Seit dieser Zeit kann Sergej kein Eis mehr sehen. Nicht einmal in der Werbung. Abgesehen davon ist es aber doch ein Kinderprodukt. Wahrscheinlich mischen sie im Kapitalismus dem Eis irgendetwas bei, damit die Menschen bis ins hohe Alter Gefallen daran finden und es bis zu ihrem Tod begeistert essen.

Der Russe lacht nicht

Wenn drei Russen an einem Tisch zusammenkommen, fangen sie in der Regel schon nach funf Minuten an, einander Witze zu erzahlen. Am liebsten politische mit einem langen Bart, die sie noch aus dem Kindergarten kennen. Man glaubt nicht, wie viel alter Witz in jedem Russen steckt. Sie konnen den ganzen Tag erzahlen, doch uber ihre eigenen Witze lachen sie nie. Dieses merkwurdige Verhalten hat seine Geschichte. Anekdoten hatten in Russland verschiedene Funktionen, man konnte mit ihnen angeben, sich politisch in einer Gruppe positionieren, Freunde gewinnen und Feinde erkennen. Sie mussten dabei nicht einmal lustig sein.

In meiner Kindheit, vor funfundzwanzig Jahren, bluhte in Russland der politische Witz. Dafur gab es zwei Grunde. Zum einen war der damalige Generalsekretar Leonid Breschnew wirklich witzig. Er hatte einen Sprachfehler, konnte kaum noch gerade stehen, verlieh sich selbst jedes Jahr neue Orden und Medaillen und wurde von seinen Parteigenossen stets »unser verehrter Leonid Iljitsch« genannt. Man musste sich keine Witze uber Breschnew ausdenken. Ihn einfach bei einem Staatsbesuch zu beobachten, reichte schon fur eine Flut von Volkshumor. Breschnew hatte es einfach drauf!

Der zweite Grund fur die Popularitat des politischen Witzes lag darin, dass man trotz der sozialistischen Diktatur nicht mehr Gefahr lief, wegen eines Witzes im Gefangnis zu landen wie noch unter Breschnews Vorgangern. Das Regime wurde in den Achtzigerjahren dem Volkshumor gegenuber nachlassig. Und der politische Witz wurde zum Ausdruck eines passiven Kampfes gegen den Totalitarismus. Das Imperium, das sich selbst als ewig und unantastbar begriff, wurde mit diesen Witzen vom Sockel der Geschichte gerissen und verspottet.

Mit dem Alter entdeckte unser Leonid Iljitsch sein Interesse fur Literatur. Er lie? unter seinem Namen einen Haufen Biographisches erscheinen, alles Bucher, die seine Heldentaten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und seine Leistungen beim Wiederaufbau des Landes ma?los ubertrieben. Wir Schuler mussten diese Bucher im Literaturunterricht studieren und Aufsatze uber sie schreiben. In den Krieg trat Breschnew als Unteroffizier, was aber in seinen Buchern nicht auffiel. Die Werke dienten als unerschopfliches Nachschublager fur Breschnew- Witze:

Wir schreiben das Jahr 1945. Der Generalissimus Stalin ruft bei Marschall Schukow an:

»Haben Sie schon ein Plan fur die Eroberung Berlins?«

»Jawohl, Genosse Stalin!«

»Und haben Sie ihn schon mit dem Unteroffizier Breschnew abgesprochen?«

Breschnew ernannte sich selbst spater ebenfalls zum Marschall, im Volksmund hie? es:

»Wofur hat Breschnew den Marschalltitel bekommen? Fur die Eroberung des Kreml.«

Die wirkliche Politik hat damals niemanden gro? interessiert. Wahrend des Literaturunterrichts hatten viele von uns unter der Bank franzosische Abenteuerromane von Maurice Druon auf den Knien liegen. Diese Liebesintrigen aus dem Leben der koniglichen Familie waren uns naher als die Politschinken: »Oh Gott«, stohnte die Konigin. »Ich bin schwanger und wei? nicht von wem!« In diesen Romanen spielte sich das wahre Leben ab, in Breschnews Werken wurde dagegen nie jemand schwanger. Man las also Liebesromane im Unterricht und erzahlte in der Pause Witze uber den Generalsekretar:

Breschnew gibt eine Pressekonferenz.

»Hat noch jemand Fragen?«

Alle schweigen.

