du willst, begleite ich dich nach Hause.«

Sie wohnte in der Nahe der Musikhochschule, und wir trotzten zu Fu? dem kalten Wetter jenes schon wieder in Nebel gehullten Spatnachmittags. Sie lud mich auf eine Tasse hei?en Tee zu sich ein. Ihre Wohnung war klein, schlicht – das Leben war hart in Polen. Ich kam nicht mehr auf die Geige zu sprechen, wollte sie zerstreuen, sie auf andere Gedanken bringen. Kurz sprach sie von ihrem Sohn, zeigte mir ein Foto und erzahlte, dass er nach Israel gegangen war. Sie aber wollte nicht fort.

»Was soll ich denn dort machen? Er ist Diamantenschleifer und hat einen guten Arbeitsplatz; inzwischen gibt es doch so viele Musiker in Israel, vor allem viele Russen, sie konnten hundert Orchester grunden! Aber er kommt zum Rosch ha-Schana und zum Passah-Fest auf Besuch.«

Schlie?lich begannen wir uber Musik zu sprechen und diskutierten, wahrend wir die Aufnahme der Konzertanten Symphonie horten, einige Interpretationsprobleme. Und am Ende – so ergeht es mir immer – musizierten wir selbst, denn sie war auch eine gute Pianistin, und das Klavier nahm praktisch die Halfte des Raumes ein, der zugleich als Ess-, Wohn- und Musikzimmer diente. Das Musizieren brachte uns einander naher, als es stundenlange Gesprache vermocht hatten, und ich fuhlte mich ihr freundschaftlich verbunden. Fur einen kurzen Moment glaubte ich – vielleicht war es auch nur Einbildung -, in ihren Augen und auf ihren gluhenden Wangen einen Funken, einen Hauch von Begehren zu entdecken, aber womoglich galt er nur der Musik. Mein Gott, dachte ich, sie ist doch viel alter als ich!

Wir spielten in perfekter Ubereinstimmung die Sonate zu Ende. Sie kam mir verandert vor, frohlich gar, und sie strahlte noch mehr, als sie das Telefon auflegte, das genau zu dem Zeitpunkt gelautet hatte, wo sie den Klavierdeckel schloss und mir glucklich die Hande druckte. Obwohl sie mir keine Erklarung schuldig war, erzahlte sie mir, dass es ihr Freund gewesen sei.

»Er ist kein Musiker«, fugte sie hinzu, »er ist Industrietechniker und arbeitet in Nowa Huta. Wir haben nicht oft die Gelegenheit, etwas miteinander zu unternehmen.«

Mittlerweile war es Nacht geworden, und es war an der Zeit, ins Hotel zuruckzukehren, wo Gerda und Virgili Stancu auf mich warteten. Wir verabschiedeten uns schweren Herzens und verabredeten uns fur den nachsten Tag zu einem gemeinsamen Abendessen zu viert in dem Hotel, in dem wir untergebracht waren. Ich wollte nicht, dass Regina irgendwelche Ausgaben hatte, denn obwohl sie eine hervorragende Berufsmusikerin war, wusste ich, wie schwierig es fur sie sein musste, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wollte ihr noch nichts verraten, bevor ich nicht mit meinen beiden Kollegen gesprochen hatte, aber ich dachte, es ware eine schone Idee, sie nach Holland einzuladen und ein Konzert mit ihr zu planen. Ich rechnete fest mit dem Einverstandnis der beiden anderen, mir gegenuber hatten sie namlich alle mit gro?er Bewunderung uber Reginas Vortragsweise gesprochen.

Am darauffolgenden Tag wollte ich sie nach dem Abendessen nach Hause begleiten, doch sie meinte, das ware nicht notig, es wurde sonst nur zu spat fur mich werden. Sie willigte aber ein, sich von mir ein Taxi rufen und den Betrag fur die Fahrt dem Chauffeur im Voraus begleichen zu lassen. Wir verabschiedeten uns mit einer festen und freundschaftlichen Umarmung, und ich dachte ein bisschen wehmutig daran, wie weich sich ihr Korper anfuhlte und wie begehrenswert er vor einigen Jahren wohl gewesen sein musste.

Wahrend des gesamten Abendessens hatte sie sich mehr mit Gerda, der Cellistin, als mit mir unterhalten. Die beiden waren sogar gemeinsam fur geraume Zeit im Zimmer meiner Kollegin verschwunden. Als sie schlie?lich zuruckkehrten, sah ich, dass Regina sich umgezogen hatte: Sie trug nun eines von Gerdas Konzertkleidern, ein dunkelblaues mit Spitze, das ihr sehr gut stand. Sie mussten aber auch das eine oder andere Geheimnis ausgetauscht haben.

