Tradition erzahlt dann die Geschichte Israels mit allem, was dem judischen Volk wichtig ist.

Im Ringen um die eigene Identitat und um Lebensraum entstehen Verhaltensregeln wie die judischen Speisevorschriften oder die Sabbatruhe, Riten wie die Beschneidung der mannlichen Kinder, spezifische Opferbrauche und vor allem die zentralen Grundungsmythen wie die Erzahlungen von Abraham oder Moses, au?erdem die Gebote und Gesetzesvorschriften und schlie?lich die verbindliche Darstellung der Geschichte, die als Zusammenwirken Gottes mit seinem machtlosen, aber auserwahlten Volk erfahren und in der Bibel schriftlich fixiert wird.

Am Anfang dieser Geschichte steht Abraham, der Erz- und Stammvater aller Israeliten, der nach der Legende um 1700 v. Chr. mit Familie und Herdenbesitz aus Ur in Mesopotamien aufbricht und auf einem langen Weg uber Syrien und Agypten am Ende seines Lebens das ihm von Gott Jahwe verhei?ene gelobte Land Kanaan erreicht. Hier erfullt sich die gottliche Prophezeiung einer reichen Nachkommenschaft, was sich auch in Abrahams Namen ausdruckt, der »Vater der Vielen« oder »Vater der Volker« bedeutet. Abraham konnte ein Zeitgenosse des babylonischen Konigs Hammurabi (1728 -1686 v. Chr.) gewesen sein. Aber so wenig wie Moses, der ein halbes Jahrhundert spater das Volk Israel aus der Knechtschaft in Agypten wieder zuruckfuhrt in das Land, in dem Milch und Honig flie?en, ist Abraham eine historische Person. Dafur betrachten ihn nicht weniger als drei Religionen - Juden- und Christentum, aber auch der Islam - als ihren Stammvater. Sie werden deshalb auch unter dem Begriff abrahamitische Religionen zusammengefasst.

Blicken wir noch einmal zuruck: Die Hebraer (der biblische Name fur das Volk Israel) mussen sich im Herrschaftsgeflecht der vorderasiatischen Gro?machte unter schwierigen Bedingungen behaupten: Die Siedlungsgebiete des nomadischen Hirtenvolks und spater sein Territorium und seine staatliche Existenz sind von Anfang an umstritten. Der Siedlungsraum liegt im schmalen Streifen zwischen Wuste und Meer, aber auch zwischen den Interessenspharen der Gro?machte Agypten, Assur und Babylon. Das kleine Volk der Hebraer muss sich standig bedroht fuhlen.

Im 14. Jahrhundert v. Chr. wandern nach spaterer biblischer Uberlieferung hebraische Sippenverbande nach Agypten aus, um im fruchtbaren Niltal eine Existenzgrundlage zu finden. Sie werden von den Agyptern als Gastarbeiter aufgenommen und leisten, im Schatten der Pyramiden, Frondienste. Ihr Status gleicht dem von Sklaven. Um 1250 v. Chr. gluckt mit dem charismatischen »Moses« der Auszug der judischen Sippen aus Agypten und damit der Beginn eines gigantischen Selbstwerdungsprozesses. Es gelingt der Aufbau einer halbnomadischen Existenz, die Begrundung eines religiosen Kults und umfangreicher Verhaltensvorschriften - darunter die spater so genannten Zehn Gebote - und schlie?lich die Ansiedlung der Sippen in Judaa, worauf auch die Bezeichnung »Juden« zuruckgeht.

Um die spatere Hauptstadt Jerusalem herum wachsen die judischen Stamme allmahlich zu einer staatlichen Einheit zusammen, die sich ab 1000 v. Chr. unter den Konigen Saul, David und Salomo und nach siegreichen Kampfen gegen Philister und Ammoniter zu einem palastinensischen Machtzentrum entwickelt. Allerdings nur kurzfristig. Um 926 v. Chr. teilt sich das kleine Reich in zwei Teile, einen Nordstaat Israel unter dem Einfluss der Assyrer und den Sudstaat Juda, der unter agyptischem Einfluss steht. Der Staat Israel wird im Jahr 722 v. Chr. von den Assyrern ausgeloscht. Juda wird von den Babyloniern unter Nebukadnezar II. bei einem Feldzug gegen Agypten uberfallen, der Konig Zedekia wird geblendet, die Oberschicht 586 v. Chr. nach Babylon deportiert. Der Tempel in Jerusalem als judisches Zentralheiligtum wird zerstort. Erst in den Jahren nach 539 v. Chr., als die Perser die Babylonier besiegen, ist die Ruckkehr in die Heimat moglich. Viele Juden bleiben in Babylon.

In Judaa entsteht nach der Ruckkehr aus dem Exil eine Theokratie (Gottesherrschaft) mit einem Hohen Priester und einem Hohen Rat an der Spitze. Der Perserkonig Kyros finanziert den Wiederaufbau des salomonischen Tempels. Die religiose Uberlieferung wird aufgeschrieben und die Bibel das Heilige Buch, das im Mittelpunkt des gesamten Lebens steht und anstelle von Kultbildern verehrt, beschutzt und als Offenbarung Gottes verstanden wird.

Gleichzeitig mit dieser Religion des Buches bildet sich der Monotheismus aus: Jahwe wird nicht nur als der starkste, sondern als der einzige Gott verkundet, zum Beispiel vom Propheten Jeremia, der nach 585 v. Chr. starb. Die Propheten als offentliche Mahner spielen eine wichtige Rolle im Leben des judischen Volkes, weil sie es sind, die zu Besinnung und Reformen aufrufen und damit die offentliche Diskussion und eine standige Uberprufung des Glaubens in Gang halten.

