Bataillon an die Front.

Wenn Toby sich in spateren Jahren an den Krieg erinnerte, waren es nicht die Schlachten, die er im Gedachtnis behalten hatte. In Saint L6 war er ein toller Erfolg gewesen, als er zu einer Bing-Crosby-Platte sang und agierte. In Aachen war er ins Lazarett geschlichen und hatte den Verwundeten zwei Stunden lang Witze erzahlt, ehe die Schwestern ihn hinauswarfen. Er erinnerte sich mit Befriedigung, dass ein GI derart gelacht hatte, dass alle seine Nahte geplatzt waren. In Metz war er nicht angekommen, aber Toby war der Meinung, dass es nur an der Nervositat des Publikums gelegen hatte, weil Nazi-Bomber die Stadt uberflogen.

Tobys Bewahrung im Kampfgeschehen war eher zufalliger Natur. Er wurde fur seinen Einsatz bei der Gefangennahme eines deutschen Kommandopostens lobend erwahnt. In Wirklichkeit hatte Toby keine Ahnung gehabt, was sich abspielte. Er hatte John Wayne nachgeahmt und war so fortgerissen worden, dass alles voruber war, ehe er auch nur Angst haben konnte.

Fur Toby war nur seine Unterhaltungskunst wichtig. In Cherbourg ging er mit zwei Freunden in ein Bordell, und wahrend sie oben waren, blieb Toby unten im Salon und gab fur Madame und zwei ihrer Madchen sein Repertoire zum besten. Danach schickte ihn Madame als Gast des Hauses nach oben.

Das war Tobys Krieg. Alles in allem war er nicht schlecht, und die Zeit ging schnell voruber. 1945, bei Kriegsende, war Toby beinahe funfundzwanzig. Au?erlich war er keinen Tag alter geworden. Er hatte dasselbe freundliche Gesicht und dieselben verfuhrerischen blauen Augen und dieselbe hilflose, unschuldige Art.

Alle redeten uber die Heimkehr. Da warteten eine junge Frau in Kansas City, eine Mutter und ein Vater in Bayonne, ein Geschaft in Saint Louis. Auf Toby wartete nichts und niemand. Au?er Beruhmtheit.

Er entschloss sich, nach Hollywood zu gehen. Es war langsam Zeit, dass Gott sein Versprechen einloste.

»Kennt ihr Gott? Habt ihr das Gesicht von Jesus gesehen? Ich habe Ihn gesehen, Bruder und Schwestern, und ich habe Seine Stimme gehort, aber Er spricht nur zu denen, die vor Ihm knien und ihre Sunden bekennen. Gott verabscheut die Unbu?fertigen. Der Bogen des gottlichen Zorns ist gespannt, und der lodernde Pfeil Seines gerechten Zorns zielt auf eure bosen Herzen, und jeden Augenblick wird Er loslassen, und der Pf eil Seiner Strafe wird eure Herzen durchbohren! Schaut zu Ihm auf, ehe es zu spat ist!«

Josephine blickte entsetzt zur Spitze des Zeltes empor, wartete darauf, dass ein lodernder Pfeil auf sie herunterzischte. Sie druckte die Hand ihrer Mutter, aber ihre Mutter war sich dessen nicht bewusst. Ihr Gesicht gluhte, und ihre Augen glanzten vor Inbrunst.

»Lobet Jesus!« brullte die Gemeinde.

Die Evangelisations-Versammlungen fanden in einem riesigen Zelt am Stadtrand von Odessa statt, und Mrs. Czinski nahm Josephine zu allen mit. Die Kanzel des Predigers war eine zwei Meter uber dem Boden errichtete holzerne Tribune. Direkt vor der Tribune befand sich der »Hort der himmlischen Herrlichkeit«, eine Art Bretterverschlag, wohin die Sunder gebracht wurden, um zu bereuen und bekehrt zu werden. Hinter dem Verschlag standen lange Reihen harter Holzbanke, dicht gefullt mit singenden, fanatischen Suchern des Seelenheils, in Ehrfurcht erstarrt vor den Drohungen der Holle und der Verdammung. Fur ein sechsjahriges Kind war es eine Qual. Die Evangelisten waren Bibelglaubige, Pfingstan-beter, Methodisten und Adventisten, und alle atmeten sie Hollenqualen und Verdammung.

»Kniet nieder, ihr Sunder, und zittert vor der Macht Jehovas! Denn euer gottloses Verhalten hat Jesus Christus das Herz gebrochen, und dafur sollt ihr die Strafe des Zornes Seines Vaters erleiden! Seht euch unter den Gesichtern der Kinder hier um, die in Lust empfangen wurden und voller Sunde sind.«

Und die kleine Josephine schamte sich zu Tode, fuhlte, dass jeder sie anstarrte. Wenn die schlimmen Kopfschmerzen einsetzten, wusste Josephine, dass sie eine Strafe Gottes waren. Sie betete jeden Abend, dass sie weggingen, damit sie wusste, dass Gott ihr vergeben hatte. Sie hatte gerne gewusst, was sie so Schlechtes getan hatte.

»Und ich werde Halleluja singen, und ihr werdet Halleluja singen, und wir alle werden Halleluja singen, wenn wir heimkehren.«

»Alkohol ist das Blut des Teufels, Tabak ist sein Atem, und Unzucht ist sein Vergnugen. Habt ihr euch mit Satan auf einen Handel eingelassen? Dann sollt ihr ewig in der Holle brennen, auf immer verdammt, weil Luzi-fer kommt, um euch zu holen!«

Und Josephine zitterte und sah sich verstort um, klammerte sich heftig an die Holzbank, damit der Teufel sie nicht holen konnte.

