Schauspieler an und brachte sie derart au?er Fassung, dass der Intendant vorschlug, die Probe abzubrechen, und Gautier willigte ein. Nachdem die Schauspieler gegangen waren, sa? er allein auf der Buhne und versuchte zu ergrunden, was ihm geschehen war. Er sagte sich, Noelle sei blo? eine von vielen Frauen, eine minderwertige, ehrgeizige Blondine mit dem Herzen eines Ladenmadchens, das ein Star werden wollte. Er verunglimpfte sie in jeder erdenklichen Weise, aber am Ende wusste er, dass es keinen Zweck hatte. Er musste sie haben. In jener Nacht wanderte er durch die Stra?en von Paris, betrank sich in kleinen Bars, wo man ihn nicht kannte. Er versuchte, sich Moglichkeiten auszudenken, Noelle zu erreichen, aber es war nutzlos. Es gab niemanden, mit dem er auch nur uber sie reden konnte, au?er Philippe Sorel, und das kam naturlich nicht in Frage.

Eine Woche nach Noelles Verschwinden kam Armand Gautier um vier Uhr morgens betrunken nach Hause, offnete die Tur und ging ins Wohnzimmer. Alle Lichter waren an. Noelle sa? in einen Sessel gekuschelt da, in einen seiner Hausmantel gekleidet, und las ein Buch. Als er eintrat, blickte sie auf und lachelte.

»Hallo, Armand.«

Gautier starrte sie an, sein Herz hupfte, ein Gefuhl unendlicher Erleichterung und des Glucks durchflutete ihn. Er sagte: »Morgen beginnen wir mit der Arbeit.«

Catherine

Washington 1940

Washington, D. C., war die erregendste Stadt, die Catherine Alexander je gesehen hatte. Immer hatte sie Chicago fur den Kern gehalten, aber Washington war eine Offenbarung. Hier war das Herz Amerikas, das pulsierende Zentrum der Macht. Zuerst war Catherine von der Vielzahl der Uniformen auf den Stra?en verwirrt: Armee, Marine-Luftwaffe, Marineinfanteriekorps. Zum ersten Mal fuhlte Catherine die grimmige Moglichkeit eines Krieges als Realitat.

In Washington war die unmittelbare Nahe des Krieges uberall zu spuren. Es war die Stadt, in der der Krieg, wenn er ausbrache, beginnen wurde. Hier wurde er erklart, mobilisiert und gefuhrt werden. Es war die Stadt, die das Schicksal der Welt in der Hand hielt. Und sie, Catherine Alexander, wurde ein Teil davon sein.

Sie war zu Susie Roberts gezogen, die in einem hellen und lustigen Apartment im vierten Stock mit einem ziemlich geraumigen Wohnzimmer, zwei anschlie?enden kleinen Schlafzimmern, einem winzigen Bad und einer Kochnische wohnte. Susie hatte sich offenbar gefreut, sie zu sehen. Ihre ersten Worte waren:

»Beeil dich, pack deine Sachen aus und dampfe dein bestes Kleid auf. Du hast eine Dinner-Verabredung heute Abend.«

Catherine blinzelte. »Was ist in dich gefahren?«

»Cathy, in Washington sind es die Madchen, die die schwarzen Verabredungsbuchelchen fuhren. Diese Stadt wimmelt von einsamen Mannern, es ist ein Jammer.«

An jenem ersten Abend a?en sie im Willard Hotel. Susies Partner war ein Kongressmann aus Indiana, und Catherines Partner war ein Lobbyist aus Oregon, und beide Manner waren ohne ihre Frauen in der Stadt. Nach dem Dinner gingen sie in den Washington Country Club tanzen. Catherine hatte gehofft, der Lobbyist konnte ihr vielleicht zu einem Job verhelfen. Statt dessen wurden ihr ein Wagen und ein eigenes Apartment angeboten, was sie dankend ablehnte.

Susie nahm ihren Kongressmann in die Wohnung mit, und Catherine ging zu Bett. Kurze Zeit spater horte sie sie in Susies Schlafzimmer gehen, und die Sprungfedermatratze begann zu quietschen. Catherine stulpte sich das Kopfkissen uber den Kopf, um das Gerausch zu ersticken, aber es war unmoglich. Sie stellte sich Susie mit ihrem Partner in wilden, leidenschaftlichen Umarmungen vor. Als Catherine am anderen Morgen zum Fruhstuck aufstand, war Susie schon auf, sah blendend und frohlich aus und machte sich fertig, zur Arbeit zu fahren. Catherine forschte nach verraterischen Faltchen und anderen Anzeichen von Ausschweifung bei Susie, aber da war nichts. Sie sah im Gegenteil strahlend aus, ihr Teint war absolut einwandfrei. Mein Gott, dachte Catherine, sie ist ein weiblicher Dorian Gray. Eines Tages kommt sie herein, sieht gro?artig ans, und ich sehe wie hundertundzehn aus.

