zerschlissene Wasche, die nicht mehr zu flicken war und sicherlich zur Papierherstellung dienen wurde. Alles wurde verwertet, das wusste Daniel. Den »Gesunden« hatten sie nicht in den Mund geschaut, die Kranken jedoch – das hatte er mit eigenen Augen gesehen – wurden von einem Zahnarzt untersucht, auf dessen Tisch Pinsel und Farbe standen. Nach dem Tag des »Reinemachens« war ihnen klar, dass der Pinselstrich mit Olfarbe auf dem nackten Korper diejenigen kennzeichnete, die Goldzahne hatten.

Er war aber nicht zum Waschewaschen abkommandiert worden. Zusammen mit drei weiteren Haftlingen brachte man ihn zu einem Schneider, einem geschickten kleinen Mann, der Ma? nahm, sie recht gut erhaltene Kleidung anprobieren lie? und zum Aufseher sagte, sie sollten in ein paar Tagen wiederkommen, um sie nochmals zu probieren und dann mitzunehmen. Diese Vorgehensweise war ihnen unverstandlich, obwohl sie neue Kleidung bitter notig hatten. Ihre war so alt und fadenscheinig, dass sie die Kalte des letzten Winters kaum abzuhalten vermocht hatte – Lungenentzundungen hatten unter den Haftlingen gewutet. Warum man ihnen jetzt anstandige Kleidung zuteilen wollte, war ihnen ein Ratsel. Sie sprachen daruber, als sie die »Schneiderei« verlie?en, konnten sich allerdings keinen Reim darauf machen. Einer von ihnen stellte die Vermutung an, man wurde sie vielleicht in ein kalteres Lager im Norden deportieren, er hatte bemerkt, dass die Jacken dick und gut gefuttert waren, aber diese Theorie schien ihnen allen absurd. Wann hatten sich die Schweine jemals um ihre Gesundheit Gedanken gemacht?

Daniel zerbrach sich nicht weiter den Kopf und kehrte mit dem anderen Tischler, der ebenfalls in die Schneiderbaracke geschickt worden war, an seine Arbeit zuruck.

Am nachsten Tag erschien ein Untersturmfuhrer, der als besonders grausam verschrien war, in Begleitung eines SS-Madchens, und es wurde ihnen befohlen, sich Schuhe und die neuen Kleider anzuziehen. Die beiden waren fruhmorgens uberraschend in die Werkstatt gekommen – es war noch nicht einmal richtig hell -, hatten hier und da etwas zurechtgeruckt und befahlen nun den neu eingekleideten Haftlingen zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Eine der Anordnungen war allerdings sehr schwierig zu befolgen: Sie sollten, kaum waren sie zurechtgemacht und ihre Gesichter geschminkt, so tun, als wurden sie in Freiheit arbeiten: »Jetzt lacheln«, sagte der SS-Mann, »sonst seht ihr die Kartoffeln von unten wachsen.«

Das war eine gangige Ausdrucksweise, um auf die Toten anzuspielen. Zweifellos brauchten sie Fotos fur ihre Propaganda, schlie?lich hatten sie schon einige Male Filme gedreht, die die Sachlage verfalschten – frei nach dem Motto: Die Lagerinsassen arbeiten glucklich und zufrieden oder Jedem die Arbeit, die ihm Spa? macht. Daniel fuhlte Zorn in sich aufsteigen, und er spurte, wie sein Gesicht unter der Schminke rot anlief. Der SS-Mann grinste und schwang den Knuppel. Damit dieser nicht auf sie niedersauste, rangen sich die beiden Haftlinge ein Lacheln ab, soweit sich ihre geoffneten Lippen und ihre vor Schrecken weit aufgerissenen Augen als solches bezeichnen lie?en. Die junge Frau portratierte sie in verschiedensten Posen, und sie entgingen den Schlagen um den Preis der Selbsterniedrigung – welch doppelte Bitterkeit!

