Die naturliche Schwierigkeit des Seins wurde einem in der Sowjetunion durch das Fernsehprogramm deutlich vermittelt. Man konnte stundenlang durch alle vier Kanale zappen: Den Stahlofen folgten die Traktoren, danach kamen die Panzer und dann die Raketen. Es ging immer um Arbeit, nie um Erholung. Selbst am fruhen Sonntag wurde gleich nach der Morgengymnastik
Der Kapitalismus dagegen unterhalt unermudlich. Die gute Laune der Profiunterhalter tropft durch alle Fernsehprogramme. Besonders viel Frohsinn bringt die Werbung ins Wohnzimmer. Alle Menschen in der Werbung tun so, als hatten sie eine Klatsche. Sie freuen sich wie bekloppt uber jede Kleinigkeit. Eine Packung Waschpulver kann sie zu den glucklichsten Menschen der Welt machen, und wegen eines Lutschers drehen sie vollig durch. Nur, wer will das sehen, wie erwachsene Menschen einander den Mund mit Pralinen vollstopfen, als hatten sie nie eine Kindheit gehabt?
Statt vor der Glotze verbringe ich lieber ein paar Stunden auf dem Balkon mit meinen russischen Nachbarn. Wir erinnern uns gerne an die besonders peinlichen Momente unserer Vergangenheit, an die missgluckten Beziehungen, an die dummsten Situationen, an die miesesten Jobs, die wir hatten. Nichts ist lustiger als der Ernst des Lebens.
Mein schlimmster Job war Prospektverteiler in Berlin. Unser damaliger Chef warnte uns taglich davor, auch nur einen Prospekt wegzuschmei?en, denn solche Vergehen wurden uber kurz oder lang immer ans Licht kommen, behauptete er. Die Prospekte waren an der Seite unterschiedlich markiert, damit man leicht die Personalien ihres Verteilers ermitteln konnte. Trotz dieser Warnungen dachte ich nicht eine Sekunde daran, das uberflussige Werbematerial tatsachlich zu verteilen. Ich hatte mich gleich am ersten Arbeitstag auf die aus meiner Sicht einzig mogliche Art des Umgangs mit Werbeprospekten festgelegt: ihre totale Vernichtung. Man muss dazu sagen, dass ich nicht aus Faulheit handelte. Die Prospekte zu vernichten war viel schwieriger, als sie zu verteilen. Ich wollte die Menschheit vor den Prospekten retten.
Mit der Zeit entwickelte sich mein Prospektvernichtungsprogramm zu einer fixen Idee. Ich habe alles Mogliche versucht, um das Werbematerial loszuwerden. Ich zundete die Prospekte in einer Tonne an - sie brannten nicht. Au?erdem kippten jugendliche Straftater die Tonne um, meine Prospekte flatterten durch die Luft und verteilten sich von allein uber die halbe Stadt. Ungefahr zwanzig Kilo vergrub ich nachts auf einem Kindergartengelande hinter dem Haus, in dem ich damals wohnte. Sie wurden von neugierigen Hunden ausgegraben und flatterten wenig spater ebenfalls uberall im Bezirk herum. Ich habe versucht, sie mit einem Gewicht in einem See zu versenken: Das Gewicht ging unter, die Prospekte schwammen auf der Oberflache. Am Ende hatte ich Angst einzuschlafen und hielt mich mit Alkohol wach. Denn kaum schloss ich die Augen, sah ich mich unter Tonnen von Werbeprospekten begraben.
Mein Nachbar Sergej arbeitete damals eine Zeit lang bei Bremen in einem Betrieb, der Verpackungsmaschinen fur Huhnereier produzierte. Die gro?en Eierfarmen schickten die Verpackungslinien in der Regel nach zwei bis drei Jahren zu diesem Betrieb zuruck. Dort wurden sie gesaubert, repariert und preiswert als Secondhandware an Kleinunternehmer weiterverkauft. Sergej gehorte der Russenbrigade an, die den dreckigsten Job im ganzen Betrieb hatte: Sie mussten die festgeklebte alte Eierpampe aus den gebrauchten Verpackungslinien entfernen. Fur funf Mark die Stunde. Nachts traumte er von Menschen, die ununterbrochen gro?e braune Huhnereier legten.
