Andreas. »Vielleicht tagen sie gar nicht«, rief er Elisabeth zu, wahrend er auf Krantz zulief. »Krantz!«, rief er. »Krantz, ist der Rat zusammengetreten?«
Der junge Ratsherr sah die beiden Gestalten, die da auf ihn zuliefen, mit gro?em Erstaunen an. Es hatte den Anschein, als wolle er fortgehen und sie nicht weiter beachten, doch dann uberlegte er es sich wohl anders. Er kam auf Andreas und Elisabeth zu. »Was ist denn mit Euch los?«
»Ist der Rat zusammengetreten?«, fragte Andreas noch einmal, als er vor dem jungen Mann stand und wild nach Luft rang.
»Vor einer halben Stunde. Ist das fur Euch wichtig?«
»Alle mussen das Rathaus sofort verlassen«, sagte Elisabeth. »Es kann jeden Moment in die Luft fliegen.«
Krantz schenkte ihr einen Blick, der zwischen Belustigung und Unverstandnis hin und her schwankte. Elisabeth zerrte ihn am Armel seines Tabbards. »Kommt mit. Helft mir! Mir werden die Ratsherren nicht zuhoren. Schnell!« Sie zog den widerstrebenden Krantz in Richtung des Eingangs.
Andreas huschte durch die Tur des Turmes und suchte nach dem Buttel. Er fand ihn unter der Philosophenkammer in seiner Wachstube. Als Andreas ihm von dem geplanten Anschlag auf die Ratsversammlung berichtete, fuhr er sich mit der gro?en Hand durch den ausladenden Bart. »Hmm«, meinte er. »Das kann ich einfach nicht glauben.«
»Wo konnte man ein Fass Schwarzpulver anbringen, wenn man den Ratssaal treffen will?«, fragte Andreas verzweifelt. »Wenn Ihr mir nicht glaubt, sehe ich halt selber nach. Wir durfen keine Zeit mehr verlieren. Wahrscheinlich hockt der Tater bereits irgendwo dort unten. Vielleicht legt er gerade in diesem Augenblick Feuer an die Lunte!«
Der Buttel dachte nach. Lange. Sehr lange. Andreas rang die Hande. »Was ist denn verloren, wenn wir nachsehen?«, sagte er verzweifelnd. »Auch Euer eigenes Leben ist in Gefahr. Ist Euch das etwa gleichgultig?«
Der Buttel sah ihn an, als sei ihm dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. Schlie?lich erhob er sich von seinem Stuhl, auf dem er die ganze Zeit uber gesessen hatte, nahm einen Bund mit gro?en Schlusseln vom Haken neben der Tur und verlie? seine Wachstube. Andreas atmete auf und folgte ihm. Der Buttel fuhrte ihn schweigend eine Wendeltreppe hinunter in die Katakomben des Rathauses. Am Fu? der Treppe nahm er eine Laterne von der Wand, entzundete sie und eilte wie ein Schatten durch die gewolbten Gange tief in den Eingeweiden der Erde. Andreas fuhlte sich, als traume er. Immer noch erwartete er jeden Moment die gro?e Detonation. Ganz fern kam ihm der Gedanke, dass er die Explosion nicht uberleben werde, doch es war ihm gleichgultig. Es war ihm, als befinde er sich au?erhalb seiner selbst. Die Schwelle zum Tod war fur ihn wie ein Spiegel, vor dem er stand und in dem er nur einen Fremden sah.
Als Elisabeth den gro?en Ratssaal betrat, fuhlte sie sich schwach und winzig. Der gewaltige Saal war ungeheuer lang und breit und besa? ein Spitzbogengewolbe aus Holz. Die Wande waren mit steinernem Ma?werk verziert, und das Licht fiel durch zweibahnige, gro?e Fenster in den Langseiten. Die Ratsherren in ihren schwarzen, strengen Habiten sa?en auf Gestuhlen entlang der Wande; einige spielten mit ihren braunen Amtsstaben, andere lauschten aufmerksam dem Burgermeister, der von der sudlichen Stirnwand aus eine Rede hielt. Als Elisabeth mit Krantz eintrat, dessen Armel sie noch immer fest gepackt hielt, richteten sich die Blicke aller Ratsherren auf sie. Der Burgermeister wandte sich hinter seinem gro?en Tisch an Elisabeth. Das hereinfallende Sonnenlicht zauberte blendende Reflexe auf seine schwere Amtskette. Er fragte mit donnernder Stimme: »Was soll diese Storung?«
Elisabeth rausperte sich und sagte: »Verzeiht mein Eindringen, doch Ihr schwebt in gro?ter Gefahr! Alle sollten sofort den Saal verlassen.«
Allgemeines Gelachter brach aus, durch das der Burgermeister sprach: »Krantz, was ist das fur ein Auftritt? Ihr seid ja immer fur Scherze gut, aber diesen hier verstehen wir nicht.«
Das Gelachter erstarb, als Krantz sagte: »Ich auch nicht. Hort Euch an, was diese Frau zu sagen hat, und trefft dann eine Entscheidung.«
Stille setzte ein. Totenstille. Nicht einmal das Rascheln eines Kleidungsstucks war mehr zu horen. Schnell berichtete Elisabeth von Heinrich Bonenbergs Aussage. Dann setzte ein Tumult ein. Manche wollten ihren Worten keinen Glauben schenken, andere sprangen von ihren Sitzen auf und sahen sie verstort an. »Eine Verschworung… eine Verschworung…«, tuschelte und wisperte es durch den ganzen Saal.