Ein paar Tage spater sagte Susie beim Fruhstuck: »He, ich horte von einer frei werdenden Stelle, das konnte dich vielleicht interessieren. Eines der Madchen auf der Party gestern Abend sagte, sie gebe ihre Stellung auf und kehre nach Texas zuruck. Gott allein wei?, weshalb jemand, der Texas entwischt ist, wieder dahin zuruckgehen mochte. Ich entsinne mich, vor ein paar Jahren war ich in Amarillo und ...«

»Wo arbeitet sie?« unterbrach Catherine.

»Wer?«

»Das Madchen«, sagte Catherine geduldig.

»Ach so. Sie arbeitet bei Bill Fraser. Er hat die Public Relati-ons im State Department unter sich. Newsweek hat letzten Monat einen Artikel uber ihn gebracht. Es soll eine ruhige runde Sache sein. Ich horte erst gestern Abend davon, wenn du also gleich hingehst, musstest du eigentlich allen anderen Madchen zuvorkommen.«

»Danke«, sagte Catherine. »William Fraser, ich komme!«

Zwanzig Minuten spater war Catherine auf dem Weg zum State Department. Als sie ankam, sagte der Posten ihr, wo Frasers Buro war, und sie nahm den Aufzug nach oben. Public Relations – das klang genau nach der Sorte, die sie suchte.

Catherine blieb im Gang vor dem Buro stehen und nahm ihren Taschenspiegel heraus, um ihr Make-up zu uberprufen. In Ordnung. Es war noch nicht neun Uhr drei?ig, sie musste also das Feld eigentlich fur sich haben. Sie offnete die Tur und ging hinein.

Das Burovorzimmer war zum Bersten voll von Madchen, die standen, sa?en, an der Wand lehnten, und alle redeten offenbar gleichzeitig. Die hinter ihrem belagerten Schreibtisch vollig au?er Fassung geratene Vorzimmerdame versuchte vergebens, Ordnung in das Chaos zu bringen. »Mr. Fraser hat jetzt zu tun«, wiederholte sie immerzu, »ich wei? nicht, wann er Sie empfangen kann.«

»Interviewt er Sekretarinnen oder nicht?« wollte eines der Madchen wissen.

»Ja, aber ...« Sie blickte sich verzweifelt in dem larmenden Haufen um. »Mein Gott, das ist ja absurd!«

Die Tur vom Gang offnete sich, und drei weitere Madchen drangten sich herein, Catherine beiseite schiebend.

»Ist die Stelle schon vergeben?« fragte eines von ihnen.

»Vielleicht mochte er gern einen Harem«, meinte ein anderes Madchen. »Dann konnen wir alle hier bleiben.«

Die Tur zum Innenburo offnete sich, und ein Mann kam heraus. Er war etwa 1,85 m gro? und hatte den beinahe schlanken Korper eines Nichtsportlers, der sich im Sportklub an drei Morgen in der Woche fit halt. Er hatte lockiges blondes, an den Schlafen angegrautes Haar, hellblaue Augen und ein energisches, ziemlich absto?endes Kinn. »Was zum

Teufel geht denn hier vor, Sally?« Seine Stimme klang tief und gebieterisch.

»Diese Madchen haben von der freien Stelle gehort, Mr. Fraser.«

»Um Himmels willen! Ich selbst habe erst vor einer Stunde davon gehort.« Seine Augen schweiften durch den Raum. »Es ist wie Urwaldtrommeln.« Als sein Blick auf Catherine zuwanderte, richtete sie sich gerade auf und schenkte ihm ihr freundlichstes Lacheln: Ich werde eine gro?artige Sekretarin sein. Aber seine Augen gingen uber sie hinweg und kehrten zu der Vorzimmerdame zuruck. »Ich brauche ein Exemplar von Life«, sagte er zu ihr. »Eine alte Ausgabe von vor drei oder vier Wochen. Auf dem Titelblatt ist ein Bild von Stalin.«

»Ich werde es bestellen, Mr. Fraser«, sagte die Vorzimmerdame.

»Ich brauche es jetzt.« Er schickte sich an, in sein Buro zuruckzugehen.

»Ich werde das Time-Life-Buro anrufen«, sagte die Vorzimmerdame, »und zusehen, ob ich eine Nummer auftreiben kann.«

Fraser blieb an der Tur stehen. »Sally, ich habe Senator Borah am Apparat. Ich mochte ihm einen Absatz aus dieser Nummer vorlesen. Sie haben zwei Minuten Zeit, mir ein Exemplar zu beschaffen.« Er ging in sein Buro und schloss die Tur.

Die Madchen im Zimmer sahen sich gegenseitig an und zuckten die Schultern. Catherine uberlegte angestrengt. Dann drehte sie sich um und drangte sich aus dem Buro.

»Gut. Eine weniger«, sagte eines der Madchen.

Вы читаете Jenseits von Mitternacht
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату