»Um Himmels willen, Noelle«, flehte er, »tu das nicht! Wir lieben uns doch, wir werden heiraten.« Die nachste halbe Stunde redete er auf sie ein, argumentierte, drohte, schmeichelte, und inzwischen hatte Noelle zu Ende gepackt und die Wohnung verlassen, und Sorel hatte keine Ahnung, warum er sie verloren hatte, denn er wusste nicht, dass er sie nie besessen hatte.

Armand steckte tief in der Regie-Arbeit an seinem neuen Stuck, dessen Premiere in vierzehn Tagen sein sollte, und verbrachte den ganzen Tag mit Proben im Theater. In der Regel dachte Gautier, wenn er ein Stuck inszenierte, an nichts anderes. Ein Teil seines Genies war die intensive Konzentration, die er seiner Arbeit widmen konnte. Nichts existierte fur ihn au?er den vier Wanden des Theaters und den Schauspielern, mit denen er arbeitete. An diesem Tag jedoch war es anders. Gautier entdeckte, dass seine Gedanken unablassig zu Noelle und der unglaublichen Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, abschweiften. Die Schauspieler gingen eine Szene durch, hielten inne und warteten auf seine Kritik, und Gautier merkte plotzlich, dass er gar nicht hingehort hatte. Wutend auf sich versuchte er, sich auf seine Regie-Arbeit zu konzentrieren, aber die Erinnerungen an Noelles nackten Korper und die wunderbaren Dinge, die er ihm geboten hatte, kehrten immer wieder zuruck. Mitten in einer dramatischen Szene entdeckte er, dass er mit einer Erektion auf der Buhne herumlief, und er musste sich einen Augenblick entschuldigen und hinausgehen.

Da Gautier einen analytischen Verstand hatte, versuchte er zu ergrunden, was an diesem Madchen derart auf ihn eingewirkt hatte. Gut, Noelle war schon, aber er hatte mit einigen der schonsten Frauen der Welt geschlafen. Sie war vollendet und gewandt im Liebesakt, aber das waren andere Frauen auch, mit denen er geschlafen hatte. Sie schien intelligent, aber nicht geistreich; ihre Personlichkeit war angenehm, aber nicht kompliziert. Da war noch etwas anderes, etwas, worauf der Regisseur nicht wirklich den Finger legen konnte. Und dann erinnerte er sich an ihr sanftes »Nein«, und das war ein Anhaltspunkt. Es war eine gewisse Kraft in ihr, die unwiderstehlich war, die alles erreichen wurde, was sie wollte. Etwas war in ihr, das unberuhrt war. Und wie andere Manner vor ihm spurte Armand Gautier, dass er, obgleich Noelle ihn tiefer bewegt hatte, als er es sich eingestehen wollte, sie uberhaupt nicht beruhrt hatte, und das war eine Herausforderung, die seine Mannlichkeit nicht ertrug.

Gautier verbrachte den Tag in einem Stadium der Verwirrung. Er freute sich auf den Abend mit gro?en Hoffnungen, nicht sosehr, weil er Noelle umarmen wollte, sondern weil er sich selbst beweisen wollte, dass er aus nichts etwas gemacht hatte. Er wollte, dass Noelle eine Enttauschung fur ihn sei, damit er sie aus seinem Leben verbannen konnte.

Als sie sich in jener Nacht umarmten, zwang sich Armand Gautier, sich der Tricks und Kunstgriffe und Listen bewusst zu werden, die Noelle anwandte, damit ihm klar wurde, dass alles mechanisch, ohne jedes Gefuhl, geschah. Aber er irrte sich. Sie gab sich ihm voll und ganz hin, wollte ihm nur Vergnugen und Genuss bereiten, wie er es nie vorher gekannt hatte, und sich an seinem Genuss weiden. Als der Morgen dammerte, war Gautier von ihr noch mehr behext als zuvor.

Wieder bereitete Noelle ihm das Fruhstuck, diesmal feine Eierkuchen mit Marmelade und hei?en Kaffee, und es war herrlich.

»Gut«, sagte Gautier sich, »du hast ein junges Madchen gefunden, das schon anzusehen ist, das perfekt lieben und kochen kann. Bravo! Aber genugt das einem intelligenten Mann? Wenn du die Umarmung hinter dir hast und wenn du gegessen hast, musst du dich unterhalten. Woruber kann sie sich mit dir unterhalten?« Die Antwort lautete, dass es eigentlich keine Rolle spielte.

Von dem Stuck war nicht mehr gesprochen worden, und Gautier hoffte, dass Noelle es entweder vergessen hatte oder aber mit dem Auswendiglernen des Textes nicht zu Rande gekommen war. Als sie am Morgen ging, versprach sie, mit ihm zu Abend zu essen.

»Kannst du dich von Philippe losmachen?« fragte Gautier.

»Ich habe ihn verlassen«, sagte Noelle einfach und nannte Gautier ihre neue Adresse.

Er starrte sie einen Augenblick an. »Ich verstehe.«

Er verstand nichts. Nicht im geringsten.

