er mit dem Rucken in die Sanddune, eine Flasche Bier in der Hand. Er war wie ich ganz allein in seiner norddeutschen Sandwuste: keine Staus, keine Freunde, keine Kompromisse, kein anderes Bier. Er gehorte zu meinen ersten Eindrucken aus diesem Land und war lange Zeit mein einziger Freund hier. Einer, mit dem ich mich austauschen konnte. Ich hatte eine Einzimmerwohnung mit Bett und Fernseher. Jeden Abend machte ich die Glotze an, und er war fast immer fur mich da. Fast immer. Manchmal lief der Werbespot nicht. Seinetwegen bin ich sogar fur eine kurze Zeit tatsachlich von Hefeweizen auf Jever umgestiegen, so gut gefiel mir dieser Mann.

Wir hatten vieles gemeinsam, vor allem diese Lebenseinstellung eines einsamen Wolfs. In ihm sah ich einen, der in den Sanddunen verloren gegangen war. Kein Geld, kein Gepack, kein Ausweg. Ich war mehrmals in Ostfriesland, auch in Jever und in den umliegenden Dorfern. Es gab dort weit und breit keine einzige Dune. Selbst das hat mich nicht enttauscht. Ich fuhlte mich trotzdem mit dem in den Sand fallenden Mann im Geiste verbunden. Unsere Einsamkeit machte uns zu Brudern - kein Bafog, kein guter Job, kein Dispo. Es hat gerade furs Leben gereicht. Dann habe ich, du wei? schon wen, kennengelernt, bin umgezogen, wir zogen zusammen, es lief nicht immer gut, aber ab da war mein Lebensgefuhl ein anderes. Und wenn ich heute zuruckblicke, gut, ich bin sechs Jahre alter geworden, ein blo?es Sekundchen angesichts der Ewigkeit. Aber es hat sich so viel verandert in meinem Leben, und manches sogar zum Guten. Der Jever-Mensch aber ist der Gleiche geblieben, er fallt weiter in den Dunen um, mit der gleichen Flasche in der Hand, mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck, er hat denselben Mantel an, und nichts hat sich in seinem Leben verandert: keine Frauen, keine Kinder, keine Freunde, keine Ahnung, wie er das durchhalt.«

 Die Mutter (nicht von Gorki)

Sergejs Mutter wurde von ihrem langjahrigen Lebensgefahrten, einem dicken lebensfrohen wei?russischen Sparkassenchef, sitzengelassen.

»Irina«, meinte er zum Abschied bedruckt, »ich habe eine ungeheuere Leidenschaft kennengelernt und muss nun mit diesen neuen Gefuhlen klarkommen. Du hast Format, du bist eine gro?artige Frau, warte auf mich, wenn du kannst.«

Der freiwillige Nachrichtendienst aus der Nachbarschaft berichtete; die ungeheure Leidenschaft sei ein zwanzigjahriges Madchen mit riesiger Oberweite. Irina packte die Koffer und fuhr nach Berlin zu ihrem Sohn, den sie sehr lange nicht gesehen hatte. Sergej freute sich naturlich, nur hatte er jede Menge zu tun - zwei Jobs, ein Studium und dazu nun noch eine Mutter in der Krise. Anfangs fiel diese Mutter in dem allgemeinen Chaos nicht auf. Sie verbrachte die meiste Zeit in der Kuche und sang leise vor sich hin - russisches Volksliedgut:

Wenn ich sterbe, Wenn ich sterbe, Und begraben werde, Keine Sau weint eine Trane Mir nach...

Sie braucht dringend einen neuen Freund, dachten wir und brachten unseren Nachbarn auf die Idee, eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung aufzugeben: »Sympathische Frau aus Russland, 53 Jahre alt, wurde gern einen intelligenten, einfallsreichen, sensiblen Mann ab 45 kennenlernen - und nicht irgendeinen selbstgeilen Fettarsch.« Bereits einen Tag nach Erscheinen der Zeitung kamen die ersten Anrufe. Irina ging nicht ans Telefon, aber ihre Stimmung verbesserte sich erheblich. Sie sa? nicht mehr wie ein Trauerklo? in der Kuche, sondern lief in der Wohnung herum und sang halblaut einen alten sozialistischen Schlager:

Alles ist moglich, alles zum Greifen nah...

»Irina, Sie durfen diese Menschen nicht einfach so abblitzen lassen, gehen Sie doch ran«, sagten wir immer wieder zu ihr.