»Ausziehen«, hie? es dann, und die Fotografin und der Mann lachten, wahrend sie auf die abgemagerten Korper deuteten.

Schweigend streiften sie sich die alten Kleider wieder uber. Sie waren der Strafe entgangen, doch hatten sie zur Belohnung nicht einmal ein warmendes Kleidungsstuck behalten durfen. In den alten Fetzen und mit den Holzschuhen an den Fu?en kehrte Daniel an seinen Arbeitsplatz zuruck. Es fiel ihm schwer, seine Hande zitterten noch vor Aufregung; die erlittene Demutigung, das erzwungene Lacheln, das er den Feinden dargeboten hatte, qualten ihn. Er wusste nicht, wie lange er noch in der Lage sein wurde, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, obwohl er jung war und sein Lebenswille noch nicht verwelkt. Zu seinem gro?en Erstaunen reichte ihm der Aufseher den Rest seines Biers. Also waren die beiden auch ihm verhasst gewesen und die Komodie mit den Fotos ihm ebenso nahegegangen. Daniel trank gierig und bedankte sich; dann presste er seine Hande zwei- oder dreimal kraftig zusammen und bekam schlie?lich das Zittern in den Griff.

Seine Gedanken kehrten zur Geige zuruck. In den letzten Tagen hatte er den Boden und den Zargenkranz fertiggestellt, und nun begann er, mit einem kleinen Hammer auf die winzigen Keile zu klopfen, die den Boden am Modell befestigten. Da er umsichtigerweise blo? zwei Tropfen Knochenleim aufgetragen hatte, konnte er ihn nach kurzer Zeit ohne Schwierigkeit losen. Das entschadigte ihn fur die schrecklichen Fotoaufnahmen; er atmete tief durch, war zufrieden, diese vollendete Form in Handen zu halten. Er hatte sich auf keinerlei Experimente eingelassen, die Au?enma?e entsprachen exakt der Norm, die er auswendig wusste; er uberprufte sie nochmals: 335 Millimeter lang, die Bruste (wie er zu sagen pflegte) 165, die Taille 115, die Schenkel 205. Er streichelte das geliebte Instrument, diese Geige, die ihn vielleicht retten wurde, sobald er die Handgriffe, die noch fehlten, ausgefuhrt hatte: das Einlassen der Flodel, der Wirbelkasten, die letzten Arbeiten am Hals, das Einsetzen des Stimmstocks … Viele kleine Schritte, und am Ende, bevor er die Teile zusammenfugte, die Auswahl des geeigneten Lacks. Noch war er allerdings weit von diesem Punkt entfernt.

Als die Sirene schrillte, bedauerte er es, dass ihm keine Zeit mehr blieb, die Verstarkungen der Zargen anzufertigen oder mit dem Polieren zu beginnen. Er konnte es jedoch nicht riskieren, die Mahlzeit auszulassen, und durfte auf keinen Fall durch sein Verhalten Aufmerksamkeit erregen, vielleicht neidete ihm schon der eine oder andere Mithaftling die zwei Schluck Bier, das konnte doch sein! Um sich Mut zu machen, dachte er an Freund und an Bronislaw, der sicherlich den ganzen Vormittag damit zugebracht hatte, Ruben zu schneiden und Topfe zu reinigen, mit seinen goldenen Handen, die die Saiten zum Klingen brachten, mit seinen Fingern, die eines Tages am Griffbrett dieser im Lager gebauten Geige entlanggleiten wurden. Er dachte an den Kunstler, nicht an den Kommandanten, der das gar nicht verdiente. Bei diesen Gedanken fand er die Suppe besser als sonst, und er ertrug gelassen die Scherze, die die Kameraden uber seine Schminke machten, er selbst hatte sie schon langst wieder vergessen. Am Abend wurde er Zeit haben, sie abzuwaschen, heute war er mit dem Duschen an der Reihe, jetzt aber musste er sich um sein Essen kummern. Wie so oft zu dieser Stunde kamen ihm die Mahlzeiten in den Sinn, die seine Mutter zubereitet hatte; mit der Zeit uberlagerte die Erinnerung an seine Mutter das verschwimmende Bild Evas. Die Mutter und die kleine Regina. Er dachte an den Geruch, der ihm manchmal schon auf der Treppe verraten hatte, was es zu essen gab: Fleischbruhe mit Nudeln, dicke Gemusesuppe oder Teigwaren mit gehackten Nussen auf einem stets schon gedeckten Tisch, und daneben, immer wenn es Fleisch gab, der »Kasetisch«. Das alles lag lang zuruck, vor den im Ghetto verbrachten Wochen und Monaten. Und jetzt bekamen sie Ruben und nochmals Ruben, Rubensuppe und fertig!

