blassen Stirn entstanden, erst spater dachte er bei sich, dass es ihm vorgekommen war, als habe sie ihm jemand diktiert. In der Zeit der Verfolgung glich das Leben, unerbittlicher denn je, einem Balanceakt auf einem Seil, und die Juden waren – wie unzahlige andere – unerfahrene, gebrandmarkte Seiltanzer. Er kannte diejenigen, die uber das Schicksal seines Volkes bestimmten, nur zu gut: Es war jene Sorte von Mordern, Mitglieder der Waffen-SS, mit makellosen Uniformen verkleidete Monster, wenn sie nicht mit Blut besudelt waren, sorgfaltig frisierte, oft kultivierte Manner, die wahrscheinlich ihre Hunde liebten, gern Musik horten und sicherlich eine Familie hatten. Von diesen verdammten feingliedrigen Handen, von diesen ruhigen oder fanatischen Augen hing an einem seidenen Faden das Leben – oder vielmehr ein Trugbild des Lebens. Fur diese Gojim, dachte er in dem Moment, als er die Frage horte, gilt das alte Gebot »Du sollst nicht toten« nicht. Seine Mutter hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, irgendeine Frage gestellt zu bekommen, sie war sehr fruh im Ghetto gestorben. Der judische Arzt hatte in seiner Machtlosigkeit von Tuberkulose gesprochen, doch Daniel dachte immer: aus Hunger und Traurigkeit, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen.

Welche Arbeit hatte ein Geigenbauer in der Holle verrichten konnen? Tischler schien in jenem Augenblick selbst dem Adjutanten, der beifallig mit dem Kopf nickte, als er die Eintragung machte, eine gute Antwort zu sein; die konnte man immer brauchen. Doch jetzt, Monate spater, die ihm wie Jahre vorkamen, und nach all dem Leid, zweifelte Daniel daran. Wenigstens hatten sie ihn relativ bald aus der »hellen« Zelle herausgeholt – man wusste nie, wie lange es dauerte, obwohl sie stets von Vorschriften sprachen -, und er konnte wieder das Tageslicht sehen. Drinnen hatte er sich, da das Fenster winzig war, in fast volliger Dunkelheit befunden.

Er genoss, das war ihm bewusst, gegenuber vielen Mithaftlingen einen gewissen Vorteil: Er arbeitete mittlerweile unter Dach, denn mit dem Wintergarten waren sie schon sehr weit, und er war dazu angehalten worden, ein Flaschenregal fur den Weinkeller anzufertigen. Aus Gesprachsfetzen hatte er sich zurechtgelegt, dass weitere Arbeiten im Haus vorgesehen waren. Vielleicht wurde er das Gluck haben, diese zugeteilt zu bekommen.

Ich bin nur deshalb eingeschlafen, dachte er, weil ich nicht genug esse und das durch Schlaf versuche wettzumachen.

Sie mussten im Dunkeln aufstehen, um halb sechs, und um Viertel vor sieben zu arbeiten beginnen. Die anderen Haftlinge machten um zwolf eine halbe Stunde Pause, und diejenigen, die im Haus und in den Nebengebauden des Kommandanten arbeiteten, kamen an den Tagen, an denen sie ihre Arbeit nach seinem unberechenbaren, fordernden Willen ausgefuhrt hatten, sogar in den Genuss von einer ganzen Stunde Ruhepause. Nachmittags ging die Arbeit bis halb sieben: genau bis zur Ausgabe des mageren Abendessens; darauf folgten der elendslange Appell und die Nacht – ohne Hoffnung auf eine gutigere Morgendammerung.

