inzwischen weitgehend in Ruhe und beschimpfte ihn nicht mehr. Er schien zufrieden mit diesem Haftling, der schweigend vor sich hin arbeitete, sogar nur selten die Erlaubnis einholte, zur Latrine gehen zu durfen, keine Probleme machte und sich auch nicht heimlich mit den anderen Tischlern unterhielt. Dennoch war es ratsam, sich keine Blo?e zu geben, und damit seine kurze Rast auf dem selbstgebastelten Hocker nicht auffiel, legte er die Hande sacht auf die Geigendecke, als musste er sie zusammenhalten.

Er wollte sich nicht an die furchtbare Selektion vom Vortag erinnern und lenkte daher seine Gedanken – als waren auch sie fugsame Werkzeuge – zu Regina. Wie oft hatte er das kleine, blauaugige Madchen in seinen damals noch kraftigen Armen gehalten, sie in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, wahrend sie vor Vergnugen quietschte. Es trostete ihn, sie in Sicherheit zu wissen, obwohl er keinerlei Nachricht erhalten hatte, da jeder Versuch einer Kontaktaufnahme zu gefahrlich gewesen ware. Seine Cousine galt als Arierin und hatte zwei altere Kinder; alle wurden sich um die Kleine kummern. Er dachte daran, dass der Gro?vater Bienen zuchtete und einen Gemusegarten bestellte, also wurde es ihnen sicher nicht an Essen mangeln. Die tiefen dunklen Ringe, die der Hunger in ihr Gesichtchen gegraben hatte, waren bestimmt schon verschwunden.

Es war gut, nicht an die Toten zu denken, sondern an Regina und auch an Eva, die in Tischs Fabrik Zuflucht gefunden hatte. Es war auch gut, dass ihn seine Arbeit noch zu ermutigen vermochte, obwohl er spurte, wie seine Krafte mit jedem Tag nachlie?en. Heute atmete er leichter, war dankbar fur das bisschen Sonne, das durch die Fensteroffnung fiel, in die er als Ersatz fur die fehlende Glasscheibe transparentes Papier geklebt hatte. Der Aufseher, der einige Meter entfernt von ihm sa?, a?, ohne ihn eines Blickes zu wurdigen, eine Handvoll Nusse, die er aufgetrieben hatte, um die Zeit bis zum Mittagessen zu uberbrucken. Er knabberte sie gerauschvoll, so als wollte er ihnen den Mund wassrig machen, und Daniel neidete ihm diese Haselnusse, gleichzeitig aber war er froh, weil sie alle dadurch ein paar Augenblicke Ruhe hatten.

Er konnte von Gluck reden, dass der Tischler, der in nachster Nahe arbeitete, rechtzeitig zu ihm heruberkam und ihn unauffallig weckte. Bis zu diesem Vormittag war ihm das noch nie passiert. In der letzten Nacht hatte er jedoch nach der Ruckkehr der Lastwagen kaum geschlafen und war nun aus Erschopfung neben der Geige eingenickt, den Kopf vornuber auf dem Tisch. Offensichtlich hatte es sonst niemand bemerkt oder zumindest keiner beim Kapo denunziert, so wie es manchmal geschah, um Gutpunkte zu sammeln.

Ich darf auf gar keinen Fall mehr bei der Arbeit einschlafen, scharfte er sich ein. Seit ein paar Tagen wusste er durch Bronislaw, den Geiger, was auf dem Spiel stand. Dieser war, seitdem Daniel ihn vor dem Kommandanten in Schutz genommen hatte, als ob sie nicht beide gleich hilflos und ohnmachtig waren, sein Freund. Glucklicherweise war der Musiker trotz Arrest den Peitschenhieben und dem »Fruhjahrsputz« entgangen. Und immer wenn der Kommandant nicht seine Dienste als Geiger im Trio oder im Orchester in Anspruch nahm, arbeitete er jetzt in der Kuche. In der Nahe der Feinde nutzte er dann sein feines Gehor, um moglichst viele Gesprachsfetzen aufzuschnappen.

Beide verdankten seiner Meinung nach dem Gast mit den gutigen Augen ihr Leben, einem Freund von Tisch, Schindler, der ein sehr guter Goi war. Seine Fabrik lag allerdings weit von hier entfernt, und er war nicht noch einmal wiedergekommen. Der gefurchtete Rascher aber kam, obwohl er in ein anderes Lager versetzt worden war, regelma?ig zu Besuch. Er brustete sich damit, dass ihn SS-Reichsfuhrer Himmler personlich, dieses gro?e Schwein, zu seinen Aufwarmungsversuchen an unterkuhlten Haftlingen begluckwunscht hatte.

»Gib dir beim Bau der Geige gro?te Muhe; ich wei?, du wirst dein Bestes geben! Ich denke, dass Sauckel an einer meisterhaften Arbeit interessiert ist, er sammelt schon sehr lange Instrumente. Wie viele davon er widerrechtlich in seinen Besitz gebracht hat, will ich mir gar nicht vorstellen! Was deine Geige betrifft, so hat er jedenfalls mit dem teuflischen Rascher um eine Kiste Burgunderwein gewettet.«

»Hast du das wirklich richtig verstanden?«

»Nicht in allen Einzelheiten, weil wir ihnen nicht zu nahe kommen durfen, aber ich habe gehort, dass der Arzt dem Tyrannen eine Kiste Burgunder schuldet, wenn du die Geige rechtzeitig fertigbaust und sie dazu noch gut klingt – die Frist, die sie dir dafur geben, ist mir leider unbekannt.« Daraufhin schwieg er und fuhr erst nach einer Weile zuruckhaltend und widerstrebend fort:

»Rascher, der Morder, mag aber keinen Wein. Er trinkt lieber Bier.«

»Was willst du damit sagen?«

Bronislaw war sich nicht sicher, hatte aber aufgrund der aufgeschnappten Gesprachsfetzen eine Vermutung. Er straubte sich verzweifelt, damit herauszurucken. Der verbrecherische Arzt hatte es namlich nicht auf Dinge abgesehen, sondern auf Personen, auf Korper, soviel war klar. Es stand zu befurchten, dass sein Preis, sollte er die Wette gewinnen, der Geigenbauer selbst war. Eine Kiste Wein gegen die Auslieferung Daniels an das Lager, in dem Rascher jetzt »tatig« war. Aus der Sicht der Schweine ein hoher Preis fur einen Untermenschen.

VI

DAS LEID GLEICHT EINEM

WEITEN RAUM:

ICH VERMAG MICH NICHT

ZU ERINNERN,

WIE ES BEGANN ODER

OB AUCH NUR EIN EINZIGER TAG

FREI VON IHM WAR.

Emily Dickinson

Schreiben an Himmler wegen Verwendung des Zahngolds verstorbener Haftlinge, 1942

SS=Wirtschafts=Verwaltungshauptamt

Tgb. Nr. 892/42 geh.

An den Reichsfuhrer=SS

Berlin

Reichsfuhrer!

Das von verstorbenen Schutzhaftlingen stammende Zahn=Bruchgold wird auf Ihren Befehl an das Sanitatsamt abgeliefert. Dort wird es fur Zahnbehandlungszwecke unserer Manner verwendet.

SS=Oberfuhrer Blaschke verfugt bereits uber einen Bestand von uber 50 kg Gold, das ist der voraussichtliche Edelmetallbedarf fur die nachsten 5 Jahre.

Ich bitte um Bestatigung, da? das kunftig aus den normalen Abgangen der KL anfallende Zahn=Bruchgold an die Reichsbank gegen Anerkennung abgeliefert werden darf.

Heil Hitler!

Вы читаете Die Violine von Auschwitz
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату