tarnung naturlich aufgeflogen, aber Lee hatte von seinem Unterseeboot aus nur eine sehr eingeschrankte Sicht.«

»Gro?er Gott!«, stohnte Hawkwood.

»Unser gro?ter Feind war die Zeit«, fuhr der Richter fort und wandte sich vom Fenster ab. »Wir konnten nur vermuten, dass Lee die Flut fruhmorgens fur seinen Sabotageakt nutzen wurde, falls Ihr Versuch, ihn aufzuhalten, fehlschlagen wurde. Aber wir haben es sogar geschafft, in letzter Minute die Mannschaft an Bord zu schicken.«

»Die Farbe war noch feucht«, sagte Jago. »Das hat mir die Augen geoffnet …« Er verstummte, als er Hawkwoods Gesicht sah.

»Sie haben das Schiff auch bemannt?«, fragte Hawkwood mit ausdrucksloser Stimme.

»Das war unerlasslich«, erwiderte James Read. »Die Tarnung musste moglichst echt wirken.«

»Manner sind gestorben«, erwahnte Hawkwood.

»Es gab vier Tote und sieben Verletzte«, sagte der Richter ernst.

»Und kein einziger Brite ist darunter«, warf Jago ein. »Bis auf einen«, fugte er dann hinzu.

Hawkwood sah den Sergeanten an.

»Sie haben franzosische Kriegsgefangene in ausrangierte Uniformen aus Werftbestanden gesteckt. Das ist mir als Erstes aufgefallen: wie schlampig die Offiziere gekleidet waren. Eine Schande fur die Nation. Kein britischer Offizier, der etwas auf sich halt, wurde sein Schiff betreten, als kame er gerade aus dem Armenhaus. Das kam mir merkwurdig vor. Und dass die Matrosen sich auf Franzosisch beschimpft haben.«

»Ich wei?, was Sie denken«, sagte James Read leise, als er merkte, wie entsetzt Hawkwood war. »Dass es Konventionen fur die Behandlung von Kriegsgefangenen gibt. Stimmt. Aber die Gefangenen, die an Bord der Thetis ums Leben gekommen sind, verdienten kein Mitleid. Ihr Schicksal war bereits besiegelt. Waren sie nicht bei der Explosion getotet worden, hatte man sie gehangt.«

Hawkwood starrte den Obersten Richter noch immer fassungslos an.

»Zwei der toten Gefangenen waren die Radelsfuhrer einer Meuterei auf der Gryphon. Vor vier Tagen haben zwei Dutzend Gefangene unter der Fuhrung eines Lieutenants Duvert einen Aufruhr angezettelt, dabei zwei Marinesoldaten ermordet und sie nackt vor die Schie?scharten gehangt. Nur der Tapferkeit des Kommandeurs Captain Hawkins und seiner Manner ist es zu verdanken, dass die Revolte beendet und eine Katastrophe verhindert werden konnte.

Duvert und seine Gefolgsleute waren bereits zum Tode durch den Strang verurteilt, ehe wir von Lees Planen

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