Sonntagmorgens wollte Sauckel jedoch keinen Larm horen, da er samstags entweder spat in der Nacht zuruckkam oder aber eine seiner kleinen Orgien im Haus feierte. Und um ihn nicht aufzuwecken, durften die Sklaven wesentlich spater beginnen. Diese kleinen Vorteile, immer mit der Angst verbunden, sie konnten irgendwann vorbei sein, waren die einzigen Hoffnungsschimmer, an die Daniel sich klammern konnte; er wollte nicht daruber hinaus nachdenken, sich nicht an viel erinnern, selbst die schmerzhaften Stiche nicht wahrhaben, die manchmal seinen Korper zusammenkrampfen lie?en; sich nicht nach Eva sehnen, die vielleicht schon tot war, mit der er jetzt verheiratet ware, ware nicht Krieg. Blo? nicht an ihre Umarmungen der letzten Zeit denken, an ihre warmen Lippen, als die ersten Wochen des steifen Umgangs miteinander voruber waren, nachdem der Vermittler sie einander gema? dem Brauch der Gemeinde vorgestellt hatte.

Heute fuhlte er sich so schwach, dass es ihm wie aus einem anderen Leben, wie von einer anderen Person zu stammen schien, jemals Begierde, jemals Lust empfunden zu haben. Blo? eine gewisse Wut hielt ihn noch auf den Beinen, denn er wollte diesen Hyanen, den Befehlshabern und Kapos nicht das Spektakel seiner Ohnmacht gonnen. Gegen seinen Willen schweiften seine Gedanken ab zu den ersten Wochen seiner Internierung im Dreiflusselager, als er eines Abends noch einen fluchtigen Kontakt mit irgendeiner Lagerinsassin gehabt hatte, verborgen hinter einem Verschlag. Bald darauf allerdings hatten sie Manner und Frauen durch einen elektrischen Zaun getrennt, bei dessen Errichtung sie selber hatten mithelfen mussen. Doch angesichts seiner schwindenden Krafte war es ihm inzwischen gleichgultig.

Hunger plagte ihn. Er war jung und wollte leben. Das Mittagessen wurde den Hunger blo? tauschen.Vielleicht wurde ihm die Kochin heimlich ein paar Reste zustecken, manchmal wagte sie es, wenn Er sich nach dem Essen zum Lesen zuruckzog. Funf Stunden Arbeit mit nichts als einem wassrigen Kaffee-Ersatz und einem Stuck Brot im Magen lie?en ihn beinahe zusammenbrechen.

Als sie gerade aus der Diele hinausgehen wollten, rollten plotzlich, von lautem Gelachter begleitet, drei goldene Apfel zu Boden – eine Sinnestauschung? Seine Kameraden und er krochen auf allen vieren, um sie zu erhaschen, wahrend sich der Kommandant damit vergnugte, sie mit den Fu?en wegzuschie?en. Daniel fuhlte sich keineswegs in seinem Stolz verletzt, als er sich buckte, um einen Apfel zu erwischen. Die Schande lag bei demjenigen, der sich uber seinen Hunger lustig machte. Ein riesiger schwarzer Stiefel bedrohte seine Hand, zog sich aber schlie?lich zuruck, um die Frucht noch weiter wegzusto?en, doch es gelang Daniel, sie an sich zu rei?en. Man nahm ihn nicht fest, man hetzte auch nicht die Hunde auf ihn, als er in den Apfel hineinbiss, denn Er war eindeutig in guter Laune aufgestanden. Der Grund dafur wurde klar, als eine Frauenstimme von oben nach ihm rief. Offensichtlich hatte die schone Prostituierte seinen Wunschen entsprochen, und man wurde ihn und die anderen nun vielleicht zwei oder drei Tage schonen.Vielleicht.

Der Nachmittag zog sich in die Lange, trotz der Erinnerung an den Apfel.

Nach den Tagen, die er im Arrest verbracht hatte, kam ihm selbst seine Pritsche in der Baracke weich vor. Und er empfand die Anwesenheit der Kameraden, die mehr oder weniger genauso verlaust und schmutzig waren wie er, als vertraut und trostlich.