»Sind alle Ratsherren anwesend?«, fragte Elisabeth. »All jene, die heute fehlen, sind zusammen mit einigen Kaufleuten an dieser Verschworung beteiligt.« Blicke flogen durch den Raum. Entsetzen spielte sich auf einigen Gesichtern. Entsetzen und Erkenntnis. Elisabeth sah hinuber zu Krantz. Auch er hatte ursprunglich nicht an der Ratssitzung teilgenommen. Er war ihr au?erst widerstrebend in das Rathaus gefolgt. Das konnte nur eines bedeuten. Sie begriff, dass sie sich in die Gesellschaft einer Schlange begeben hatte.
Andreas wunderte sich, dass er keine Angst verspurte. Er eilte hinter dem Buttel durch endlose unterirdische Korridore und Hallen, bis er den Eindruck hatte, er konne sich keinesfalls mehr unter dem Rathaus befinden, sondern musse schon weit in den Bauch der Stadt eingedrungen sein. Er wurde immer muder. Weiter und weiter blieb er hinter dem Buttel zuruck, dessen Licht vor ihm wie ein Gluhwurmchen durch die Finsternis tanzte. Seine Schritte hallten von den feucht glanzenden Wanden wider; es horte sich an, als seien nicht nur sie beide, sondern eine ganze Armee hier unten. Erschopft blieb er stehen.
Das Licht vor ihm wurde verdunkelt. Es waren tatsachlich weitere Schritte gewesen, die er gehort hatte. Ein dumpfer Schlag, und der Buttel ging zu Boden. Ein schwarzer Umriss stulpte sich uber die Laterne, dann wurde sie wieder aufgehoben. Sie bewegte sich auf Andreas zu. Und der Schatten wurde zu einem Menschen. Als der junge Geistliche erkannte, wer da auf ihn zukam, entfuhr ihm ein unglaubiges: »Was? Ihr?« Dann hatte ihn die Gestalt erreicht.
Es war zu spat. Au?erdem war Krantz der Einzige, vor dem sie sich in Acht nehmen musste; alle anderen waren mogliche Opfer. Und sie schienen es endlich zu begreifen, nachdem Elisabeth wieder und wieder die wesentlichen Einzelheiten ihrer Geschichte erzahlt hatte. Ein regelrechter Aufruhr setzte ein. Einige Ratsmitglieder besturmten den Burgermeister, andere fluchteten sofort aus dem Saal. Krantz hingegen blieb. Als ob er ebenfalls erkannt hatte, dass er sich verdachtig gemacht hatte, rief er in den Tumult hinein: »Wir sollten sofort nach dem Schwarzpulver suchen! Schnell!«
Einige der Ratsherren durchsuchten daraufhin den Saal, doch naturlich fanden sie nichts. Unter der Fuhrung des Burgermeisters machte sich schlie?lich eine Gruppe von funf Mannern auf den Weg durch das Gebaude. Rasch kam man auf den Gedanken, dass die gro?te Sprengkraft erzielt wurde, wenn man die Ladung im Kellergewolbe unter dem Ratssaal anbrachte, denn dann wurde vermutlich das gesamte Rathaus einsturzen. Au?erdem konnte man dort unten am einfachsten ein so gro?es Fass verstecken und zunden. Also sturmten die Manner und Elisabeth nach unten. Sie achtete darauf, sich moglichst fern von Krantz zu halten. Sein trauriger, sanfter Blick hatte sie immer geblendet.
Mit Fackeln, die sie rasch aus den Halterungen an der Wand genommen und angesteckt hatten, liefen sie durch die Unterwelt des Rathauses. Es dauerte nicht lange, bis sie hinter der Biegung eines Ganges auf zwei Personen trafen, die sich gegenuberstanden. Reglos. Eine davon war Andreas. Was war mit ihm geschehen? Warum lief er nicht fort? Da sturzte sich der andere auf ihn. Mit einem Aufschrei eilte ihm Elisabeth zu Hilfe und fiel dem Angreifer in den Rucken. Der wirbelte herum und lie? die Laterne fallen, die er in der Linken gehalten hatte. Sie polterte zu Boden, erlosch aber nicht.
»Ihr?«, keuchte Elisabeth und hielt mitten in der Bewegung inne.
»Ja, ich«, flusterte Ulrich Heynrici und packte Elisabeths Kleid, weil er sie abschutteln wollte. Da war plotzlich Krantz neben ihr und stie? Heynrici ein langes Messer in die Seite. Mit einem seltsamen, pfeifenden Gerausch ging der alte Mann zu Boden, hielt sich aber noch an Elisabeths Kleid fest. Es riss an den Bandern, mit dem es vor der Brust geschnurt war, der Lange nach auf. Elisabeth stie? einen spitzen Schrei aus. Die anderen Ratsmitglieder hatten aufgeschlossen. Andreas schien aus seiner Benommenheit erwacht zu sein. Er sah Elisabeth im Schein der Fackeln an. Sah ihre entblo?te Brust. Sah
Andreas rieb sich die Augen. Nun wusste er, warum Elisabeth sich seiner Nahe immer entzogen hatte. Nun wusste er, warum Ludwig sie an Bonenberg verheiratet hatte. Nun wusste er, warum sie bei ihm geblieben war. Er wusste es in dem Moment, als er unter ihren schonen kleinen Brusten die zwei weiteren Warzen und die winzigen