Als sich im ersten Jahrhundert v. Chr. die Spannungen innerhalb der verschiedenen judischen Gruppierungen zu einem Burgerkrieg ausweiten, tritt die Weltmacht Rom auf den Plan, die die Ordnung und die eigenen Machtanspruche im ostlichen Mittelmeergebiet gefahrdet sieht. Es kommt zu einer fatalen Konfrontation, deren Folgen bis in die Gegenwart reichen.

Im Jahr 63 v. Chr. marschiert der romische Feldherr Pompeius in Jerusalem ein und sorgt dafur, dass ganz Judaa von romtreuen Vasallen verwaltet wird, deren nutzlichster Herodes der Gro?e ist. Nach dessen Tod im Jahr 4 v. Chr. wird die Herrschaft unter die Sohne des Herodes aufgeteilt. Fur die Romer entstehen dadurch mehrere Krisenherde zugleich. Konflikte und Unruhen fuhren zu kleineren Kriegen, bis die Romer schlie?lich durchgreifen und 70 n. Chr. das zentrale Heiligtum der Juden, den Tempel von Jerusalem, zerstoren. Sie vernichten damit zugleich den judischen Staat.

Seither fuhlen sich die Juden staaten- und heimatlos. Sie mussen in der Diaspora, der Zerstreuung, leben und konnen nicht einmal die ubrig gebliebene Westmauer der Tempelanlage aufsuchen, um zu beten und zu klagen. Immer wieder, noch bis ins 20. Jahrhundert hinein, wird ihnen der Zugang zur Klagemauer verboten: nach einem Aufstand gegen die romischen Besatzer (132 -135 n. Chr.), unter den christlichen Kreuzfahrern im Mittelalter und 1947 bis 1967 unter jordanischer Verwaltung.

Nach der Zerstorung des Tempels erzwingen die Romer mit imperialer Harte die endgultige Niederlage der letzten Aufstandischen, die sich 73 n. Chr. auf dem Felsplateau von Masada verschanzt haben. Die von dem judischen Historiker Flavius Josephus niedergeschriebene Geschichte des »Judischen Krieges« schildert den Widerstand gegen die romische Besatzungsmacht bis zum bitteren Ende auf der Festung Masada, das bis heute ein Identitatsmythos des judischen Staates geblieben ist.

Der Ort dieser Tragodie ist faszinierend und bedeutungsschwer.

Was im 20. Jahrhundert auf dem Felsen von Masada nach drei Ausgrabungsperioden freigelegt wurde, zeugt von einem ausgeklugelten Verteidigungssystem mit gro?en Zisternen und Wasserleitungen, Anbauflachen, Tierhaltungs- und Wohnanlagen im Innern der Festung. Nur weil sie eine gewaltige Erdrampe aufschutten, gelingt es den romischen Truppen nach Jahren, die Festung zu sturmen.

Die meisten judischen Einwohner hatten schon nach der Zerstorung des Tempels die Region verlassen, ohne jedoch ihren Glauben, ihre Riten und ihre Gebrauche aufzugeben. Reibungen mit den Bewohnern der Gastlander blieben nicht aus. Beide Seiten versuchten, sich voneinander abzugrenzen. Da die Juden uberall in der Minderheit waren, wurden sie im Verlauf der Geschichte immer wieder fur rechtlos erklart und gezwungen, massive Einschrankungen hinzunehmen. So wurden sie genotigt, in der Offentlichkeit ein Kennzeichen zu tragen (»Judenhut« oder »Judenstern«). Das Laterankonzil der romischen Kirche erlie? 1215 ein Kennzeichnungsgebot, nachdem schon im Jahr 717 der Kalif Omar II. eine solche Pflicht in seinem Machtbereich eingefuhrt hatte. Erst in der europaischen Aufklarung wurde diese Art von Diskriminierung beseitigt, von den deutschen Nationalsozialisten 1938 aber wieder eingefuhrt.

Dies ist dann der Auftakt zur brutalsten Judenverfolgung der Geschichte. Ihr fallen mehr als sechs Millionen Menschen zum Opfer. Alle vorhergegangenen Verbrechen an judischen Menschen werden durch diesen organisierten Volkermord in den Schatten gestellt. Die Diskriminierungen, Verfolgungen und Vernichtungsversuche bedrohten zwar den Bestand des judischen Volkes, fuhrten aber zu einer intensiven Identitatsbildung uber Jahrhunderte hinweg, so dass sich im 20. Jahrhundert wieder ein »Judenstaat« konstituieren konnte (1948).

Das Lebensprinzip der historisch gewachsenen judischen Identitat ist die mundliche und schriftliche Tradition. Zu ihr gehoren das Gesetz mit seinen 613 Geboten und Verboten (Thora), die Lehre (Talmud) sowie die Forschung und Kommentierung der Gesetzesvorschriften (Midrasch). Diese Vorschriften und die Art ihrer Verinnerlichung und Anwendung wurden im Lauf der judischen Geschichte zum Kernthema der Auseinandersetzung mit anderen Religionen, vor allem mit dem aus dem Judentum hervorgegangenen Christentum.

Das fruheste Beispiel dafur gab Jesus selbst. Als Jude glaubte er wie alle anderen Juden an einen einzigen Gott. Aber es missfiel ihm, auf welche Weise vor allem die Machtigen unter ihnen diesem Gott ihre Verehrung entgegenbrachten: indem sie genau den Gesetzen der judischen Religion wie den Speisevorschriften, der Sabbatruhe und der Beschneidung folgten. Fur Jesus waren dies, verglichen mit der Sorge und Fursorge gegenuber

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