waren es Menschen ohne Traume.

Nach der Beerdigung sagte Onkel Ralph, er wolle mit Catherine und ihrem Vater sprechen. Sie sa?en in dem winzigen Wohnzimmer, Pauline huschte mit Tabletts mit Kaffee und Geback hin und her.

»Ich wei?, dass du finanziell ziemlich schwere Zeiten durchgemacht hast«, sagte Onkel Ralph zu seinem Bruder. »Du bist ein Traumer, warst es schon immer, aber du bist mein Bruder. Ich kann dich nicht untergehen lassen. Pauline und ich haben es besprochen. Ich mochte, dass du bei mir arbeitest.«

»In Omaha?«

»Du wirst ein gutes regelma?iges Einkommen haben, und du kannst mit Catherine bei uns wohnen. Wir haben ein gro?es Haus.«

Catherines Herzschlage setzten aus. Omaha! Das Ende all ihrer Traume.

»Gib mir Bedenkzeit«, sagte ihr Vater.

»Wir werden den Sechs-Uhr-Zug nehmen«, erwiderte Onkel Ralph. »Lass mich deine Entscheidung wissen, ehe wir fahren.«

Als Catherine und ihr Vater allein waren, stohnte er: »Oma-ha! Ich wette, die haben nicht mal ein anstandiges Friseurgeschaft da.«

Aber Catherine wusste, dass er nur ihretwegen dieses Theater spielte. Anstandiges Friseurgeschaft hin oder her, er hatte keine andere Wahl. Das Leben hatte ihn endlich zur Strecke gebracht. Sie fragte sich, wie es auf seine Gemutsverfassung wirken wurde, wenn er sich an einen festen, langweiligen Job mit regelma?igen Arbeitsstunden gewohnen musste. Er ware wie ein gefangener Vogel, der mit den Flugeln gegen die Kafigstabe schluge und an der Gefangenschaft sturbe. Was sie betraf, wurde sie sich das Studium an der Northwestern University aus dem Kopf schlagen mussen. Sie hatte ein Stipendium beantragt, aber seither nichts mehr gehort. An jenem Nachmittag rief ihr Vater seinen Bruder an und sagte ihm, er wurde die Stellung annehmen.

Am nachsten Morgen ging Catherine zum Rektor, um ihm zu erklaren, dass sie auf eine Schule in Omaha uberwechseln werde. Er stand hinter seinem Schreibtisch und sagte, ehe sie uberhaupt den Mund aufmachen konnte: »Gratuliere, Catherine, Sie haben ein Vollstipendium fur die Northwestern University gewonnen.« Catherine und ihr Vater besprachen die Sache eingehend an jenem Abend, und dann wurde beschlossen, dass er nach Omaha ziehe und Catherine auf die North-western ginge und in einem der Studentenwohnheime auf dem Campus lebe. Und zehn Tage spater brachte Catherine ihren Vater zum La Salle Street Bahnhof, um sich von ihm zu verabschieden. Sie war von einem tiefen Einsamkeitsgefuhl uber seine Abreise durchdrungen, von einer Traurigkeit uber das Abschiednehmen von dem Menschen, den sie am meisten liebte; und doch war sie begierig, den Zug abfahren zu sehen, von einer kostlichen Erregung bei dem Gedanken erfullt, dass sie frei sein und zum ersten Mal ihr eigenes Leben fuhren wurde. Sie stand auf dem Bahnsteig, sah das Gesicht ihres Vaters, an das Wagenfenster gepresst, um sie noch einmal zu sehen; ein armlich, gut aussehender Mann, der immer noch ehrlich glaubte, dass ihm eines Tages die Welt gehoren wurde.

Auf dem Heimweg erinnerte Catherine sich an etwas und lachte laut heraus. Um nach Omaha zu fahren, wo er eine dringend notige Stellung antreten sollte, hatte ihr Vater ein Privatabteil gebucht.

Der Immatrikulationstag an der Northwestern war von kaum ertraglicher Erregung erfullt. Fur Catherine hatte er eine ganz besondere Bedeutung, die sie nicht in Worte fassen konnte: Es war der Schlussel, der die Tur offnen wurde zu all den Traumen und unaussprechlichen Ambitionen, die ihr Inneres schon so lange verzehrt hatten. Sie blickte sich in dem gro?en Saal um, wo Hunderte von Studenten sich angestellt hatten, um sich einzuschreiben, und dachte: Eines Tages werdet ihr alle wissen, wer ich bin. Ihr werdet sagen: »Ich ging mit Catherine Alexander auf die Uni.« Sie belegte die Hochstzahl aller Kurse und wurde einem Wohnheim zugewiesen. Am selben Morgen fand sie eine Nachmittags-Stellung als Kassiererin im Roost, einer beliebten Imbissstube mit Sandwiches und Bier gegenuber dem Campus. Ihr Gehalt betrug 15 Dollar die Woche, und wenn sie sich davon auch keinen Luxus leisten konnte, so reichte es doch fur ihre Schulbucher und die notigsten Anschaffungen.

