Hugel sah. Er bemerkte, wie Heynrici ebenfalls auf Elisabeths entblo?ten Oberkorper starrte. »Hexe!«, rochelte er. »Hexe!«
Andreas musste schnell handeln. Er warf sich vor Elisabeth und versuchte linkisch, ihr Kleid uber der Brust zusammenzuziehen. Niemand sonst hatte es bisher gesehen. Niemand durfte es je sehen, denn sonst ware es um Elisabeth geschehen. Die beiden uberzahligen kleinen Bruste und Warzen wurden von jedermann als Hexenzeichen gedeutet werden.
Und wenn sie wirklich eine Hexe war?, schoss es Andreas durch den Kopf. Er stand ganz nah vor ihr, beruhrte mit den Handen ihre Bruste, die oberen, die unteren. Tausend heftige Empfindungen durchstromten ihn. Er zerrte ihr das Kleid uber die Blo?e. Sofort nestelte sie an den Bandern, doch sie waren zerrissen. Andreas zog den Priesterrock aus und legte ihn der jungen, vor Angst zitternden Frau um. Die Zeit schien gefroren zu sein. Niemand sonst bewegte sich. Wie durch Watte vernahm Andreas das Keuchen des am Boden liegenden Heynrici; ansonsten war es so still, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen horte. Als Elisabeth in das schwarze Gewand eingewickelt war, schenkte sie Andreas ein zaghaftes Lacheln. Als er es erwiderte, wurde ihr Lacheln strahlender. Und sogar ein wenig schelmisch. Andreas stand in Hemd und Lendentuch vor ihr. Er bemerkte es kaum. Krantz war immer noch hinter ihnen, das blutige Messer in der Hand. Andreas schaute hinunter zu Heynrici. »Warum?«, fragte er leise. »Warum?«
Der alte, fur so fromm gehaltene Mann flusterte: »Will beichten…«
»Bitte lasst uns allein«, sagte Andreas zu den Ratsherren. »Das hier ist nur noch eine Sache zwischen diesem Mann, Gott und mir. Und nehmt euren Buttel mit. Er ist nur ohnmachtig.«
Krantz ergriff die Gelegenheit als Erster. Er wischte das Messer an seinem Hemd ab, steckte es in den Gurtel und ging. Die anderen folgten ihm mit ihren Fackeln. Elisabeth sah dem hageren Ratsherrn mit dem vertraumten Blick wutend und hilflos nach. »Dieser Schuft«, sagte sie.
Andreas wusste nicht, was sie meinte. Anderes war nun wichtiger. Er kniete sich neben Heynrici und brachte sein Ohr nahe an den Mund des Sterbenden. »Beichte, und deine Sunden werden dir vergeben«, sagte er mit leiernder Stimme. Und setzte hinzu: »Warum?«
»Ich… ich…« Heynrici baumte sich auf und lie? sich mit einem Achzen wieder zuruckfallen. Unter seinem Korper breitete sich eine Blutlache aus. »Ich wollte das Rathaus und alle darin in die Luft sprengen.«
»Warum?«, fragte Andreas erneut.
»Sie haben mich darum gebeten.«
»Wer?«
»Die Verschworer. Sie wollten die Verhansung aufheben.«
»War das auch Euer Ziel?«
»Nein…«
»Warum also?« Andreas begriff diesen Mann immer weniger.
»Die Toten…«
»Welche Toten?«
»Es waren so viele gewesen. Ich wollte ihnen nahe sein. Ich wollte ihre letzten Worte horen. Vater, ich habe so viel gesundigt.«
»Sprich weiter«, sagte Andreas angeekelt. Nun erst spurte er, wie die kalte Luft des Kellergewolbes ihm um die nackten Beine fuhr. Das Licht aus der umgesturzten Laterne riss Locher in die Schatten und die Dunkelheit.
»Ich… ich habe den Herrn versuchen wollen«, sagte Heynrici schwer. »Ich habe ungeheuer Gutes getan und dagegen das vollkommen Bose gesetzt. Ich habe den Kranken geholfen und viele von ihnen eigenhandig getotet.«
»Warum?« Andreas war zu keinen tiefer gehenden Fragen mehr in der Lage. Heynricis Beichte wurde immer ungeheuerlicher.
»Ich wollte aus den letzten Worten der Sterbenden meinen Zauber formen, nachdem die Bucher nichts hergegeben hatten.
Ich wollte Gott so sehr erzurnen, dass er zu mir kommt. Deshalb habe ich jede Gelegenheit zum Morden wahrgenommen. Ich hatte keine Angst vor der Lepra, denn der Teufel war mit mir und hat mich beschutzt.« Er hustete; ein leichter Blutfaden quoll aus seinem Mund. »Ich habe auch Ludwig Leyendecker getotet.«
Andreas schaute zu Elisabeth auf, die sich eng in sein Priestergewand gewickelt hatte. Er sah, dass sie jedes Wort mitbekommen hatte. Sie ruhrte sich nicht.