Sie sangen: »Ich mochte in den Himmel kommen, meine lang gesuchte Freud.«

Aber Josephine missverstand den Text und sang: »Ich mochte in den Himmel kommen, mit meinem langen guten Kleid.«

Nach den donnernden Strafpredigten kamen die Wunder. Josephine sah gleicherma?en entsetzt und fasziniert zu, wie eine Prozession verkruppelter Frauen und Manner zum »Hort der himmlischen Herrlichkeit« hinkte und kroch und im Rollstuhl fuhr, wo der Prediger ihnen die Hande auflegte und den himmlischen Machten empfahl, sie zu heilen. Sie warfen ihre Stocke und Krucken weg, und einige von ihnen plapperten in einem hysterischen Kauderwelsch, und Josephine duckte sich in panischer Angst.

Die Evangelisations-Versammlungen endeten immer damit, dass ein Teller herumgereicht wurde. »Jesus beobachtet euch – und Er hasst einen Geizhals.« Und dann war es vorbei. Aber die Angst verlie? Josephine lange nicht.

Im Jahre 1946 hatte die Stadt Odessa, Texas, eine dunkelbraune Patina. Vor langer Zeit, als die Indianer dort gelebt hatten, hatte sie nach Wustensand gerochen. Jetzt roch sie nach Ol.

Es gab zwei Arten von Leuten in Odessa: Ol-Leute und die anderen. Die Ol-Leute schauten nicht auf die anderen hinunter – sie taten ihnen einfach leid, denn sicherlich war es Gottes Wille, dass jedermann Privatflugzeuge und Cadillacs und Swimming-pools hatte und Sektparties fur hundert Gaste gab. Deshalb hatte Er fur Ol in Texas gesorgt.

Josephine Czinski wusste nicht, dass sie eine der anderen war. Mit sechs war Josephine Czinski ein schones Kind, mit schimmerndem schwarzen Haar, tiefbraunen Augen und einem lieblichen ovalen Gesicht.

Josephines Mutter war eine geschickte Naherin, die bei den reichen Leuten in der Stadt arbeitete, und sie nahm Josephine mit, wenn sie zur Anprobe zu den Ol-Damen ging und Ballen von marchenhaftem Stoff in uberwaltigende Abendkleider verwandelte. Die Ol-Leute mochten Josephine, weil sie ein hofliches, freundliches Kind war, und sie mochten sich selbst dafur, dass sie sie mochten. Sie waren der Meinung, es sei demokratisch von ihnen, einem armen Kind von der anderen Seite der Stadt zu erlauben, mit ihren Kindern zu verkehren. Josephine war Polin, aber sie sah nicht so aus, und obgleich sie nie ein Mitglied des Klubs werden konnte, waren sie glucklich, ihr die Vorrechte einer Besucherin einzuraumen. Josephine durfte mit den Ol-Kindern spielen und ihre Fahrrader und Ponies und Hundert-Dollar-Puppen benutzen, so dass sie allmahlich ein Doppelleben fuhrte. Da war ihr Leben zu Hause in der winzigen Holzbaracke mit arg mitgenommenen Mobeln und der Wasserleitung drau?en und Turen, die in den Angeln hingen. Auf der anderen Seite Josephines Leben in prachtigen Villen auf weitlaufigen Landgutern. Wenn Josephine bei Cissy Topping oder Lindy Ferguson uber Nacht blieb, bekam sie ein gro?es Schlafzimmer ganz fur sich, und das Fruhstuck wurde ihr von Zimmermadchen oder Butlern serviert. Josephine liebte es, mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, aufzustehen, hinunterzugehen und die schonen Dinge im Haus, die bezaubernden Gemalde und das schwere Silber mit Monogramm und die von Zeit und Geschichte blankpolierten Antiquitaten, zu bewundern. Sie betrachtete sie prufend und liebkoste sie und sagte sich, dass auch sie eines Tages solche Sachen besitzen wurde, denn eines Tages wurde sie in einem prachtigen Haus wohnen und von Schonheit umgeben sein.

Aber in beiden Welten fuhlte Josephine sich einsam. Sie furchtete sich, ihrer Mutter gegenuber von ihren Kopfschmerzen und ihrer Angst vor Gott zu sprechen, weil ihre Mutter eine grubelnde Fanatikerin geworden war, die besessen auf die Strafe Gottes wartete. Mit den Ol-Kindern wollte Josephine nicht uber ihre Angste sprechen, weil die von ihr erwarteten, dass sie heiter und freundlich war wie sie selbst. Daher war Josephine gezwungen, mit ihren Schrecken allein fertig zu werden.

An Josephines siebentem Geburtstag rief das Warenhaus Brubaker zu einem Foto-Wettbewerb auf, bei dem das schonste Kind in Odessa gewahlt werden sollte. Das Wettbewerbsbild musste in der Foto-Abteilung des Warenhauses aufgenommen werden. Der Preis war ein Goldpokal, in den spater der Name der Siegerin eingraviert werden sollte. Der Pokal war im Schaufenster des Warenhauses ausgestellt, und Josephine ging jeden Tag an dem Fenster vorbei, um ihn anzustarren. Sie wunschte ihn sich mehr, als sie sich je in ihrem Leben etwas gewunscht hatte. Josephines Mutter wollte nicht, dass sie an dem Wettbewerb teilnahm – »Eitelkeit ist der Spiegel

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