Ich hatte mich nicht geirrt.

»Regina war von deinen Interpretationsvorschlagen sehr begeistert«, sagte Gerda am nachsten Tag zu mir. »Und auch von deinem Unterricht fur die Schuler der Abschlussklassen. Du hast gro?en Eindruck auf sie gemacht.«

»Also, um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es fur die Schuler wichtig gewesen ist. Du hast doch gehort, wie sie spielen.«

»Aber du hast ihnen neue Perspektiven eroffnet, deine Sichtweise und deine Schule sind anders; Regina hat sich vor allem fur die Kadenz interessiert.«

Sie machte eine Pause und wechselte das Thema:

»Hat sie dir eigentlich nichts von ihrem Leben erzahlt?«

»Nein, ich habe sie auch nicht nach Einzelheiten gefragt, ich wollte nicht indiskret sein. Au?erdem hatte ich den Eindruck, dass sie diese Dinge traurig stimmen. Als sie mir berichtete, die Geige ware von ihrem Onkel Daniel gebaut worden, horte ich sie ganz leise hinzufugen: ›Gesegnet sei sein Andenken‹.«

»Ja«, bekraftigte Gerda, »die Erinnerung muss schmerzlich fur sie sein. Fast alle der Ihren sind dem Holocaust zum Opfer gefallen. Ihre Mutter und ihre Gro?mutter starben im Krakauer Ghetto, ihr Vater und der altere Bruder wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet. Sie muss damals noch sehr jung gewesen sein. Wie sie wohl uberleben konnte? Wahrscheinlich hat ihr die Musik geholfen, die unendlich vielen Schatten zu uberwinden. Diese Aufzeichnungen hier gab sie mir fur dich. Sie hat viele Zeugnisse von damals zusammengetragen und meinte, du hattest dich fur ihre Geige interessiert und konntest so einen Teil ihrer Geschichte rekonstruieren.«

»Hast du sie gelesen?«

»Sie haben mich die halbe Nacht wach gehalten! Aber nun gehoren sie dir. Sie hat sie mir fur dich gegeben.«

Ich war sehr glucklich uber diesen Freundschaftsbeweis. Zudem hatten wir Regina uberreden konnen, uns zu besuchen und bei einigen Konzerten mitzuwirken, sobald alles organisiert ware. Gerda, die immer ihren Kopf durchsetzt, nahm sich dieser Aufgabe an, und so wurde schon bald vereinbart, ihr bei einem unserer Auftritte den Violinpart in dem Erzherzog Rudolph gewidmeten Trio von Beethoven zu ubergeben. Ich wurde ihr mit Vergnugen meinen Part uberlassen. Mit den weiteren Einzelheiten der Tournee wollten wir unseren Agenten, den Bruder der Cellistin, betrauen. Regina war bislang nur selten aus ihrem Land herausgekommen; ein Auslandsaufenthalt wurde ihr gewiss neue Impulse geben. Drei Wochen, hatte sie zu uns gesagt, langer nicht, denn sonst wurde sicherlich jemand versuchen, ihr den Lehrstuhl streitig zu machen.

Unsere Tournee naherte sich allmahlich ihrem Ende; es stand noch ein letztes Konzert in Warschau auf dem Programm, dann wurden wir getrennte Wege gehen: Gerda und Virgili wurden nach Amsterdam fahren, ich zuruck nach Paris in mein Studio, wo ich fur die Aufnahme einer CD erwartet wurde. Auf dem Warschauer Flughafen sa?en wir wegen des Nebels mehr als zwei Stunden fest. Ich nutzte die Zeit, um Reginas Aufzeichnungen zu lesen, die sie in holpriges Englisch ubersetzt hatte. Nach den ersten paar Seiten dachte ich: Du musst sie Angels geben, es wird sie brennend interessieren, doch bald verga? ich alles und konzentrierte mich ganz auf die Notizen der Geigerin, in denen immer wieder ein Name auftauchte, der mir bekannt vorkam. Meine Kollegen mussten mich darauf aufmerksam machen, dass mein Flug schon aufgerufen worden war; ich hatte es nicht einmal gehort, so vertieft war ich in die Geschichte der Geige meiner Freundin, in diese Geschichte, die ich niemals mehr werde vergessen konnen.

II

UND ICH KOMME AN EINEN ORT,

WO ALLES LICHT ERLOSCHEN IST.

Dante, Gottliche Komodie, Die Holle ? IV, 151

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