Ausrustung aus Merlins Kombiwagen heraus- und wieder hineinzuhieven. Au?erdem war es seine Pflicht, die Requisiten zu bewachen, die aus sechs wei?en Kaninchen, drei Kanarienvogeln und zwei Hamstern bestanden. Wegen Merlins Angst, dass die Requisiten »aufgegessen werden konnten«, musste Toby mit ihnen in Zimmern von der Gro?e einer Besenkammer hausen, und Toby schien es, dass der ganze Sommer aus einem uberwaltigenden Gestank bestand. Er befand sich in einem Zustand physischer Erschopfung, bedingt durch das Tragen der schweren Gehause mit Trickseiten und falschen Boden und das Aufpassen auf die Requisiten, die dauernd davonliefen. Er war einsam und enttauscht. Er sa? da, starrte die schabigen kleinen Zimmer an und fragte sich, wozu er hier war und wie diese Tatigkeit ihn im Showgeschaft voranbringen sollte. Er ubte seine Imitationen vor dem Spiegel ein, und sein Publikum bestand aus Merlins ubelriechenden Tieren.
Eines Sonntags gegen Ende des Sommers rief Toby wie gewohnlich zu Hause an. Diesmal war sein Vater am Apparat.
»Toby hier, Pop. Wie geht's dir?«
Schweigen.
»Hallo! Bist du da?«
»Ja, ich bin da, Toby.« Etwas in der Stimme seines Vaters lie? Toby frosteln.
»Wo ist Mom?«
»Sie ist gestern Abend ins Krankenhaus gebracht worden.«
Toby packte den Horer so fest, dass er ihn fast zerquetschte. »Was ist passiert?«
»Der Doktor sagte, es war ein Herzanfall.«
Nein! Nicht seine Mutter! »Sie wird aber gesund werden, nicht wahr?« fragte Toby. Er schrie in die Sprechmuschel: »Sag mir, dass sie gesund werden wird, verdammt noch mal!«
Wie aus unendlicher Entfernung horte er seinen Vater unter Schluchzen sagen: »Sie – sie ist vor ein paar Stunden gestorben, mein Sohn.«
Die Worte uberfluteten Toby wie wei?gluhende Lava, versengten ihn, bis sein Korper sich anfuhlte, als stunde er in Flammen. Sein Vater log. Sie konnte nicht tot sein. Sie hatten einen Pakt geschlossen. Toby wurde beruhmt werden, und seine Mutter wurde an seiner Seite sein. Ein schones Penthouse wartete auf sie und eine Limousine mit Chauffeur und Pelze und Brillanten… Er schluchzte so sehr, dass er nicht atmen konnte. Er horte die ferne Stimme sagen: »Toby! Toby!«
»Ich komme sofort heim. Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen«, sagte sein Vater. »Aber du darfst nicht hierher kommen. Sie erwarten dich, Toby. Eileen bekommt bald ihr Kind. Ihr Vater will dich umbringen. Sie werden dir bei der Beerdigung auflauern.«
Er konnte also dem einzigen Wesen auf der Welt, das er liebte, nicht einmal Lebewohl sagen. Toby lag den ganzen Tag im Bett und hing seinen Erinnerungen nach. Die Bilder von seiner Mutter waren so lebhaft und lebendig. Sie war in der Kuche, kochte und sagte ihm, was fur ein bedeutender Mann er werden wurde; sie sa? im Theater, in der ersten Reihe, und rief: »Himmel! Was fur ein begabter Junge!«
Und sie lachte uber seine Imitationen und Witze. Und sie packte seinen Handkoffer. Wenn du ein beruhmter Star bist, wirst du mich nachkommen lassen. Er lag da, betaubt vor Qual, und dachte: Ich werde diesen Tag nie vergessen. Nicht, solange ich lebe. Der 14. August 1939. Dies ist der wichtigste Tag meines Lebens.
Er hatte recht. Nicht wegen des Todes seiner Mutter, sondern wegen eines Ereignisses, das sich in diesem Augenblick in Odessa, Texas, funfhundert Meilen entfernt, zutrug.
Das Krankenhaus war ein namenloses, vierstockiges Gebaude mit den typischen Merkmalen einer Wohlfahrtsinstitution. Das Innere war ein Kaninchengehege aus Kabinen, dazu bestimmt, Krankheiten zu diagnostizieren, sie zu lindern, zu heilen und manchmal auch zu begraben. Es war ein medizinischer Supermarkt, und fur jedermann war etwas da.
Es war vier Uhr morgens, die Stunde des stillen Todes oder des unregelma?igen Schlafes. Eine Atempause fur das Krankenhauspersonal, ehe es sich fur die Schlachten des nachsten Tages rustet.
Das Entbindungsteam im vierten OP war in Schwierigkeiten. Was als Routine-Entbindung begonnen hatte, war plotzlich ein Krisenfall geworden. Bis zur Entbindung selbst war alles normal verlaufen. Mrs. Karl Czinski war eine gesunde Frau in der Blute ihrer Jahre mit den breiten Huften einer Bauerin, die der Traum eines Geburtshelfers sind. Die Pre?wehen hatten eingesetzt, und alles verlief planma?ig.
