gro? wie auf den Landkarten dargestellt. In dem deutschen Schulatlas wirkt die russische Eismeerinsel Nowaja Semlja zum Beispiel etwa so gro? wie die Ostseeinsel Rugen. In Wirklichkeit ist sie jedoch mehr als 12 000 Quadratkilometer gro?er als Irland.
Jetzt aber mal langsam, wird der kritische Leser an dieser Stelle vermutlich sagen. Auf die Art kann man jedes Land vergro?ern. Wie gro? wurde zum Beispiel Osterreich, wenn man es nach Art eines Wiener Schnitzels platt klopfte. Und wenn man die Inseln Japans etwas auseinanderzoge, konnten sie schnell zum gro?ten Archipel der Welt werden. Doch in Wirklichkeit durfen zum Beispiel osterreichische Dusenjager nicht einmal Gas geben, denn kaum tun sie das, haben sie schon fremde Luftraume verletzt. Und Japaner mussen beim Angelauswerfen aufpassen: Wenn sie zu weit ausholen, landen ihre Koder in fremden Gewassern. Russen konnen dagegen zwei Wochen lang Zug fahren, um ihre Schwiegereltern zu besuchen, das ist normal. Andererseits verstort die Russen nichts mehr, als mit einer Grenze konfrontiert zu werden. Sofort bekommen sie Platzangst.
Mein Freund Sergej erlebte neulich solch einen russischen Grenzenalptraum in den Schweizer Alpen, wo er mit seiner Freundin Skiurlaub machte. Sergej wollte den anderen Skilaufern zeigen, was eine Harke ist. Er bog einmal falsch ab und fuhr auf der anderen Seite des Berges hinunter, dort, wo sich niemand zu fahren traute, wie er dachte. Unten angekommen lief er zur Seilbahn, um schnell wieder nach oben zu gelangen, wo seine Freundin auf ihn wartete. Der Kartenverkaufer lie? ihn jedoch mit seinem Ticket nicht passieren. Er verlangte von Sergej in fur ihn schwer verstandlichem Englisch etliche Euros fur die Fahrt. Sergej hatte nur Schweizer Franken, er war ja in die Schweiz in Urlaub gefahren. Der Kartenverkaufer weigerte sich jedoch, Franken anzunehmen. Nach einem kurzen, heftigen Gesprach dammerte es meinem Freund, was passiert war. Er hatte die falsche Seite des Berges erwischt und war in Italien gelandet, hoffnungslos weit von seiner Freundin, seinem Wagen und seiner Kreditkarte entfernt. Auf den Vorschlag des Kartenverkaufers, er solle sich sofort auf den Weg nach Rom zum russischen Konsulat machen, reagierte er verargert. Er hatte den weiten Weg nach Rom in seinen Skistiefeln auch mit Sicherheit nicht geschafft.
Sergej, sonst ein ausgewogener ruhiger Mann, bekam plotzlich eine Platzangstattacke. Die Vorstellung, dass er durch eine Minutenfahrt in einem anderen Land, quasi auf der anderen Seite der Welt, gelandet war, erschreckte ihn zutiefst. Vollig au?er sich sturmte er beinahe die italienische Seilbahnkabine und versuchte sich hinter den anderen Insassen zu verstecken. Als ihm die Italiener seine Verzweiflung ansahen, bewiesen sie Gro?mut und lie?en ihn zuruck in die Schweiz fahren, zu seiner Freundin und seinem Geld. Die Freundin wollte ihm dann jedoch seine Geschichte nicht abnehmen und hielt sein ganzes schreckliches Italienerlebnis fur eine faule Ausrede.
Zukunftig fahrt mein Freund zum Skilaufen in den Kaukasus. Dort kann er an allen Seiten des Berges problemlos abfahren.
Andrej und das Geheimnis der blauaugigen Blondine
Andrej litt unter Einsamkeit. Seit ungefahr einem Jahr war er, wie die meisten seiner Mitschuler in der Sprachschule, in seine Lehrerin Frau Schmidt verliebt. Doch die Beziehung war rein platonisch und ohne Aussicht auf Gegenseitigkeit. Frau Schmidt war jung, schlank und hatte blonde Haare, au?erdem unterrichtete sie Deutsch auf eine sehr erotische Art. »Berlin ist eine herrliche Stadt«, diktierte sie, und alle Manner in der Gruppe bekamen weiche Knie.
Andrej hatte keine Lust, sein ganzes Leben in einer Manner-WG zu fristen. Er brauchte eine Frau zum Kuscheln und Zusammensein und nicht nur zum Betrachten und Bewundern. Ich empfahl ihm, die Annoncen in der gro?ten russischsprachigen Zeitung Deutschlands zu studieren, dort kann man alles finden. Andrej war aber dem typisch russischen Aberglauben verfallen, dass alles, was in der Zeitung steht, gelogen ist. Besonders die Kontaktanzeigen.
»Sie werden doch jede Woche von den Mitarbeitern der Zeitung selber geschrieben, die sich damit uber ihre Leser lustig machen wollen«, meinte er.
»Das kann man aber doch schnell nachprufen«, entgegnete ich.