Sie verbrachten wieder die Nacht zusammen. Wenn sie sich nicht umarmten, redeten sie. Oder eigentlich – Gautier redete. Noelle schien so an ihm interessiert, dass er plotzlich uber Dinge sprach, die er jahrelang nicht erortert hatte, personliche

Sachen, die er noch nie jemandem enthullt hatte. Das Stuck, das er ihr zu lesen gegeben hatte, wurde nicht erwahnt, und Gautier begluckwunschte sich, dass er sein Problem so elegant gelost hatte.

Als sie am nachsten Abend gegessen hatten und bereit waren, sich zur Ruhe zu begeben, ging Gautier aufs Schlafzimmer zu.

»Noch nicht«, sagte Noelle.

Er drehte sich uberrascht um.

»Du sagtest, du wurdest mich anhoren, wenn ich die Rolle spreche.«

»J-a naturlich«, stammelte Gautier. »Sobald du fertig bist.«

»Ich bin fertig.«

Er schuttelte den Kopf. »Ich mochte nicht, dass du die Rolle liest, Cherie«, sagte er. »Ich mochte sie horen, wenn du sie auswendig gelernt hast, damit ich dich als Schauspielerin wirklich beurteilen kann.«

»Ich habe sie auswendig gelernt«, entgegnete Noelle.

Er starrte sie unglaubig an. Es war unmoglich dass sie die gesamte Rolle in nur drei Tagen gelernt haben konnte.

»Bist du bereit, mich anzuhoren?« fragte sie.

Armand Gautier blieb keine andere Wahl. »Naturlich«, sagte er. Er deutete auf die Mitte des Zimmers. »Das ist deine Buhne. Das Publikum ist hier.« Er setzte sich auf eine gro?e bequeme Polsterbank.

Noelle begann. Gautier fuhlte, dass er eine Gansehaut bekam, sein ihm eigenes Symptom, wenn er auf wirkliche Begabung stie?. Naturlich war Noelle nicht erfahren. Weit davon entfernt. Ihre Unerfahrenheit schimmerte durch jede Bewegung und Geste. Aber sie hatte etwas, was viel mehr war als blo?e Sachkenntnis: Sie hatte eine seltene Ehrlichkeit, ein naturliches Talent, die jeder Zeile neue Bedeutung und neue Farbe gaben.

Als Noelle den Monolog beendete, sagte Gautier herzlich: »Ich glaube, eines Tages wirst du eine bedeutende Schauspielerin werden, Noelle. Im Ernst. Ich werde dich zu Georges Faber, dem besten Schauspiellehrer in ganz Frankreich, schicken. Wenn du mit ihm arbeitest«

»Nein.«

Er sah sie erstaunt an. Es war wieder dasselbe sanfte »Nein«. Bestimmt und endgultig.

»Was soll das hei?en?« fragte Gautier einigerma?en verwirrt. »Faber nimmt nur die gro?ten Schauspieler an. Er wird dich nur nehmen, weil ich es ihm sage.«

»Ich werde mit dir arbeiten«, sagte Noelle.

Gautier spurte, wie Zorn in ihm aufstieg. »Ich gebe niemandem Unterricht«, fuhr er sie an. »Ich bin kein Lehrer. Ich bin Regisseur von Berufsschauspielern. Wenn du mal eine Berufsschauspielerin bist, wirst du unter meiner Regie spielen.« Er bemuhte sich, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrucken. »Verstehst du mich?«

Noelle nickte. »Ja, ich verstehe, Armand.«

»Also gut.«

Beschwichtigt schloss er Noelle in die Arme und erhielt einen herzlichen Kuss von ihr. Jetzt wusste er, dass er sich unnotig Sorgen gemacht hatte. Sie war wie alle anderen Frauen, sie brauchte eine starke Hand. Er wurde kein Problem mehr mit ihr haben.

Ihre Umarmungen in jener Nacht ubertrafen alles bisher dagewesenen, moglicherweise, dachte Gautier, wegen der zusatzlichen Aufregung durch den leichten Streit, den sie gehabt hatten.

In der Nacht hatte er zu ihr gesagt: »Du kannst wirklich eine wunderbare Schauspielerin werden. Ich werde sehr stolz auf dich sein.«

»Danke, Armand«, flusterte sie.

Am nachsten Morgen machte Noelle das Fruhstuck, und Gautier ging dann ins Theater. Als er Noelle im Laufe des Tages anrief, meldete sie sich nicht, und als er abends nach Hause kam, war sie nicht da. Gautier wartete auf sie, und als sie nicht erschien, lag er die ganze Nacht wach und machte sich Sorgen, ob sie vielleicht einen Unfall gehabt hatte. Er rief Noelle in ihrer Wohnung an, aber auch hier meldete sich niemand. Er schickte ein Telegramm, das als unzustellbar zuruckkam, und als er nach den Proben bei ihr vorbeifuhr, lautete er vergebens.

In der folgenden Woche war Gautier rasend. Die Proben wurden zu Schlachtfeldern. Er schrie alle

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