Diesmal weckte man ihn. Er durfte nicht noch einmal verschlafen! Denn sonst hatte ihn niemand mehr vor der gefurchteten Zuchtigung schutzen konnen, und der Blick des Arztes Rascher hatte nichts Gutes verhei?en. Obwohl ihn die Schlage noch schmerzten, hatte er die Nacht durchschlafen konnen und war, vielleicht weil er nicht allein war, auch von keinen Alptraumen geplagt worden. Der Schreiber ihrer Baracke hatte ihn, als er ihn weckte, aus einer anderen Welt zuruckgeholt. Im Traum war er in seiner sauberlich geordneten Werkstatt gewesen und hatte inmitten der ihm wohl bekannten und geliebten Geruche der Holzer, Leime und Lacke an einer Bratsche gearbeitet – was fur ein Unterschied zu dem Mief in der Baracke. Im oberen Stockwerk hatte seine Mutter beim Vorbereiten des Mittagessens vor sich hingetrallert, das ebenfalls einen kostlichen Duft verstromte. Lauter begluckende Sinneseindrucke waren ihm vergonnt gewesen: Die Sonne vergoldete die Holzer und entlockte ihnen ein Schimmern wie das der Abenddammerung; warme rotliche Farben wie altes Gold, seltsamerweise auch Blautone, und kontrastierend glanzte der kalte Stahl seiner Werkzeugsammlung. Die noch unbearbeiteten, fur kunftige Instrumente zugeschnittenen Stucke lie?en ihre Maserungen aufleuchten, sie dufteten, und zwischen ihnen strich Luft hindurch, die sie mit der Zeit langsam trocknen lie?. Er hatte schon von seinem Vater gelernt, nie ein Holz zu verwenden, das nicht mindestens funf Jahre vorher geschlagen worden war. Das Holz einer kraftigen Bergfichte oder eines Spitzahorns, von Baumen, in denen Vogel genistet hatten. In denen der Wind gesungen hatte, wie es spater der Bogen tun sollte. Im Traum hatte jedes Teil und jedes Werkzeug wie ein Schmuckstuck geglanzt, und sie waren tatsachlich die bescheidenen Kleinode seiner Handwerkskunst. Im Traum war er an einem der heikelsten Schritte seiner Tatigkeit angelangt: Es galt, der Bratsche die Seele einzusetzen, jenes kleine Fichtenholzstuckchen mit feiner, dichter Maserung, das er nun senkrecht, ganz gerade und genau unter dem rechten Fu?chen des Stegs anbringen wollte. Doch was geschah? Ihm schwitzten die Hande, der Stimmstock blieb nicht an der richtigen Stelle, entglitt ihm zu fruh! Die Seele war ihm zu kurz geraten, war unbrauchbar. Er musste von Neuem beginnen. Doch da sank die Bratsche tiefer und tiefer …

In diesem Augenblick des Traums war er wach geruttelt worden. Die Bratsche war ohne Seele geblieben. Das schien ihm ein schlechtes Omen zu sein.

Man brauchte aber nicht im Traum oder in der Ferne ein schlechtes Vorzeichen zu suchen. Er hatte es vor sich, direkt vor Augen. Das schlechte Omen war ganz einfach die Morgendammerung. Das Anbrechen eines neuen Tages in der Gehenna, im Dreiflusselager.

Ein dusterer Morgen, Vorbote eines grauen, diesigen Tages, eine alte Bettdecke auf der trostlosen, schabigen Lagerstatt. Kein Alptraum, dachte er, konnte schlimmer sein als die Grausamkeit, die sie umgab und durchdrang, so unvermeidlich wie die Luft, die sie atmeten. Sie waren ihr ausgeliefert, schutzlos wie Sauglinge. Es schien ihm, als seien sie von allen – auch von Jahwe – verlassen worden, als seien sie den Handen eines Hasses preisgegeben, der fur ihn unbegreiflich war. Er hatte seinen Vater von fruheren Vertreibungen und Pogromen sprechen horen, zu Zeiten der Gro?vater; seine Kindheit jedoch war in Geborgenheit verlaufen, und sie hatten

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