er wusste nicht, noch kummerte es ihn, dass er fehl am Platze war. Er hatte nur ein Ziel, und er fand es, als er das Bon Marche erreichte. Es war das feinste Modegeschaft in Marseille, aber das war nicht der Grund, warum er es wahlte. Er wahlte es, weil der Besitzer Monsieur Auguste Lanchon war. Lanchon war ein Funfziger, ein hasslicher, glatzkopfiger Mann mit plumpen kurzen Beinen und einem lusternen, standig zuckenden Mund. Seine Frau, klein, mit dem Profil eines fein geschliffenen Beiles, arbeitete im Nahraum und uberwachte laut die Schneider. Jacques warf einen einzigen Blick auf Monsieur Lanchon und seine Frau und wusste, dass er die Losung seines Problems gefunden hatte.
Lanchon sah mit Abscheu den schabig angezogenen Fremden durch die Tur seines Geschaftes treten. Er sagte grob: »Nun? Was kann ich fur Sie tun?«
Jacques Page zwinkerte mit den Augen, bohrte seinen dicken Finger Lanchon in die Brust und grinste. »Es handelt sich darum, was ich fur Sie tun kann, Monsieur. Ich werde meine Tochter bei Ihnen arbeiten lassen.«
Auguste Lanchon starrte mit einem Ausdruck der Unglaubigkeit den vor ihm stehenden Tolpel an.
»Was werden Sie«
»Sie wird morgen um neun Uhr hier sein.«
»Ich verstehe nicht«
Jacques Page war schon drau?en. Ein paar Minuten spater hatte Lanchon den Vorfall vollig vergessen. Um neun Uhr am anderen Morgen blickte Lanchon auf und sah Jacques Page in das Geschaft treten. Er wollte seinem Geschaftsfuhrer schon sagen, er solle den Mann hinauswerfen, als er hinter ihm Noelle bemerkte. Sie kamen auf ihn zu, der Vater und seine unglaublich schone Tochter, und der Alte grinste. »Da ist sie, bereit, die Stelle anzutreten.«
Auguste Lanchon starrte das Madchen an und leckte sich uber die Lippen.
»Guten Morgen, Monsieur«, sagte Noelle lachelnd. »Mein Vater sagte mir, Sie hatten eine Stelle fur mich.«
Auguste Lanchon nickte, traute seiner eigenen Stimme nicht.
»Ja, ich – ich glaube, wir konnten etwas arrangieren«, brachte er stammelnd heraus. Er betrachtete ihr Gesicht und ihre Figur und konnte nicht glauben, was er da sah. Er konnte sich schon vorstellen, wie dieser nackte junge Korper sich unter ihm anfuhlen wurde.
Jacques Page sagte: »Nun, ich lasse Sie beide jetzt allein, damit Sie sich gegenseitig bekannt machen konnen«, schlug Lanchon kraftig auf die Schulter und zwinkerte dabei vieldeutig mit den Augen. Lanchon war sich uber seine Absichten keineswegs im Zweifel.
Wahrend der ersten paar Wochen kam Noelle sich vor, als ware sie in eine andere Welt versetzt. Die Frauen, die in das Geschaft kamen, waren erstklassig angezogen und hatten ausgezeichnete Manieren, und die Manner ihrer Begleitung waren ganz anders als die ungehobelten larmenden Fischer, mit denen sie aufgewachsen war. Es schien Noelle, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben keinen Fischgestank in der Nase hatte. Sie war sich seiner zwar nie bewusst gewesen, weil er immer ein Teil von ihr gewesen war. Jetzt aber hatte sich alles plotzlich verandert. Und das verdankte sie ihrem Vater. Sie war stolz darauf, wie gut er sich mit Monsieur Lanchon verstand. Er kam zwei- oder dreimal in der Woche ins Geschaft, und dann verschwanden die beiden schnell mal auf einen Cognac oder ein Bier, und wenn sie zuruckkehrten, lag immer eine Atmosphare der Kameradschaft um sie. Anfanglich hatte Noelle Monsieur Lanchon nicht gemocht, aber sein Benehmen ihr gegenuber war immer zuruckhaltend. Von einem der Madchen hatte sie gehort, Lanchons Frau habe ihn einmal im Lagerraum mit einem Modell in flagranti erwischt; darauf habe sie eine Schere ergriffen und ihn beinahe kastriert. Noelle merkte naturlich, dass Lanchons Augen ihr uberallhin folgten, aber er war immer peinlich hoflich. Wahrscheinlich, dachte sie mit Befriedigung, hat er vor meinem Vater Angst.
Zu Hause schien die Stimmung plotzlich viel freundlicher. Noelles Vater schlug ihre Mutter nicht mehr, und das ewige Gezanke hatte aufgehort. Es gab Steaks und Braten zum Essen, und nach dem Abendbrot zog Noelles Vater eine neue Pfeife hervor und fullte sie mit einem stark duftenden Tabak aus einem Lederbeutel. Er kaufte sich auch einen Sonntagsanzug. Die internationale Lage verschlechterte sich, und Noelle horte sich die Unterhaltungen zwischen ihrem Vater und seinen Freunden an. Sie schienen alle uber die bevorstehende Bedrohung ihrer Existenz beunruhigt, nur Jacques Page wirkte seltsam unbekummert.