»Stei?geburt«, kundigte der Geburtshelfer Dr. Wilson an. Das war keineswegs alarmierend. Obgleich nur drei Prozent aller Geburten Stei?geburten sind, lassen sich diese gewohnlich ohne Schwierigkeiten durchfuhren. Es gibt drei Arten von Stei?geburten: die naturliche, bei der keine Hilfe notig ist; diejenige, bei der ein Geburtshelfer gebraucht wird; und ein volliger Stillstand, so dass das Kind im Mutterscho? bleibt.
Dr. Wilson stellte mit Befriedigung fest, dass dies eine naturliche Geburt werden wurde. Er beobachtete, wie zuerst die Fu?e des Kindes, dann zwei kleine Beine herauskamen. Beim nachsten Pressen der Mutter erschienen die Schenkel des Kindes.
»Wir haben's beinahe geschafft«, sagte Dr. Wilson ermutigend. »Pressen Sie noch einmal.«
Mrs. Czinski tat es. Nichts geschah.
Er runzelte die Stirn. »Versuchen Sie's noch mal. Fester.«
Nichts.
Dr. Wilson legte die Hande um die Beine des Kindes und zog ganz sanft. Keine Bewegung. Er zwangte eine Hand an dem Kind vorbei durch den engen Gang in den Uterus und begann zu sondieren. Schwei?perlen traten auf seine Stirn. Die Entbindungsschwester tupfte sie ab.
»Wir bekommen Schwierigkeiten«, sagte Dr. Wilson leise.
Mrs. Czinski horte es. »Was ist los?« fragte sie.
»Alles bestens.« Dr. Wilson langte weiter hinein und versuchte sanft, das Kind nach unten zu drucken. Es ruhrte sich nicht. Er konnte fuhlen, dass die Nabelschnur zwischen dem Korper des Kindes und dem mutterlichen Becken zusammengepre?t und die Blutzufuhr des Kindes abgeschnitten war.
»Fotoskop!«
Die Entbindungsschwester griff nach dem Instrument und setzte es am Leib der Mutter an, horchte auf den Herzschlag des Kindes. »Er ist auf drei?ig herunter«, meldete sie. »Au?erdem Rhythmusstorungen.«
Dr. Wilsons Finger tasteten das Innere des Mutterleibes ab, sondierten und suchten.
»Ich verliere den Herzschlag des Fotus -« Die Stimme der Entbindungsschwester klang besorgt. »Er setzt aus!«
Sie hatten ein sterbendes Kind im Mutterscho?. Es gab noch eine geringe Chance fur die Wiederbelebung, wenn sie es rechtzeitig herausbekommen konnten. Sie hatten ein Maximum von vier Minuten, es zu entbinden, seine Lungen zu saubern und sein winziges Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Nach vier Minuten wurde der Gehirnschaden schwer und unwiderruflich sein.
»Stoppuhr an«, befahl Dr. Wilson.
Jeder im Raum blickte instinktiv auf, als die Zeiger der elektrischen Uhr an der Wand auf die Zwolf-Uhr- Position ruckten und der gro?e rote Sekundenzeiger seine erste Umdrehung machte.
Das Entbindungsteam ging an die Arbeit. Ein Atemgerat wurde an den Tisch herangeschoben, wahrend Dr. Wilson sich bemuhte, das Kind vom Beckenboden zu losen. Er begann mit der Bracht-Methode, versuchte, das Kind zu verschieben, wobei er dessen Schultern zusammendruckte, damit es durch die Offnung der Vagina gleiten konnte. Vergeblich.
Einer Lernschwester, die zum ersten Mal an einer Entbindung teilnahm, wurde plotzlich schlecht. Sie eilte aus dem Raum.
Drau?en, vor der Tur des OP, stand Karl Czinski und knetete nervos seinen Hut in den gro?en schwieligen Handen. Dies war der glucklichste Tag seines Lebens. Er war Tischler, ein einfacher Mann, der viel von fruher Heirat und gro?er Familie hielt. Dieses Kind wurde das erste sein, und er konnte seine Erregung kaum zugeln. Er liebte seine Frau sehr und wusste, dass er ohne sie verloren ware. Er dachte noch an seine Frau, als die Schwester aus dem Krei?saal sturzte, und rief ihr zu: »Wie geht es ihr?«
Die verstorte junge Schwester, deren Gedanken ausschlie?lich mit dem Kind beschaftigt waren, rief: »Sie ist tot! Sie ist tot!« und sturzte davon, weil sie sich ubergeben musste.
Mr. Czinski wurde kreidewei?. Er fuhr sich an die Brust und rang nach Luft. Als man ihn in die Intensivstation brachte, war ihm nicht mehr zu helfen.
Im Krei?saal arbeitete Dr. Wilson wie rasend im Wettlauf mit der Uhr. Er konnte die Nabelschnur beruhren und den Druck darauf fuhlen, aber es gab keine Moglichkeit, ihn zu mindern. Er musste gegen den Impuls