Er fuhlte eine vertraute, freundschaftliche Hand auf seiner Schulter: Der Professor, nun Backer, steckte ihm heimlich eine kraftige Scheibe Brot zu, die er in der Backstube abgezweigt hatte. Das war gefahrlich, sie konnten ihn dafur zuchtigen oder sogar toten, aber manchmal ging er das Risiko ein und verteilte dann die Brotstucke gerecht unter den Barackenkameraden, um Neid zu vermeiden. Daniel konnte sich schon nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt an der Reihe gewesen war. Diese kleinen Verschworungen inmitten des Elends warmten die Seele. Der Professor hatte Gluck, in der Backerei zu arbeiten, aber er verdiente es auch, da er nie seine Freunde verga?.

Durch die zusatzliche Ration Brot gestarkt stellte sich Daniel in die Reihe, die sich unter strenger Aufsicht zur Fabrik begab; niemandem entging die Ankunft des Lastwagens mit seiner ungluckseligen Fracht.

Als ein Kamerad sich nach den Neuankommlingen umdrehte, traf ihn ein Faustschlag, der ihn ins Wanken brachte. Trotzdem ging er rasch weiter, damit kein weiterer folgte. Hoffentlich tritt er nicht aus der Reihe, dachte Daniel, die bringen ihn sonst ohne viel Aufheben um, wie neulich Denes.

Es kam ihm vor, als befande er sich seit einer Ewigkeit im Lager, gleichzeitig schien ihm seine Ankunft erst ein paar Tage zuruckzuliegen. Das sprachlose Erstarren, die Schreie »Raus!«, die niedersausenden Schlage, das demutigende Ritual. Die langen Stunden, die sie im Stehen, nackt bei Eiseskalte, damit zubrachten zu warten, um fur die elende, perverse Prozedur an die Reihe zu kommen; dann das schonungslose Rasieren an Gesicht und Korper, das von den gefurchteten Mithaftlingen mit den grunen Winkeln vorgenommen wurde, die unausloschliche Tatowierung, das Kurzscheren der Haare, das Bespruhen mit Desinfektionsmitteln, als waren sie Pflanzen, die Angst, in die Duschen zu gehen, denn es konnte schlie?lich auch todliches Gas ausstromen und nicht Wasser, das zwar eisig, aber unschadlich war, wenn man es nicht zu lange uber den Korper laufen lie?. Manchmal machten sich die Kapos allerdings den Spa?, sie erst aus den Duschraumen zu lassen, wenn sie schon vor Kalte zitterten. Die Schlage, wenn man den Befehlen nicht unverzuglich Folge leistete oder zu langsam marschierte, die Schreie und das Weinen derer, die noch Frauen oder Kinder hatten, die ihnen entrissen worden waren. Die trotzigen Augen des Zigeuners, der die Reihe wechselte und sich an die Seite seines alten Vaters und seines kleinen Sohnes stellte, um mit ihnen gemeinsam in den Tod zu gehen.

Wahrend Daniel unbeirrt weitermarschierte, um nicht ebenfalls Schlage abzubekommen, erinnerte er sich

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