Die Flammen waren erloschen, nur ein wenig Asche war ubrig geblieben. Er mochte sie nicht, die Asche der Toten. Er verteilte sie mit dem Schurhaken, und winzige Funken spruhten. Nun, da Ingrid schlief, goss er sich ein Glas kuhlen Rheinwein ein. Das Mittagessen zu seinen Ehren, die Verleihung der Ehrenauszeichnung der Stadt, alles war perfekt gewesen. Er hatte bemerkt, dass einige nicht gekommen waren, der eine oder andere kranke Kollege oder Neider, dachte er. Blumen, Festreden, Medaillen … Alles Asche au?er der Musik.
Was war das nur fur eine gro?artige Uberraschung gewesen! Ingrid und die Freunde hatten ihn nichts ahnen lassen, er war nach wie vor bis ins Innerste geruhrt und wollte noch ein wenig in Ruhe daran denken, bevor er zu Bett ging; in der Stille des Hauses, die nur manchmal ein Vogelschrei durchbrach, umgeben vom sanften Platschern des Sees, das wie eine mit Dampfer gespielte Geige klang, wurde er am nachsten Tag sicher lange schlafen konnen. Ingrid hatte sich nach dem Bankett bald verabschiedet: »Meine Tochter wird dich heimbringen; ich fahre voraus, um das Haus zu heizen.«
Ein paar Freunde und der Operndirektor hatten ihn umringt und ihn erst am spaten Nachmittag gehen lassen. Er war mude gewesen, doch nach der Autofahrt, die er genutzt hatte, die Augen zu schlie?en, fuhlte er sich wieder frisch.
Als er sie aufschlug, glitzerten die Wellen des Sees, das Haus war hell erleuchtet, und er wurde bei seinem Eintreten mit Applaus von einem kleinen Kreis von Musikern begru?t. Auch ein sehr bekanntes Trio war zugegen: Gerda,Virgili und Climent. An Letzteren konnte er sich erinnern, Climent hatte in ganz jungen Jahren als Schuler einen seiner Kadenz- und Improvisationskurse besucht. Auch die Direktorin des Konservatoriums war gekommen, und eine Frau mit hellen Augen, die er nicht kannte, die ihn aber vage an jemanden erinnerte. Man hatte ihn sofort zu dem fur ihn vorgesehenen Platz beim Kamin gefuhrt, gleich neben Climent und Ingrid, die den Finger an ihre Lippen fuhrte.
Dann begann es. Er konnte sich noch an jede Note erinnern, er hatte es auch jetzt sofort zur Ganze zu singen vermocht. In der Nacht zuvor hatte er daruber nachgedacht, wie wenige Komponisten es gab, die heutzutage die Geigen zum Klingen brachten. Die meisten ma?en der Melodie und jener alten Verbundenheit zwischen Musikern und Geigenbauern kaum mehr Bedeutung bei. Diese drei aber verstanden es – mein Gott, der erste Satz war ihm unter dem Eindruck der Uberraschung und Neuheit wie im Flug vergangen; doch als die Geige den zweiten Satz solo begann und er jeden Ton in sich aufsog und festhielt, tauchte in seinen Gedanken schlagartig die Frage auf, wo er diese Klange schon einmal gehort hatte … Nein, das Stuck war ihm unbekannt, es handelte sich um ein noch unaufgefuhrtes Werk Climents. Und plotzlich durchfuhr es ihn wie ein Blitz: Diese Unbekannte spielte auf Daniels Geige, auf der Geige aus dem Lager. Ja, das wusste er mit einem Mal ganz genau.
Nach der gelungenen Interpretation des
»Sehen Sie sich die Geige an, erkennen Sie sie wieder? Ich bin Regina, Daniels Tochter.«
Regina streichelte erst die Geige, legte sie dann in seine Hande, druckte ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Ich habe das Gefuhl, dich schon lange zu kennen.« Er betrachtete das Instrument von oben bis unten genau, beruhrte es; es war eindeutig die Geige seines Freundes, die nun von den Handen des Madchens zum Klingen gebracht worden war. Er runzelte die Stirn:
»Die Tochter? Er hat mir nur von einer Nichte erzahlt.«
Die anderen Freunde standen etwas abseits, und er sah, wie Ingrid sie in sein Arbeitszimmer fuhrte.
»Ich wollte meine Erinnerungen an damals aus dem Gedachtnis streichen«, sagte er zu Regina, »doch es ist mir nie gelungen.«
Dann brach die Frage aus ihm hervor, die ihn so oft gequalt hatte:
»Hat Daniel uberlebt?«
Beide unterhielten sich – ohne gro? daruber nachzudenken – nicht auf Jiddisch, das die Frau nie gelernt hatte, sondern auf Polnisch. Der Geigenbauer hatte uberlebt, erzahlte Regina sanft, doch war er sehr jung gestorben, als sie erst siebzehn war. Und sie war tatsachlich seine Tochter, denn er und Eva hatten sie nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus adoptiert. Sie hatte damals schon Geige gespielt, fugte sie hinzu, weil Rudi, ein Verwandter und ebenfalls Musiker, ihr bereits mit funf Jahren die Grundkenntnisse beigebracht hatte.
Er war glucklich, die Tochter Daniels jetzt im hohen Alter kennenzulernen. Sie war gewiss nie aus Polen hinausgekommen, und er hatte niemals dorthin zuruckkehren wollen … Er hatte alle Bindungen, die wenigen, die ihm die Vernichtung gelassen hatte, abgebrochen.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte das Madchen, als er es ihr erklarte, »Eva wollte auch nie uber diese Zeit sprechen; sie war immer unterwegs, trank ein bisschen zu viel, lie? nie Erinnerungen aufkommen. Mit zwolf Jahren habe ich von meinem Vater erfahren, dass sie in Auschwitz auf unmenschliche Weise sterilisiert worden war und noch immer haufig an Unterleibsschmerzen litt.« Daniel hingegen hatte Regina, im Gegensatz zu seiner Frau, wieder und wieder an seinen Erinnerungen teilhaben lassen, vielleicht weil seine Schatten dort stets von einem Hoffnungsschimmer begleitet gewesen waren: Es war ihm gelungen, die Geige fertigzubauen.
Mit der Stimme des Madchens erzahlt, schmerzten Bronislaw die alten Wunden nicht mehr. Als Daniel nach der Befreiung aus dem Lager ins Krankenhaus gebracht worden war, konnten die Arzte – wie ihr Daniel berichtet hatte – nicht fassen, dass er es geschafft hatte zu uberleben. Auch danach hatte es monatelang schlecht um ihn gestanden, er hatte lange zwischen Leben und Tod geschwebt, als stunde er an einer Wegscheide. Die anderen beiden Musiker, Bronislaws Partner, waren bereits im ersten Winter nach der Abfahrt des
»Sein Kamerad ist im Krankenhaus aufgetaucht, hat sich an Vaters Bett gesetzt und ihm triumphierend die Geige gezeigt: Es ist deine, hatte er gesagt, ich habe sie fur dich zuruckgekauft.«
Freund, der bald darauf in die Vereinigten Staaten emigrierte, hatte sie tatsachlich bei der Versteigerung der Besitztumer des Exkommandanten erworben, kurz nachdem
Geigenbauer.«
Die Funken in der Asche waren erloschen, aber ein wenig Warme blieb noch. Wer konnte schon sagen, ob Regina und er sich je wiedersehen wurden? Regina wurde in ihr Land zuruckkehren, und er war ihr so dankbar dafur, dass sie ihm Daniel und vielleicht sogar den Frieden zuruckgegeben hatte.Wie sehr hatte es ihn immer gequalt, dass er Daniel im Lager hatte zurucklassen mussen, dass er keine Moglichkeit gehabt hatte, auch nur irgendetwas dagegen zu tun … Die Hand, die ihm Adieu gewunken hatte, glich einer Flamme, die seine Brust verbrannte.
Morgen wurde er den Violinpart des