Wahrend wir auf dem Balkon sa?en, sendete mein kleines Fernsehgerat in der Kuche Werbung ohne Ton gezielt in unsere Richtung. Immer wenn wir hinschauten, war es die gleiche Werbung: Ein junger Mann betrat eine Wohnung mit einem Karton unterm Arm. Der Mann hatte hellblaue Augen und war sehr muskulos. Er lachelte so hintergrundig, als hatte er gerade jemanden auf der Strasse vermobelt und ihm den Karton mit Diamanten weggenommen. Der Muskelmann gehorte zu jener Sorte, die nie Gewissensbisse haben, nie unsicher sind, bei dem was sie tun. Diese Manner gehen mit geradem Rucken durch die Welt, immer einem klaren Ziel entgegen. Sie werden nie zogern, ganz egal, ob ein hungriger Wolf, ein gefahrlicher Krieger oder ein durchgedrehter Elefant ihnen uber den Weg lauft. Der Mann mit den hellblauen Augen wurde in einer solchen Situation ohne nachzudenken, dem Wolf im Laufen das Fell abziehen, dem Krieger seinen Speer und Bogen abkaufen, und dem Elefanten aus Spa? den Russel verknoten.
In der Werbung packte dieser Supermann den Karton aus, wahrend seine Freunde vor Begeisterung brullten, ihm zitternd ihre Hande und Fu?e entgegenstreckten und sehnsuchtig auf seine Beute schielten. Man sah ihnen an, dass sie fur den Karton Vater und Mutter verraten wurden. Was wird wohl darin sein?, ratselten wir. Andrej tippte auf Pralinen oder Kartoffelchips. Ich wollte mich nicht gleich festlegen. Vielleicht wird der Supermann diesmal etwas ganz Ausgefallenes herausholen, etwas, das alle Fernsehzuschauer ohne Ausnahme vom Hocker rei?t. Was konnte das sein? Theaterkarten? Kondome? Der komplette Brockhaus vielleicht? Ich machte die Augen zu und stellte mir genusslich vor, wie der Mann mit den hellblauen Augen statt Joghurt oder Pralinen das superdicke Lehrbuch meiner Mutter uber Festigkeitslehre auspackte und es mit schragem Lacheln in die Kamera hielt. Alle um ihn herum wurden aufspringen, sie wurden versuchen, einander wie im Rausch das Buch aus der Hand zu rei?en. Und eine junge Frau, die es ergattert hatte, wurde stohnend auf den Teppich fallen und allen anderen laut aus dem Buch vorlesen.
In Wirklichkeit konnte es sich angesichts des ewigen Kindergeburtstags unserer bunten Konsumgesellschaft unmoglich um ein ernstes Buch handeln. Alle Bucher des Westens sind Kinderbucher, alle Filme musste man hier mit einer Altersbegrenzung »bis 18« vermerken. Erwachsene Menschen lesen hier ein Leben lang
Ich erinnere mich noch gut an diese Reise, denn sie war fur mich ein ziemlicher Kulturschock. Die Eltern von Frank arbeiteten beide in der Stadtverwaltung und hatten als Beamte eine gehobene Stellung im Ort. Im Gastezimmer hatten sie eine gro?e braune Schrankwand voller Bucher, darunter mindestens drei?ig Bande Brockhaus, wenn nicht mehr. Ich bemuhte mich zehn Minuten lang, aus dieser Mauer des Wissens einen Band herauszubrechen. Es gelang mir nicht, die Bande waren wie zusammengeschwei?t. Zornig druckte ich mit etwas mehr Kraft gegen die Buchwand, als plotzlich ein Wunder geschah: Der ganze Brockhaus erwies sich als Attrappe. Sie offnete sich wie eine Geheimtur, und wie auf einem Tablett glitt aus dem Inneren der Schrankwand ein Fernsehgerat hervor. Die Eltern von Frank lachten uber meinen Schreck, mir aber brannten die Ohren, als hatte ich diese sympathischen Menschen beim Klauen erwischt. Sie kochten Kaffee und luden uns, als ware nichts geschehen, zu Tisch und servierten Kuchen und Eis.
Auch der Mann im Fernsehen verteilte Eis aus dem Karton - ein blodes Eis mit Kaugummigeschmack, das selbst meine Kinder eklig finden, obwohl sie sonst so gut wie alles mogen, was su? und fettig ist. Die Erwachsenen in der Glotze sprangen vor Begeisterung an die Decke. Uberschwanglich bewarfen sie einander mit Eis, steckten es sich sofort hinter die Backe und erstarrten auf der Stelle vor Freude.
»Das war mein schlimmster Job«, meinte Sergej und zeigte auf den Bildschirm.
»Warst du etwa beim Fernsehen?«, fragten wir unglaubig.
Nein, aber er habe zwei Monate in einer Eisfabrik in Russland gearbeitet. Seitdem mag er kein Eis mehr. Die Fabrikproduktion war auf drei Eissorten spezialisiert: das Familien-Eis - ein halbes Kilo Brikett ohne Schnickschnack -, dann das
Die ersten zwei Tage gingen noch. Er und sein Partner schafften es, in acht Stunden eine Palette