Heynrici sprach weiter: »Der Plan der Verschworer war mir vollig gleichgultig. Ludwig Leyendecker musste sterben, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Heinrich Bonenberg war zu feige, ihn eigenhandig aufzuknupfen, und hat mir diese Arbeit uberlassen. Es waren wertvolle Worte, die der Sterbende mir mitgeteilt hat. Worte, die zu Gott und zum Satan fuhren. Aber meine Arbeit ist nicht vollendet.«
Welcher Damon sprach da aus ihm? Er hatte nur gemordet um des Mordens willen? Nur um der letzten Worte der Sterbenden willen?
Heynrici fuhr fort: »Heute bin ich zu spat gekommen; eine Wache an der Ehrenpforte hat mich aufgehalten. Ansonsten ware das Rathaus schon in die Luft geflogen, und ihr hattet mich als rettenden Engel mitten zwischen den Sterbenden gesehen. Oh, wie ich ihre Worte getrunken hatte! An der Schwelle des Todes sehen die Menschen die jenseitige Welt. Und sie erkennen deren Geheimnisse. Geheimnisse, die ich ihnen entrei?en wollte. Geheimnisse, die mich auf meinen eigenen Weg zu Gott gebracht haben. Als meine Frau starb, habe ich zum ersten Mal versucht, Kontakt mit der jenseitigen Welt aufzunehmen.« Er lachelte schwach. »Ich bin immer weiter auf diesem Weg gegangen. Ich wollte Gott zu mir herabzwingen, auf geraden und auf krummen Wegen.«
»Wie konnt Ihr Gott noch im Munde fuhren!«, erboste sich Andreas und verga? beinahe seine Pflichten als Beichtvater.
Heynrici schnappte nach Luft; ein kleiner Blutstrom floss ihm aus dem Mundwinkel. »Ich wollte doch nur mit Gott reden! Warum hat er sich mir nicht gezeigt? Ich wollte ihn reizen und ihm seine Geheimnisse entrei?en… Nichts, was in den Zauberbuchern steht, ist wahr. Darum habe ich sie verkauft. Als Bonenberg wissen wollte, wo man ein Zauberbuch herbekommt, konnte ich ihm den Hinweis auf den Drucker Ulrich Zell geben. Es war alles sehr gut eingefadelt. Ein vollkommener Mord, dessen Ausfuhrung mir unendliche Freude verschafft hat. Leider ist es mir nicht gelungen, Euch das Buch wieder zu entwenden, damit Ihr nicht auf meine Anmerkungen sto?t. Der Dieb, den ich gedungen hatte, hat klaglich versagt. Er hat dafur bu?en mussen.« Heynrici lachte sanft.
»Wer sind die anderen Verschworer?«, wollte Elisabeth wissen. Sie war aschfahl und konnte sich nur mit Muhe beherrschen.
Heynrici schaute zu ihr auf. Seine Augen weiteten sich noch einmal vor Abscheu und Entsetzen. »Du bist des Teufels, nicht ich«, flusterte er. Dann sackte sein Kopf zur Seite. Er war tot. Andreas stand zitternd auf.
Elisabeth unterdruckte einen Fluch. »Wir mussen das Pulverfass finden«, sagte sie. Andreas nickte und nahm die Laterne auf.
Gemeinsam durchsuchten sie schweigend die angrenzenden Kellergewolbe. Keiner der Ratsherren lie? sich mehr blicken. Schlie?lich fanden sie ganz in der Nahe der Tragodie ein einzelnes verdachtiges Weinfass und offneten es. Es war bis zum Rand mit Schwarzpulver gefullt. Die Lunte lag daneben; offenbar war Heynrici bei seinen Vorbereitungen durch Andreas und den Buttel gestort worden. Elisabeth schaute den jungen, vor Kalte zitternden Geistlichen an. Er sah die Frage in ihren Augen.
»Nein«, flusterte er. »Ich werde es niemandem sagen. Ihr sollt frei weiterleben konnen.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und kusste ihn.
EPILOG
Am Tag nach der Hinrichtung kamen sie wieder zusammen. Andreas sa? nach der Fruhmesse in der Wohnstube Elisabeth Bonenbergs. Das machtige Giebelhaus in der Rheingasse war still geworden. Andreas betrachtete versonnen das schone Gesicht der jungen Frau, deren schwarzes hochgeschlossenes Kleid mit dem ebenfalls schwarzen, spitzenbesetzten Brusttuch einen harten Kontrast zu dem unter der Haube hervorlugenden blonden Haar bildete. Er schmeckte noch immer den Kuss, den Elisabeth ihm in den Gewolben unter dem Rathaus geschenkt hatte. Doch eine Wiederholung dieses Erlebnisses, das Andreas zu den schonsten seines Lebens zahlte, durfte es nicht geben.