Am 1. September 1939 fielen Hitlers Truppen in Polen ein, und zwei Tage spater erklarten Gro?britannien und Frankreich Deutschland den Krieg.
Die Mobilmachung lief an, und uber Nacht wimmelten die
Stra?en von Uniformen. Es hing eine Atmosphare der Resignation uber die Ereignisse in der Luft, ein Gefuhl des deja vu, als sahe man einen alten Film, den man fruher schon gesehen hatte; aber es herrschte keine Furcht. Andere Lander mochten Grund haben, vor der Macht der deutschen Heere zu zittern, aber Frankreich war unbesiegbar. Es hatte die Magienot-Linie, eine unuberwindliche Festung, die Frankreich tausend Jahre lang vor einer Invasion schutzen konnte. Es wurde ein Ausgehverbot verhangt und mit der Rationierung von Lebensmitteln begonnen, aber diese Dinge kummerten Jacques Page nicht. Er schien sich verandert zu haben, war ruhiger geworden. Nur ein einziges Mal erlebte Noelle einen Wutausbruch, als sie eines Abends in der verdunkelten Kuche einen Jungen kusste, mit dem sie sich gelegentlich getroffen hatte. Plotzlich ging das Licht an, und Jacques Page stand zornbebend in der Tur.
»Raus!« schrie er den entsetzten Jungen an. »Und nimm die Hande von meiner Tochter weg, du dreckiges Schwein!«
Der Junge floh in panischem Schrecken. Noelle versuchte, ihrem Vater zu erklaren, dass sie nichts Unrechtes getan hatten, aber er war zu wutend, um uberhaupt hinzuhoren.
»Ich dulde nicht, dass du dich wegwirfst«, brullte er. »Der Bursche ist ein Niemand, nicht gut genug fur meine Prinzessin.«
In jener Nacht lag Noelle wach, staunend, wie sehr ihr Vater sie liebte, und sie gelobte, nie wieder etwas zu tun, was ihn wieder betruben konnte.
Eines Abends kam kurz vor Geschaftsschluss ein Kunde, und Lanchon bat Noelle, einige Kleider vorzufuhren. Als Noelle fertig war, hatten alle, au?er Lanchon und seiner Frau, die im Buro die Bucher machte, das Geschaft bereits verlassen. Noelle ging in den leeren Ankleideraum, um sich umzuziehen. Sie war in BH und Hoschen, als Lanchon herein trat. Er starrte sie an, und seine Lippen begannen zu zucken. Noelle schnappte ihr Kleid, doch ehe sie es anziehen konnte, trat Lanchon schnell auf sie zu und schob die Hand zwischen ihre Beine. In Noelle regte sich Abscheu, ihre Haut kribbelte. Sie wollte sich losrei?en, aber Lanchon hielt sie fest gepackt, und er tat ihr weh.
»Du bist schon«, flusterte er. »Schon. Ich werde dafur sorgen, dass du es guthast.«
In diesem Augenblick rief Lanchons Frau nach ihm, und er lie? Noelle widerstrebend los und hastete aus dem Zimmer.
Auf dem Heimweg uberlegte Noelle, ob sie ihrem Vater von dem Vorgefallenen erzahlen sollte. Wahrscheinlich wurde er Lanchon umbringen. Sie verabscheute ihn und ertrug seine Nahe nicht, und doch wollte sie die Stelle. Au?erdem ware ihr Vater vielleicht enttauscht, wenn sie kundigte. Sie beschloss, zunachst einmal nichts zu sagen und selbst einen Ausweg zu finden.
Am Freitag danach wurde Madame Lanchon angerufen, ihre Mutter in Vichy sei krank. Lanchon fuhr seine Frau zum Bahnhof und raste ins Geschaft zuruck. Er lie? Noelle in sein Buro kommen und sagte ihr, er wurde ubers Wochenende mit ihr verreisen. Noelle starrte ihn an und glaubte zuerst, er mache Witze.
»Wir werden nach Vienne fahren«, stammelte er. »Dort gibt es eines der ganz gro?en Restaurants der Welt, Le Pyramide. Es ist teuer, aber das spielt keine Rolle, ich kann sehr gro?zugig zu denen sein, die nett zu mir sind. Wann kannst du fertig sein?«
Sie starrte ihn an. »Nie« war alles, was sie herausbrachte. Als sie sich umdrehte und nach vorn in den Laden fluchtete, blickte Monsieur ihr einen Augenblick wutend nach und riss dann den Telefonhorer auf seinem Schreibtisch hoch. Eine Stunde spater trat Noelles Vater in das Geschaft. Er ging direkt auf Noelle zu, und ihr Gesicht leuchtete vor Erleichterung auf. Er hatte gefuhlt, dass etwas nicht stimmte, und war ihr zu Hilfe gekommen. Lanchon stand an der Tur zu seinem Buro. Noelles
Vater packte sie am Arm und zog sie in Lanchons Buro. Dort fuhr er herum und sah sie an.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Papa«, sagte Noelle, »ich«
»Monsieur Lanchon erzahlt mir, dass er dir ein gro?artiges Angebot machte, und du hast es abgelehnt.«
Sie starrte ihn verwirrt an. »Angebot? Er bat mich, ubers Wochenende mit ihm wegzufahren.«