Am Sonnabend, dem 14. Juni, marschierte die deutsche 5. Armee in ein niedergeschmettertes Paris ein. Die Maginot-Linie hatte sich als das gro?te Fiasko in der Kriegsgeschichte herausgestellt, und Frankreich lag verteidigungslos vor einer der machtigsten Kriegsmaschinen, die die Welt je gekannt hatte.

Der Tag begann mit einer eigentumlichen Wolkendecke, die uber der Stadt lag, einer erschreckenden Wolke unbekannten Ursprungs. Wahrend der letzten achtundvierzig Stunden hatten Gerausche eines sto?weise einsetzenden Artilleriefeuers die unnaturliche, eingeschuchterte Stille von Paris unterbrochen. Der Kanonendonner war au?erhalb der Stadt, aber der Widerhall drang bis ins Herz von Paris. Es hatte eine Flut von Geruchten gegeben, die sich wie eine Welle uber den Rundfunk, in Zeitungen und von Mund zu Mund ergossen hatte. Die Boches griffen die franzosische Kuste an ... London war zerstort ... Hitler hatte ein Ubereinkommen mit der britischen Regierung getroffen ... Die Deutschen wurden Paris mit einer todlichen neuen Bombe ausradieren. Zuerst war jedes Gerucht wie ein Evangelium aufgenommen worden, das seinen eigenen Schrecken erzeugte, aber dauernde Krisen uben schlie?lich eine einschlafernde Wirkung aus, als ob Geist und Korper, au?erstande, noch mehr Schrecken zu absorbieren, sich hinter einen Schutzschild der Apathie zuruckzogen. Jetzt waren die Geruchtemuhlen vollstandig zum Stillstand gekommen, die Zeitungspressen druckten nicht mehr, und die Rundfunkstationen sendeten nicht mehr. Der menschliche Instinkt war an die Stelle der Maschinen getreten, und die Pariser spurten, dass dies ein Tag der Entscheidung war. Die graue Wolke war ein

Omen.

Und dann schwarmten die deutschen Heuschrecken herein.

Plotzlich war Paris eine Stadt voll auslandischer Uniformen und fremder Menschen, die eine seltsame gutturale Sprache sprachen, die breiten, mit Baumen gesaumten Avenuen in gro?en Mercedes-Limousinen mit der Nazi-Flagge entlangfuhren oder sich auf den Burgersteigen drangten, die jetzt ihnen gehorten.

Innerhalb von vierzehn Tagen hatte sich eine verbluffende Verwandlung vollzogen. Uberall tauchten Schilder in Deutsch auf. Denkmaler franzosischer Helden waren entfernt worden, und das Hakenkreuz flatterte von allen offentlichen Gebauden. Deutsche Bemuhungen, alles Gallische auszurotten, nahmen lacherliche Ausma?e an. Die Bezeichnungen an Hei?- und Kaltwasserhahnen wurden von chaud und froid in warm und kalt geandert. Die Place de Broglie in Stra?burg wurde in Adolf-Hitler-Platz umbenannt.

Die deutschen Besatzungstruppen amusierten sich. Wenn die franzosische Kuche auch zu schwer und zu saucenreich war, war sie doch eine angenehme Abwechslung von der Kriegsverpflegung. Die Soldaten wussten nicht und es interessierte sie auch nicht, dass Paris die Stadt Baudelaires, Dumas' und Molieres war. Fur sie war Paris eine grelle, gierige, ubertrieben geschminkte Hure mit empor geschobenen Rocken, und sie nahmen sie, jeder auf seine Weise. Goring und Himmler raubten den Louvre aus und beschlagnahmten die reichen Wohnsitze.

Wenn Korruption und Opportunismus in Frankreichs Krisenzeit an die Oberflache drangen, dann aber auch der Heroismus. Eine der Geheimwaffen des Untergrunds waren die Pompiers, die Feuerwehr, die in Frankreich der Armee unterstellt ist. Die Deutschen hatten Dutzende von Gebauden furs Heer, fur die Gestapo und verschiedene Ministerien beschlagnahmt; Standort und Lage dieser Gebaude waren naturlich kein

Geheimnis. In einem Hauptquartier der Resistance in St. Remy bruteten Widerstands-Fuhrer uber gro?en Stadtplanen, auf denen die genaue Lage jedes einzelnen Gebaudes verzeichnet war. Dann wurden Experten bestimmte Ziele zugewiesen, und am folgenden Tag fuhr ein Wagen in schnellem Tempo oder ein unschuldig aussehender Radfahrer an einem der Gebaude vorbei und warf eine selbst gebastelte Bombe durchs Fenster. Bis dahin war der Schaden gering. Das Raffinierte des Planes lag in dem, was dann folgte.

Die Deutschen mobilisierten die Pompiers, das Feuer zu loschen.