Um die Mitte ihres zweiten Studienjahres kam Catherine zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich die einzige Jungfrau auf dem ganzen Campus war. In ihren Entwicklungsjahren hatte sie manchmal Unterhaltungsfetzen aufgeschnappt, wenn die Erwachsenen uber Sex gesprochen hatten. Es klang wunderbar, und sie hatte nur die eine Angst, dass alles vorbei ware, bis sie alt genug sein wurde, um sich daran zu erfreuen. Jetzt sah es so aus, als ob sie recht gehabt hatte. Jedenfalls, soweit es sie betraf. Sex schien das einzige Gesprachsthema in den Schlafsalen, in den Klassenraumen, den Waschraumen und im Roost zu sein. Uberall wurde daruber gesprochen, und Catherine war uber die Offenheit dieser Unterhaltungen entsetzt.

»Jerry ist unglaublich. Er ist wie King Kong.«

»Meinst du seinen Schwanz oder sein Hirn?«

»Er braucht kein Hirn, Liebling. Ich bin gestern Abend sechsmal fertig geworden.«

»Bist du mal mit Ernie Robbins ausgegangen? Der ist klein, aber stark.«

»Alex hat mich um ein Rendezvous heut Abend gebeten. Wo ist der Schwindel?«

»Der Schwindel ist Alex. Kannst dir die Muhe sparen. Letzte Woche hat er mich zum Strand mitgenommen. Er zog mir den Schlupfer aus und fummelte an mir herum, und ich fummelte an ihm herum, aber ich konnte ihn nicht finden.« Gelachter.

Catherine fand diese Unterhaltungen ordinar und widerlich, und doch versuchte sie, sich kein Wort entgehen zu lassen. Es war eine Ubung in Masochismus. Wenn die Madchen ihre sexuellen Heldentaten schilderten, stellte Catherine sich selbst mit einem Jungen im Bett vor und wie er sie rasend leidenschaftlich umarmte. Sie fuhlte dann einen physischen Schmerz in der Leiste und druckte die Fauste fest auf die Schenkel, versuchte, sich weh zu tun, damit sie den anderen Schmerz nicht spurte. Mein Gott, dachte sie, ich werde als Jungfrau sterben. Die einzige neunzehnjahrige Jungfrau an der North-western. Was hei?t Northwestern, vielleicht sogar in den Vereinigten Staaten! Die Jungfrau Catherine. Die Kirche wird mich heilig sprechen, und man wird einmal im Jahr Kerzen fur mich anzunden. Was ist eigentlich mit mir los? Ich werde dir's sagen, antwortete sie sich selbst. Niemand hat dich aufgefordert, und es gehoren zwei dazu. Ich meine, wenn man es richtig machen will, gehoren zwei dazu.

Der meistgenannte Name in den Sexunterhaltungen der Madchen war Ron Peterson. Er hatte sich an der Northwestern aufgrund eines Sportstipendiums eingeschrieben und war hier so beliebt, wie er es in der Senn High School gewesen war. Er war zum Vorsitzenden der ersten Semesterklasse gewahlt worden. Catherine sah ihn in ihrem Lateinkurs am Tag des Semesterbeginns. Er sah noch besser aus als in der High School, war etwas kraftiger geworden, und sein Gesichtsausdruck hatte eine ruppige Hol's-der-Teufel-Reife angenommen. Nach dem Unterricht ging er auf sie zu, und ihr Herz fing an zu klopfen.

Catherine Alexander!

Hallo, Ron.

Bist du in dieser Klasse?

Ja.

Was fur eine Chance fur mich.

Wieso?

Wieso? Weil ich nichts von Latein verstehe und du ein Genie

bist. Wir werden uns wunderbar verstehen. Hast du etwas vor

heute Abend?

Nichts Besonderes. Sollen wir zusammen arbeiten?

Gehen wir an den Strand, wo wir allein sein konnen. Arbeiten

konnen wir immer noch.

Er starrte sie an.

»He! ... ah ... ?« Er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern.

Sie schluckte, versuchte selbst verzweifelt, sich daran zu erinnern. »Catherine«, sagte sie schnell, »Catherine Alexander.«

»Yeah. Wie gefallt es dir hier? Toll, was?«

Ihre Stimme sollte eifrig klingen, sie wollte ihm gefallen, ihm zustimmen, um ihn werben. »O ja«, sprudelte sie heraus, »es ist das«

Er blickte zu einem phantastischen blonden Madchen hinuber, das an der Tur auf ihn wartete. »Wiedersehen«, sagte er und ging zu dem Madchen.

Und das war das Ende der Geschichte von Aschenbrodel und dem Prinzen, dachte sie. Und sie lebten glucklich bis ans Ende ihrer Tage, er in seinem Harem und sie in einer windigen Hohle in Tibet.

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