Bogen in die Hande des Schweins, der sie den anderen zeigte und sich dabei brustete, als hatte er sie selbst gebaut. Bronislaw hatte beobachtet, dass einer der Anwesenden keine Munze in den Cellokoffer geworfen hatte und ihn wohlwollend ansah; das Gesicht kam ihm bekannt vor, und er bemerkte, dass der Mann eine Wehrmachtsund keine SS-Uniform trug. Wahrscheinlich war er ein bekannter Musiker, den man kurzlich einberufen hatte. Er ging auf den Geiger zu und druckte ihm unverhohlen eine Banknote in die Hand.

»Jetzt verschwindet hier! Raus!«, schrie Sauckel plotzlich und wandte sich ab. Offensichtlich wollte er sich nun endlich die Speisen schmecken lassen, die man unter den glanzenden Deckeln auf dem mit Blumen geschmuckten und mit wei?en Servietten gedeckten Tisch erahnen konnte, als ob zwischen dem Rot der Weinflasche und den Glasern fur den gekuhlten Champagner, der wohl spater serviert werden wurde, das Lager und der Krieg uberhaupt nicht existierten. Sie verlie?en den Saal, sein Kamerad mit seinem Instrument, er hingegen der Geige beraubt. Drau?en mussten sie wie jedes Mal die Konzertkleidung wieder ausziehen, so war es Vorschrift.

Bronislaw sagte zum Cellisten: »Wir teilen das Geld unter uns dreien auf«, und er faltete den Schein auseinander, um zu sehen, wie viel er wert war. Darin eingewickelt befand sich ein winziges, zusammengefaltetes Stuck Papier, das er vor seinem Kameraden und vor allen anderen geheim hielt, indem er es aufa?. Denn darauf standen die unglaublichen Worte, leuchtend, als waren sie mit Goldfarbe eingraviert: Ich hole dich hier raus.

Der Geiger setzte den Bogen noch zweimal entschlossen und doch weich auf die Saiten. Er hatte dieses Stuck seit langer Zeit nicht mehr gespielt, aber der Vortrag war von Anfang an gelungen, die Melodie schwebte ergreifend durch den Raum, die Intonation war perfekt, wie er selbst als Erster bemerkte.

Wahrend der letzten Takte hatte er die Augen geschlossen, er musste die Partitur nicht sehen, um das Stuck mit Prazision zu Ende spielen zu konnen. Er hielt einen Augenblick inne und lie? dann das Thema ausklingen. Seine Gedanken schweiften von der Musik ab, und er fragte sich, ob der Kommandant wohl zufrieden sein wurde, ob er Daniels Leben und das seine hatte retten konnen. Sturmischer Applaus befreite ihn von der bitteren Vision. Mein Gott, was war mit ihm los? Ein Klavier und nicht das Cello begleitete ihn, er und sein Partner verbeugten sich auf der Buhne, eine Blumenpracht umgab sie. Nimmer endender Applaus ertonte, das Publikum erhob sich begeistert, der Pianist deutete ihm, weiter nach vorne zu gehen, um sich nochmals zu verneigen. Ein hubsches Madchen uberreichte beiden eine flammendrote Rose, bedankte sich charmant, und Bronislaw erhielt au?erdem einen Stamm Orchideen.

Alles erschien wie ein Traum, obwohl er sich vermeintlich sicher bewegte, lachelte und sich so verhielt, wie man es von einem Virtuosen erwartet. Er signierte einige Konzertprogramme fur Musikliebhaber, die ihn darum baten, und spater nahm er am Smorgas teil, zu dem er geladen worden war, bevor er endlich in sein stilles Haus zuruckkehren konnte. Er wollte aber nicht gleich zu Bett gehen, denn er war sich sicher, wieder von dem alten Alptraum heimgesucht zu werden.

»Ich werde noch ein bisschen lesen«, sagte er zu Ingrid, die wusste, wie ihm zumute war.

Der Raum war durch die Heizung gut temperiert, doch Ingrid hatte zusatzlich Feuer im Kamin gemacht. Er setzte sich direkt davor, wie er es gerne tat, und schenkte sich ein Glas kuhlen, leichten Wei?wein ein; fur eine Weile schloss er die Augen, bevor er in dem Buch blatterte, das er vor einigen Tagen angefangen hatte zu lesen.Vielleicht wurde es ihn ja auch heute von seinen Erinnerungen ablenken, die so hartnackig waren. Diesmal war er selbst schuld daran gewesen, denn er hatte die Follia von Corelli nicht spielen sollen, dieses Stuck, das er all die Jahre nicht hatte interpretieren wollen und das ihn zwangslaufig ins Lager zuruckkehren lie?. Jetzt, in der Ruhe seines Hauses, nach so langer in relativem Frieden verbrachter Zeit, war er erstmals dazu in der Lage, sich ohne Schrecken an die Vergangenheit zu erinnern, jetzt, wo sein Haar bereits wei? war.

Was mochte wohl aus seinen Leidensgenossen geworden sein? Er hatte nie uber jene Zeit sprechen wollen, und bei vielen Kameraden erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, wie sie aussahen, aber Daniel, diesen au?ergewohnlichen Geigenbauer, sah er noch genau vor sich, als ob der Schein des Kaminfeuers seine Gesichtszuge erhellte. Diese wachen Augen, die der Hunger nicht vollig zum Erloschen hatte bringen konnen und die alle Regungen seines Geistes widergespiegelt hatten: den Mut, die Furcht, den Zorn und die Verzweiflung, als er erfahren musste, dass sie ihn als Einsatz gegen eine Kiste franzosischen Wein ausgespielt hatten. Auch seine schlanken, ein wenig rissigen, so geschickten Hande sah er deutlich vor sich und die unausloschliche Tatowierung, die auch er selbst trug. Die Hande, die ihm zum Abschied nachgewinkt hatten, als er, vom Schicksal begunstigt, zusammen mit einem alten Haftling und acht kranklichen Frauen das Lager verlassen konnte: Das war der Anteil gewesen, den das Dreiflusselager zum Handel beigetragen hatte; ja, der Graf Bernadotte hatte sie zusammen mit vielen weiteren Haftlingen aus anderen Todeslagern gegen Lastwagen eingetauscht. Er war davon uberzeugt, dass er dank des Wehrmachtoffiziers, der ihm den Geldschein zugesteckt hatte, auf der gluckseligen Liste gestanden hatte. Mein Gott, was war das fur eine Reise gewesen … Hart, unendlich lang, uber verwustete Felder, mit gluhender Hoffnung im Herzen. Unbandige Freude und gleichzeitig ein bedruckendes Schuldgefuhl hatten ihn eingenommen, als er an die Kameraden zuruckdachte, vor allem an seine Triopartner und mehr noch an Daniel, der weiterhin den Schweinen ausgeliefert war.

Heute konnte er sich nicht mehr auf die Lekture konzentrieren. Er machte leise ein wenig Musik an, doch auch sie vermochte ihn nicht zu zerstreuen. Morgen wurde er auf andere Gedanken kommen, denn am Abend wollten sie in ihr Wochenendhaus fahren, das am Ufer eines von Birken gesaumten Sees lag, uber den Enten und Schwane glitten. Niemals mehr wollte er Schweden, das Land, das ihnen Zuflucht gewahrt hatte, verlassen. Niemals. Seine Gefangenschaft war nicht ohne Spuren geblieben: Er hatte eine ununterdruckbare, irrationale Angst vor Reisen und davor, aus diesem Land fortzugehen. Aus diesem Grund hatte er auch bald auf Konzerttourneen verzichtet, sie bescherten ihm Alptraume, er war hochstens fur den einen oder anderen Auftritt in die Nachbarlander gereist, nach Danemark oder Norwegen, die Heimat von Sibelius, wo er sich sicher fuhlte. Sobald er seine Papiere in Ordnung gebracht und die schwedische Staatsburgerschaft erlangt hatte, hatte er einen Lehrstuhl am Konservatorium angenommen. Seine seltenen Konzerte fanden hochste Anerkennung, und bald kamen Geiger aus aller Welt, um die Kunst des Fingersatzes und der klassischen Kadenz von ihm zu erlernen.

Nein, sagte er sich jetzt, er wurde die Follia nie wieder vortragen. Er hatte sie erstmals und mit ganzer Seele vor dem gehassten Tyrannen auf der Geige gespielt, die sein Freund unter gro?ter Anstrengung gebaut hatte. Es kam ihm so vor, als ob seitdem noch nicht viel Zeit vergangen war. Sie hatten beide den Gedanken nicht ertragen konnen, das wunderschone Instrument dem Kommandanten zu uberlassen, sie hatten sogar Plane geschmiedet, es auszutauschen. Am Tag nach der Auffuhrung hatte Bronislaw nicht gewusst, wie er Daniel beruhigen, seine Zweifel noch einmal zerstreuen sollte, denn man hatte ihnen nur gesagt, dass sie »bis auf weiteres« an ihrem Arbeitsplatz bleiben wurden. Kein einziges Wort war von den verhassten Lippen uber das kunftige Schicksal des Geigenbauers zu horen gewesen. Hatte er die Geige rechtzeitig abgeliefert? Sie glaubten es zwar, aber sie wussten es nicht, und diese Ungewissheit war fur Daniel schwer zu ertragen gewesen.

Einige Tage nach der Einweihung des Instruments erzahlte ihm der Geigenbauer eines Abends, dass Sauckel ihn am Tag zuvor gegen Mittag aus der Tischlerei hatte holen lassen; er schilderte in allen Einzelheiten, wie man ihn zum Haus des Kommandanten gebracht und ihm dieser – das war in der Tat ungewohnlich – zur Geige gratuliert hatte. Wie er, Daniel, vor ihm strammstand, wahrend sein Herz heftig schlug und er darauf wartete, endlich von der Ungewissheit erlost zu werden und den Handen Raschers entkommen zu sein. Da horte er den Nachsatz:

»Ich habe beschlossen, dich zu belohnen, obwohl du nur deine Pflicht erfullt hast.«

Mit Muhe brachte Daniel ein »Vielen Dank« uber die Lippen. Doch was dann folgte, entsprach nicht im Geringsten seiner Erwartung; der Kommandant wandte sich an seinen Adjutanten und sagte:

»Bringt ihn in die Kuche und gebt ihm etwas zu essen. Schnell, die Fabrik ruft.«

Die Enttauschung hatte ihm beinahe den Hunger genommen, aber einmal in der Kuche angelangt, verschlang er dennoch das Fleisch und Gemuse, das ihm die Kochin vorsetzte. Den ganzen Nachmittag – so berichtete er Bronislaw – war er bei der Arbeit den Gedanken nicht losgeworden, das Schwein wurde ein Spiel mit ihm treiben, in der Annahme, dass der Musiker und er uber die Wette Bescheid wussten und nun auf deren Ausgang warteten. Der Geiger sollte sogleich alle weiteren Einzelheiten

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