wieder daran, wie man ihn und alle anderen Neuankommlinge beim Verlassen des vollgepferchten Lastwagens mit Beschimpfungen uberschuttet hatte, wobei das stets wiederholte »Blode Hunde!« noch am harmlosesten war. Wie am ersten Tag wusste er instinktiv, dass es keine Antwort auf so viel Leid gab, auf dieses nimmer endende Jom Kippur – Fasten und Bu?e -, das sich mit Heftigkeit uber ihnen allen entlud.
Schon seit Stunden dachte er in erster Linie an seine Geige, und seit geraumer Zeit kreisten seine Gedanken nur noch um die Moglichkeit zu uberleben. Am Tag des »Fruhjahrsputzes« war er zu sehr mit den Auswirkungen beschaftigt gewesen, die ihn betrafen, als dass er wirklich Mitleid mit den zum Tode Verurteilten empfunden hatte. Doch jetzt, als er plotzlich wieder die wusten Beschimpfungen horte, die den Neuzugangen galten, bemerkte er erstaunt, dass sein Herz noch nicht taub war fur andere, dass er echtes Mitgefuhl empfand, das wie eine zarte Pflanze in ihm aufkeimte, die nur auf gutem Boden und nicht auf Brachland gedeihen kann. Trotz des Lachelns, das ihm am Morgen abverlangt worden war, trotz des Spotts, der Monate des Hungers und der Kalte, der Blutergusse von den Schlagen, trotz der Drohungen, und obwohl er sich darauf eingestellt hatte, kaum mehr Entsetzen zu verspuren, die Schreie zu unterdrucken, wenn man ihn zuchtigte, seine Gedanken nicht schweifen zu lassen, war sein Herz lebendig geblieben. Er konnte in den Augen des jungen Mannes, der neben ihm marschierte, eine ahnliche Regung erkennen; diesen politischen Haftling hatte soeben ein brutaler Faustschlag mitten ins Gesicht getroffen, und jetzt druckte Daniel ihm schweigend die Hand, teilte mit ihm durch diese Geste den heimlichen, zaghaften Stolz, sich nicht zu Untermenschen machen zu lassen; denn das waren die anderen.
Nun, wo der Aufseher weiter vorn war, fasste er den Mut, ihn zu trosten: »Schmerzt es sehr?«
»Es geht.«
Er dachte, dass er sich zu wenig um den Jungen gekummert hatte, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der junge Bursche – im Lager kam einem alles zu Ohren – war von den Seinen abgeschnitten, durfte mit ihnen keine Verbindung aufnehmen, geschweige denn Pakete erhalten, obgleich er weder Jude noch Zigeuner war: Sie hatten ihn mit anderen Leidensgenossen unter Strafverscharfung interniert, die von den Schweinen als »Nacht- und-Nebel-Aktion« bezeichnet worden war, ein Name, der ihre perverse Erfindungsgabe bewies, wenn es galt, schone Worte fur eine infame Methode zu benutzen, die die Haftlinge in absoluter Ungewissheit lie?. Nicht einmal die Eltern des Jungen wussten, wo er sich derzeit befand. Besa? denn niemand mehr eine Spur von Gewissen? Nein, denn sie wollten unter keinen Umstanden auf die billigen Arbeitskrafte verzichten, die ihnen gutes Geld einbrachten.
Die Vorarbeiter der Fabrik in der abgelegenen Zweigstelle der machtigen
Schlie?lich ubertonten die Maschinen die menschlichen Stimmen; Daniels junger Kamerad weinte uber seiner Arbeit. Als sie an der Reihe waren, in die Kantine zu gehen, gab es nicht mehr viel Auswahl. Der Junge und der Geigenbauer, der uber seinem Hunger alles verga?, a?en jeder ein Wurstchen und tranken ein Glas Milch. Ihre Kehlen waren so ausgedorrt, dass sie die Milch gerauschvoll hinuntersturzten und sich danach die Lippen leckten, gierig wie ein Saugling an der Mutterbrust. Und als Daniel den letzten Tropfen getrunken hatte, dachte er, dass er jedes Gramm an zusatzlicher Nahrung nutzen musste, wenn er genugend Kraft haben wollte, um die Geige fertigzubauen.
VII
EINMAL, GOTT, WURDE ICH
IN DER NACHT
NICHT HEIMGESUCHT UND
MUSSTE NICHT JAHLINGS
EINEN MIR UNBEKANNTEN WEG
BESCHREITEN.
Der Geiger begann allein das langsame, rhythmische Thema der Melodie; der Bogen strich sicher uber die Saiten, und bald stimmte das Cello begleitend ein. Er hatte lange daruber nachgedacht, welches Stuck er auswahlen sollte, und schlie?lich hatte er sich fur die Variationen uber das Follia-Thema von Arcangelo Corelli in der Version von Hubert Leonard entschieden, die er auswendig kannte; allerdings wurde die zweite Stimme statt vom Klavier oder Cembalo vom Cello ubernommen. Ihr Zusammenspiel war harmonisch, und es war genau richtig gewesen, ein Werk zu wahlen, das vor allem den strahlenden Klang der Geige zur Geltung brachte, aber keine riskanten virtuosen Stellen aufwies. Die Musik entfaltete sich, der kleine Part mit Doppelgriffen und Trillern glitt flussig und heiter dahin, bis das Thema wieder mit solcher Schonheit einsetzte, dass die Zuhorer gebannt und schweigend lauschten.
Die Begleitung verstummte: Ein Violinsolo bildete den Abschluss, und die Geige klang weich und voll. Der Musiker hatte die Augen geschlossen, lie? die letzten Tone ausschwingen. Nun – dachte er unvermittelt – wurde der Applaus einsetzen, der sein standiger Begleiter gewesen war, seit er mit zwolf sein erstes Konzert gegeben hatte. Inzwischen war er sechsundzwanzig.
Er offnete die Augen, kam zu sich, und sogleich war ihm wieder bewusst, wo er sich befand; dennoch befremdete ihn der sparliche Beifall. Der Kommandant klatschte ein paarmal in die Hande, und die beiden Musiker verbeugten sich vor
»Ihr habt gut gespielt« – Bronislaw atmete befreit auf, als er das horte -, »und die Geige klingt tadellos.«
Seine Erleichterung war umso gro?er, weil er wusste, dass das Instrument nicht genugend lang hatte trocknen konnen. Der Kommandant blickte ironisch lachelnd und zufrieden zu Rascher und sagte:
»Ihr beide und der Geigenbauer« – diesmal sagte er nicht: der kleine Tischler – »werdet bis auf weiteres nicht in den Steinbruch geschickt.« Dann drehte er sich zu dem halben Dutzend Gasten um:
»Meine Herren, die Musiker haben sich wirklich ein Trinkgeld verdient.«
Daraufhin wandte er sich an seinen Adjutanten, der ihm eine Munze reichte. Jetzt wird er sie mir geben, dachte Bronislaw, aber das geschah nicht. Der Cellist hatte seinen Instrumentenkoffer offen gelassen, und der Kommandant warf das Geldstuck hinein, wie bei einem Stra?enmusikanten; die Gaste, unter ihnen ein Madchen in SS-Uniform, folgten seinem Beispiel, und der Cellist buckte sich hastig, um die Munzen mit der verhassten Pragung einzusammeln. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er schon an das Essen dachte, das er dafur vielleicht bekommen wurde. Bronislaw jedoch wurde sich heute nicht bucken, wenn sie ihn nicht dazu zwangen, nicht jetzt, nachdem er mit seiner ganzen Seele gespielt hatte, nachdem er musiziert hatte wie der leibhaftige Corelli selbst, um Daniels Leben zu verteidigen; mit vor Wut verschleierten Augen dachte er, wahrend er das wunderschone Instrument an sich druckte: Ich werde mich nicht vor ihnen bucken, fur einige Augenblicke bin ich ein Prinz.
»Was machst du da? Her mit der Geige!« Er hatte sich geradezu an das Instrument geklammert! Widerwillig, mit gluhenden Wangen und mit brennender Wut in seinem Inneren legte er die geliebte Geige und den