Nach zwei Tagen ging sie tatsachlich ran.

»Ja! Nein! Was denn fur eine Anzeige? Sie haben sich bestimmt verwahlt. Wie hei?en Sie noch mal? Aus Nowosibirsk? Wie interessant, ich war mal in Nowosibirsk...«

Er war der erste Mann, der Irinas Vertrauen gewinnen konnte: ein gewisser Iwan aus Nowosibirsk, Champion im Biathlon 1969. Irina verabredete sich mit ihm, kam aber an dem Tag nicht aus der Wohnung. Sie polierte sich in der Kuche die Fingernagel und sang andere optimistische Schlager aus der Sowjetzeit.

»Vielleicht war das dein Schicksal, Mama«, bemerkte Sergej vorsichtig, »Vielleicht ruft er nicht mehr an.«

»Wenn man Schicksal ist, Sohnchen, dann ruft man immer ein zweites Mal an«, meinte die Mutter philosophisch.

Iwan aus Nowosibirsk rief tatsachlich wieder an. Irina erklarte ihm, dass sie an dem Tag zu viel zu tun gehabt hatte, und sie verabredeten sich erneut. Diesmal ging sie tatsachlich zu ihrer Verabredung, kam dafur aber abends nicht nach Hause zuruck. Auch am nachsten Tag kam sie nicht. Sergej meinte, so etwas sei auch schon fruher in Gomel vorgekommen. Trotzdem waren er und wir alle sehr beunruhigt. Denn in gewisser Weise hatten wir seine Mutter in diesen Wirbel der Zeitungsliebe geschubst und fuhlten uns nun fur sie verantwortlich. Von Iwan aus Nowosibirsk fehlte jede Spur. Es gab weder eine Telefonnummer noch eine Adresse. Sergej ging zur Polizei und erstattete Vermisstenanzeige. In dem Moment, als er zuruckkam, tauchte seine Mutter auf. Sie konnte unsere Aufregung uberhaupt nicht verstehen und wollte nichts daruber erzahlen, wo sie die letzten drei Tage verbracht hatte. Nur so viel: Ihr Iwan hatte ihr alle seine Biathlon-Medaillen und -Pokale zeigen wollen, deswegen hatte es so lange gedauert. Insgesamt bezeichnete sie ihren neuen Freund als »zu sportlich«.

Danach meldeten sich in loser Folge ein intelligenter Professor aus Potsdam, der ihr die Stadt zeigen wollte und sie ins dortige Theater einlud; ein Hobbykoch aus Charlottenburg, der sie zum Grunen-Tee-Trinken uberredete; au?erdem in regelma?igen Abstanden immer wieder der sportliche Iwan aus Nowosibirsk, der mit Irina zur Biathlon-Meisterschaft ins norwegische Hammarskjold aufbrechen wollte.

Der Klub der Mutterfreunde wuchs kontinuierlich, das Telefon in der Russen-WG war standig belegt. Irgendwann meldete sich auch noch der verflossene Sparkassenchef aus der Heimat. Mit Tranen in der Stimme bat er Irina zuruckzukommen, die ungeheure Leidenschaft mit der riesigen Oberweite hatte sich fruher als erhofft erschopft. Ihrem Sohn gegenuber hielt Irina ihre Lebensplane geheim. Sie brauche Zeit zum Nachdenken, sagte sie nur. Nach einem Monat erzahlte Sergej, seine Mutter ware nach Russland zuruckgefahren. Ich glaubte nicht daran.

Alles war moglich, alles zum Greifen nah: Moglich ware zum Beispiel, dass sie gleich hinter Wannsee bei ihrem Professor ausgestiegen und in Potsdam hangengeblieben war. Weniger realistisch war, dass sie zu dem Sparkassenchef nach Gomel zuruckkehrte. Ich, als alter Biathlonfan, tippte auf den sportlichen Iwan aus Nowosibirsk.

Noch Monate spater bekamen die Jungs in der WG seltsame Anrufe: mannliche Stimmen, die nach Irina verlangten.

»Sie wohnt nicht mehr hier«, antwortete Sergej. »Sie ist weg. Aber vielleicht kommt sie wieder - im nachsten Jahr. Lesen Sie die Annoncen. Ja, nein, Sie auch, nichts zu danken. Auf Wiedersehen.«

Ein ungewohnliches Konzert  

Вы читаете Meine russischen Nachbarn
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×