Nun gibt es eine feststehende Regel in allen Landern, dass bei einem Brand die Feuerwehr die alleinige Verantwortung und Aufsicht hat. In Paris war das genauso. Die Pompiers sturzten in das Gebaude, wahrend die Deutschen lammfromm daneben standen und zusahen, wie die mit ihren Hochdruckschlauchen, Axten und – wenn sie die Moglichkeit hatten – mit ihren eigenen Brandbomben alles Erreichbare zerstorten. Auf diese Weise gelang es der Untergrundbewegung, kostbare in den Festungen der Wehrmacht und der Gestapo verschlossene deutsche Archive zu vernichten. Es dauerte fast sechs Monate, bis das deutsche Oberkommando merkte, was sich hier abspielte, und inzwischen war nicht wieder gutzumachender Schaden angerichtet worden. Die Gestapo konnte nichts beweisen, aber die Mitglieder der Pompiers wurden verhaftet und eingesperrt.

Alles, von den Lebensmitteln bis zur Seife, wurde knapp. Es gab kein Benzin, kein Fleisch, keine Molkereiprodukte. Die Deutschen hatten alles beschlagnahmt. Geschafte mit Luxuswaren blieben offen, aber ihre einzigen Kunden waren Soldaten, die in Besatzungsgeld bezahlten.

»Wer wird die Noten einlosen?« fragten die franzosischen Ladenbesitzer jammernd.

Und die Deutschen grinsten: »Die Bank von England.«

Jedoch litten nicht alle Franzosen. Fur die mit Geld und Beziehungen gab es immer noch den Schwarzmarkt.

Noelle Pages Leben anderte sich sehr wenig durch die Besetzung. Sie arbeitete als Vorfuhrdame bei Chanel in der Rue Canbon in einem hundertfunfzig Jahre alten Sandsteinhaus, das au?erlich den ublichen Anblick bot, innen jedoch elegant eingerichtet war. Wie alle Kriege hatte auch dieser uber Nacht Millionare hervorgebracht, und es fehlte nicht an Kunden. Noelle erhielt mehr Antrage denn je; der einzige Unterschied bestand darin, dass die meisten von Deutschen kamen. Wenn sie keinen Dienst hatte, sa? sie stundenlang in kleinen Trottoir-Cafes auf den Champs-Elysees oder auf dem linken Ufer in der Nahe des Pont Neuf. Hunderte von Mannern in deutschen Uniformen flanierten vorbei, viele von ihnen mit jungen Franzosinnen. Die franzosischen Zivilisten waren entweder zu alt oder unbefriedigend, und Noelle nahm an, dass die jungeren ins Lager gebracht oder aber zum Militardienst eingezogen worden waren. Sie erkannte die Deutschen mit einem Blick, auch wenn sie in Zivil waren. Auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Arroganz, das Aussehen von Eroberern seit den Tagen Alexanders und Hadrians. Noelle hasste sie nicht und mochte sie auch nicht. Sie beruhrten sie einfach nicht.

Sie war von ihrem regen Innenleben in Anspruch genommen, plante sorgfaltig jeden Schritt. Sie kannte ihr Ziel genau und wusste, dass nichts sie davon abbringen konnte. Sobald sie es sich leisten konnte, engagierte sie einen Privatdetektiv, der in dem Scheidungsprozess einer ihrer Kolleginnen erfolgreich tatig gewesen war. Der Mann hie? Christian Barbet. Er sa? in einem kleinen schabigen Buro in der Rue St. Lazare. Auf dem Schild an der Tur stand:

NACHFORSCHUNGEN PRIVAT UND GESCHAFTLICH

ERMITTLUNGEN

VERTRAULICHE AUSKUNFTE

FAHNDUNGEN BEWEISE

Das Schild war fast gro?er als das Buro. Barbet war klein und glatzkopfig, hatte gelbe schadhafte Zahne, enge Schielaugen und nikotinfleckige Finger.

»Was kann ich fur Sie tun?« fragte er Noelle.

»Ich mochte Auskunft uber jemanden in England.«

Er blinzelte misstrauisch. »Was fur eine Auskunft?«

»Alles. Ob er verheiratet ist, mit wem er verkehrt. Alles. Ich mochte ein Sammelalbum uber ihn anlegen.«

Barbet kratzte sich in der Leistengegend und starrte sie an.

»Ist er Englander?«

»Amerikaner. Er ist Pilot in der Adler-Staffel in der RAF.«

Barbet rieb sich unbehaglich den kahlen Schadel. »Ich wei? nicht«, brummte er. »Wir haben Krieg. Wenn ich bei dem Versuch erwischt wurde, Auskunfte uber einen Flieger aus England zu bekommen«

Seine Stimme verlor sich, und er zuckte ausdrucksvoll die Schultern. »Die Deutschen schie?en zuerst und fragen danach.«

»Ich will keine militarischen Auskunfte«, versicherte Noelle ihm. Sie offnete ihre Handtasche und zog ein Bundel Francnoten heraus. Barbet musterte sie gierig.

»Ich habe Verbindungen in England«, sagte er vorsichtig, »aber es wird teuer sein.«

Und so fing es an. Es vergingen drei Monate, ehe der kleine Detektiv Noelle anrief. Sie ging in sein Buro, und ihre ersten Worte waren: »Lebt er?«, und als Barbet nickte, sank sie erleichtert zusammen, und Barbet dachte: Es muss wunderbar sein, so von jemandem geliebt zu werden.

»Ihr Freund ist verlegt worden«, sagte Barbet.

»Wohin?«

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