Er blickte auf den Notizblock auf seinem Schreibtisch. »Er war der 609. Staffel der RAF zugeteilt. Dann ist er in die 121. Staffel in Martlesham East in East Anglia verlegt worden. Er fliegt Hurri —«

»Das interessiert mich nicht.«

»Sie bezahlen dafur«, sagte er. »Warum sollten Sie fur Ihr Geld nicht etwas kriegen?« Er blickte wieder auf seine Notizen. »Er fliegt Hurricanes. Vorher flog er amerikanische Buffaloes.«

Er schlug eine Seite um und fugte hinzu: »Jetzt wird es ein bisschen personlich.«

»Weiter«, sagte Noelle.

Barbet zuckte die Schultern. »Hier ist eine Liste von Madchen, mit denen er schlaft. Ich wusste nicht, ob Sie«

»Ich sagte Ihnen ja – alles.«

Es war ein merkwurdiger Ton in ihrer Stimme, der ihn verbluffte. Hier war etwas nicht ganz Normales, etwas, das nicht echt klang. Christian Barbet war ein drittklassiger Ermittler, der es mit drittklassigen Kunden zu tun hatte, aber eben aus diesem Grunde hatte er einen Instinkt fur die Wahrheit entwickelt, hatte eine Nase fur Tatsachen. Das schone, in seinem Buro stehende Madchen beunruhigte ihn. Zuerst hatte Barbet geglaubt, sie wolle ihn vielleicht in eine Spionagesache hineinziehen. Dann folgerte er, dass sie eine sitzen gelassene Frau war, die Beweise gegen ihren Mann sammelte. Da hatte er sich geirrt, wie er zugab, und jetzt war er au?erstande herauszufinden, was seine Klientin wollte oder warum. Er reichte Noelle die Liste von Larry Douglas' Freundinnen und beobachtete ihr Gesicht, als sie las. Sie hatte genauso gut eine Wascheliste uberfliegen konnen.

Sie las zu Ende und blickte auf. Christian Barbet war auf ihre nachsten Worte absolut unvorbereitet. »Ich bin sehr erfreut«, sagte Noelle.

Er sah sie an und blinzelte rasch.

»Bitte, rufen Sie mich an, wenn Sie Weiteres zu berichten haben.«

Noch lange nachdem Noelle Page gegangen war, sa? Barbet in seinem Buro und blickte zum Fenster hinaus, versuchte zu entratseln, was seine Klientin eigentlich vorhatte.

Die Theater in Paris kamen wieder in Schwung. Die Deutschen gingen hin, um ihre Siege zu feiern und mit den schonen Franzosinnen zu protzen, die sie wie Trophaen am Arm fuhrten. Die Franzosen gingen hin, um ein paar Stunden zu vergessen, dass sie ein ungluckliches, besiegtes Volk waren.

In Marseille war Noelle ein paar Mal ins Theater gegangen, hatte aber nur unbedeutende Amateurstucke, von viertklassigen Schauspielern fur ein gleichgultiges Publikum gespielt, gesehen. Das Theater in Paris war etwas ganz anderes. Es war lebendig und spruhend und voll des Esprits und der Grazie Molieres, Racines und Colettes. Der unvergleichliche Sacha Guitry hatte sein Theater wieder eroffnet, und Noelle ging hin, um ihn spielen zu sehen. Sie besuchte eine Wiederaufnahme von Buchners Dantons Tod und ein Stuck mit dem Titel Asmodee von einem viel versprechenden jungen Verfasser namens Francois Mauriac. Sie ging in die Comedie Franchise, um Pirandellos Chacun La Verite und Rostands Cyrano de Bergerac zu sehen. Noelle ging immer allein, blind gegenuber den bewundernden Blicken ihrer Umgebung, vollkommen versunken in das auf der Buhne sich abspielende Drama. Etwas von dem Zauber hinter dem Rampenlicht schlug eine ansprechbare Saite in ihr an. Sie spielte eine Rolle wie die Akteure auf der Buhne, gab vor, etwas zu sein, was sie nicht war, verbarg sich hinter einer Maske.

Besonders ein Stuck, Geschlossene Gesellschaft von Jean Paul Sartre, bewegte sie tief. Der Star war Philippe Sorel, eines der Idole Europas. Sorel war klein, hasslich und bullig, mit einer gebrochenen Nase und dem Gesicht eines Boxers. Aber sowie er sprach, geschah ein Wunder. Er verwandelte sich in einen empfindsamen, gut aussehenden Mann. Es ist wie die

Geschichte vom Froschkonig, dachte Noelle, als sie ihn spielen sah. Aber er ist beides, Prinz und Frosch. Immer wieder ging sie hin, sa? in der ersten Reihe, studierte sein Spiel, versuchte, das Geheimnis seines Magnetismus zu ergrunden.

Eines Abends reichte ein Platzanweiser in der Pause Noelle einen Zettel. Darauf stand: »Ich habe Sie Abend fur Abend im Publikum gesehen. Bitte kommen Sie heute Abend hinter die Buhne, damit ich Sie kennen lernen kann. P. S.« Noelle las es, genoss es. Nicht, weil Philippe Sorel sie im geringsten interessierte, sondern weil sie wusste, dass dies der Anfang war, den sie schon immer gesucht hatte.

Nach der Vorstellung ging sie hinter die Buhne. Ein alter Mann am Buhneneingang wies sie in Sorels Garderobe. Er sa? vor einem Schminkspiegel, nur in Shorts, und schminkte sich ab. Er musterte Noelle im Spiegel. »Es ist unglaublich«, sagte er schlie?lich. »In der Nahe sind Sie noch schoner.«

»Danke, Monsieur Sorel.«

»Wo kommen Sie her?«

»Aus Marseille.«

Sorel drehte sich um, um sie genauer anzusehen. Seine Augen wanderten von ihren Fu?en langsam bis zu ihrem Kopf, ubergingen nichts. Noelle stand bewegungslos unter seinem prufenden Blick. »Suchen Sie eine Anstellung?« fragte er.

»Nein.«

»Ich zahle nie dafur«, sagte Sorel. »Von mir kriegen Sie nur eine Freikarte fur mein Stuck. Wenn Sie Geld haben wollen, ficken Sie einen Bankier.«

Noelle stand ruhig da. Schlie?lich sagte Sorel: »Was suchen Sie denn?«

»Ich glaube, ich suche Sie.«

Sie soupierten zusammen und gingen nachher in Sorels Appartement in der schonen Rue Maurice-Barres, von wo aus man die Ecke uberblickte, die in den Bois de Boulogne uberging. Philippe Sorel war ein gewandter Liebhaber, erstaunlich aufmerksam und selbstlos. Sorel hatte von Noelle nichts als ihre Schonheit erwartet und war von ihrer Vielseitigkeit im Bett uberrascht.

»Du bist phantastisch«, sagte er. »Wo hast du das gelernt?«

Noelle uberlegte einen Augenblick. Es war eigentlich keine Frage des Lernens, es war eine Gefuhlsfrage. Fur sie war der Korper eines Mannes ein Instrument, auf dem man spielte, das man bis in seine tiefsten Tiefen erforschen musste, um die richtigen Saiten anzuschlagen und darauf aufzubauen, wobei ihr eigener Korper dazu diente, au?erste Harmonie zu schaffen.

»Es ist mir angeboren«, sagte sie einfach.

Ihre Fingerspitzen spielten leise um seine Lippen, schnelle kleine Schmetterlingsberuhrungen, dann glitten sie uber Brust und Bauch. Sie sah, wie er wieder steif und hart wurde. Sie stand auf, ging ins Badezimmer, kam einen Augenblick spater zuruck und nahm seinen Penis in den Mund. Ihr Mund war hei?, mit warmem Wasser gefullt. »O Jesus«, sagte er.

Sie verbrachten die ganze Nacht mit ihren Liebesspielen, und am Morgen bat Sorel Noelle, zu ihm zu ziehen.

Noelle lebte mit Philippe Sorel ein halbes Jahr zusammen. Sie war weder glucklich noch unglucklich. Sie wusste, dass ihre Anwesenheit Sorel ekstatisch glucklich machte, aber dies spielte bei Noelle nicht die geringste Rolle. Sie betrachtete sich lediglich als Studentin, die entschlossen war, jeden Tag etwas Neues zu lernen. Er war eine Schule, auf die sie ging, ein Teilchen nur in ihrem gro?en Plan. Fur Noelle lag nichts Personliches in ihrer Verbindung, denn sie gab nichts von sich selbst. Diesen Fehler hatte sie zweimal gemacht, und sie wurde ihn nie wieder begehen. In Noelles Gedanken war Raum nur fur einen Mann, und das war Larry Douglas. Wenn Noelle an der Place des Victoires oder an einem Park oder einem Restaurant vorbeikam, wohin Larry sie gefuhrt hatte, spurte sie, wie der Hass in ihr wieder aufstieg, und sie wurgte, dass sie kaum atmen konnte. Und da war noch etwas, das sich in diesen Hass schlich, etwas, das Noelle nicht definieren konnte.

Zwei Monate nachdem Noelle zu Sorel gezogen war, bekam sie einen Anruf von Christian Barbet.

»Ich habe wieder einen Bericht fur Sie«, sagte der kleine Detektiv.

»Geht es ihm gut?« fragte Noelle schnell.

Wieder hatte Barbet jenes unbehagliche Gefuhl. »Ja«, sagte er.

Noelles Stimme klang erleichtert. »Ich komme gleich.«

Der Bericht bestand aus zwei Teilen. Der erste betraf Larry Douglas' militarische Laufbahn. Er hatte funf deutsche Maschinen abgeschossen und war das erste amerikanische Flieger-As im Krieg. Er war zum Hauptmann befordert worden. Der zweite Teil des Berichtes interessierte sie mehr. Larry war in der Londoner Kriegsgesellschaft sehr beliebt geworden und hatte sich mit der Tochter eines britischen Admirals verlobt. Diesen Angaben folgte eine Liste von Madchen, mit denen Larry schlief, von Show-Girls bis zur Frau eines Unterstaatssekretars im Ministerium.

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