»Keine Fragen?«, wundert sich Breschnew. »Das kann nicht sein, Genossen, ich habe hier noch zwei Antworten vor mir liegen.«

Mit der Perestroika kam alles in Bewegung. Plotzlich wurde die Politik spannend, skurril, hoffnungsvoll und war uberhaupt nicht mehr komisch. Alle starrten wie gebannt auf den Bildschirm, die Debatten im Parlament wurden ungeschnitten den ganzen Tag lang ausgestrahlt. Die Politik wurde schwanger wie die Konigin im franzosischen Liebesroman, und alle warteten ungeduldig auf das Kind: ein Jahr, zwei Jahre, dann nicht mehr. Es kam nichts. Die Debatten im Parlament brachten nur Enttauschung, und der politische Witz tauchte auch nicht wieder auf. Es gab wenig zu lachen im Parlament. Dafur lieferten die ersten russischen Kapitalisten eine neue Steilvorlage fur alle Witzbolde im Land. Die Neureichen, auch Neue Russen genannt, waren wie uniformiert mit ihren himbeerfarbenen Anzugen, dicken Goldketten bis zum Nabel und Gelandewagen mit einer Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz: Sie waren lustig.

Ein Arbeitsloser kommt zu einem Neureichen.

»Ich habe gehort, Sie suchen einen neuen Buchhalter.«

»Ja«, sagt der Neureiche, »und den alten suche ich auch.«

Eine Zeit lang musste der Neureiche ganz allein fur den Neuhumor des Neukapitalismus herhalten. In diesen Witzen gru?te er die Menschen mit dem Fu?, statt mit der Hand, damit alle seine goldenen Schuhe sahen. Er bestellte im Juwelierladen ein Kruzifix, um es als gro?es Kreuz an seine Halskette zu hangen, wobei er den Verkaufer bat, den »Schwimmer«, also Jesus, abzuloten. Er kaufte sich ein Hotel in Nizza mit allen Gebauden im Umkreis von funf Kilometern und lie? den Strand weitraumig absperren. Dann stand der Neureiche allein mit einem bescheidenen Badetuch am Strand, beobachtete, wie die Sonne im Wasser unterging, und seufzte: »Wie wenig braucht der Mensch doch, um glucklich zu sein.«

Alle konnten diese Witze verstehen und uber sie lachen. Au?er Putin. Er fand die Neureichen nicht lustig und sprach sich fur eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Privatkapital und dem Staat aus. Ubersetzt aus der Sprache der Politik in die Menschensprache hie? das ungefahr: »Ich zahle bis drei. Wer bis dahin keinen sicheren Baum gefunden hat, ist selber schuld.« Und der sicherste Baum des Landes war Putin selbst, ein Mann, der keine Witze verstand.

Der russische Witz verabschiedete sich endgultig aus der Politik und dem Business, er ging ins Private: Ein wenig Sex, ein bisschen Fu?ball, und ganz viel Fremdenfeindlichkeit. Fruher waren die Tschuktschen und die Judenwitze absolute Renner. Der Tschuktsche wurde als der dumme Wilde dargestellt und der Jude als der Gerissene.

Beispiel eins:

Ein judischer Soldat ist verletzt, kann seine Leiden nicht mehr ertragen und bittet seinen Freund, ihn zu erschie?en.

»Ich kann nicht, ich habe keine Munition mehr«, sagt der.

»Ach, ich kann dir welche verkaufen«, meint der Verletzte.

Beispiel zwei:

Ein Tschuktsche geht zur Polizei, um seine Frau als vermisst zu melden.

»Wie sieht sie denn aus?«, fragt ihn der Polizist.

»Wei? nicht«, sagt der Tschuktsche.

»Du musst sie aber beschreiben, damit wir sie suchen konnen«, erklart ihm der Polizist. »Meine Frau zum Beispiel ist gro?, schlank und blond.«

»Na dann, lass uns lieber deine Frau suchen«, sagt der Tschuktsche.

Die Tschuktschen waren lange Zeit davon uberzeugt, dass Juden sich die Tschuktschenwitze ausgedacht hatten, damit man nicht nur uber sie lachte. Aus demselben Grund vermuteten die Juden, dass die Tschuktschen fur die Judenwitze verantwortlich waren.

Nach Auflosung der Sowjetunion haben sich die Dummen multipliziert. Alle Volker wurden im Kapitalismus zu Tschuktschen. Die Russen erzahlen zum Beispiel gerne Witze uber die geizigen Ukrainer, die verstockten Esten und die wilden Georgier. Die Ukrainer lachen ihrerseits gerne uber die zuruckgebliebenen Moldawier, die gierigen Russen und geschaftstuchtigen Armenier. Die Esten kennen viele Witze uber die unzivilisierten Russen, und alle postsowjetischen Volker sind nach wie vor gut auf Juden und Tschuktschen zu sprechen. Es sind oft die gleichen

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