Dazu muss man wissen, dass russische Kleinanzeigen viel offener als deutsche sind. Russen verstecken sich nicht hinter einer namenlosen Chiffre-Nummer, sie geben immer gleich ihre Telefonnummer und sogar ihre Adresse an. Kurzum: Ich uberzeugte Andrej, sein Gluck in der Zeitung zu suchen. Er kaufte die aktuelle Ausgabe und studierte sie grundlich. Das erstaunliche Ergebnis war: Ungefahr funfzig Frauen suchten genau ihn. Man konnte meinen, Andrej ware der perfekte Mann. Er wurde einfach den unterschiedlichsten Frauenwunschen und - anforderungen gerecht. Er war nicht alter als 45 Jahre, hatte eine tiefe Stimme, war lebensfroh und zugleich ernsthaft, hatte keine gesundheitsschadlichen Angewohnheiten, dafur ein nettes Zuhause und au?erdem war er »intelligent«, »anstandig«, »gro?zugig«, »liebevoll« und »gut bestuckt«. Mit seinen vielseitigen Eigenschaften konnte Andrej, wenn er blo? wollte, alle funfzig Frauen aus der Zeitung glucklich machen. Er suchte aber nach einer ganz bestimmten Frau und benutzte dabei wahrscheinlich Frau Schmidt als Vorbild.
Letzten Endes fiel seine Wahl auf eine merkwurdige Annonce, die sogar mich misstrauisch machte: »Das Leben ist seltsam. Das Leben ist ein Geheimnis. Traurige blauaugige Blondine sucht verwandte Seele, die sie vor bosen Geistern schutzt. Alkoholiker und Sexbesessene brauchen nicht anzurufen.«
Andrej hielt ausgerechnet diese Annonce fur die glaubwurdigste.
»Was fur ein Geheimnis? Wieso ist die Blondine traurig? Und was sind das fur bose Geister die sie verfolgen? Das hort sich alles eindeutig nach Prugeln an«, warnte ich meinen Nachbarn.
Andrej rief die Frau trotzdem an und vereinbarte ein Treffen mit ihr. Die Zeitung hatte nicht gelogen, die traurige Blondine gab es wirklich. Sie hie? Natascha und arbeitete in einem Textilladen. Es begann eine wunderbare Freundschaft. Das Leben von Natascha war tatsachlich seltsam: Es war voll von enttauschten Liebhabern, eifersuchtigen Ehefrauen, betrogenen Ehemannern und ganz normalen fremden Menschen, die Natascha einmal zufallig begegnet und dann fur immer in ihr Leben verstrickt worden waren. Innerhalb eines Monats erfuhr und erlebte Andrej mehr als in all den Jahren zuvor. Zweimal rettete er Natascha das Leben, und mehrmals wurde er selbst von bosen Geistern verprugelt, die alle Exfreunde von Natascha waren. Au?erdem kam es zu einem Autounfall, einem Selbstmordversuch und einer halben Orgie in einer arabischen Botschaft. Nach diesen aufregenden vier Wochen wurde Andrej jedoch mude und zog sich aus der Affare zuruck. Dem Geheimnis der traurigen Blondine kam er nicht auf die Spur.
Durch diese traurige Zeitungsaffare versank er noch tiefer in seiner Einsamkeit. Ich konnte ihm wenig helfen, denn auch der beste Freund taugt nichts, wenn es um Liebeskummer geht. Seine Lebenskrise entwickelte sich so weit, dass er schlie?lich kaum noch aus dem Haus ging. All seine Versuche, den Fluch der Einsamkeit zu durchbrechen, waren erfolglos geblieben.
»Die Menschheit ist zum Scheitern verurteilt«, meinte er philosophisch.
Andrej ist Existenzialist. Er glaubt, alles, was ihm passiert, geschieht zugleich in und somit auch mit der ganzen Welt. In unserer gemeinsamen sozialistischen Vergangenheit gab es fur Menschen mit solchen Problemen Anstalten und eine Instanz, die das Recht besa?, jedes Individuum vorubergehend von der Realitat freizustellen: den Psychiater. Er konnte einen aus allen Pflichten entlassen - der Arbeitspflicht, Wehrpflicht, Heiratspflicht und sogar aus der Pflicht, immer fur den Frieden und gegen den Imperialismus zu sein. Es war nicht leicht, ein Gesprach mit ihm zu bestehen, und die Angst durchzufallen war gro?er als bei jeder Aufnahmeprufung.
»Stellen Sie sich einen Reiter auf einem Pferd vor. Mir wem identifizieren sie sich? Tut Ihnen das Pferd leid oder der Reiter oder der Bildhauer? Malen Sie ein Quadrat. Malen Sie ein Dreieck.«
Ohne solche Psychiater und ganz auf sich allein gestellt war mein Nachbar schon so weit, dass er bei Radiosendern anrief. Aber so ist der Mensch, er findet immer eine neue Quelle, aus der er Hoffnung schopfen kann. Allerdings ist jede neue Quelle noch fragwurdiger als die vorherige. Kaum war sein Vertrauen in die Zeitungsannoncen erloschen, traten Verkuppelungssendungen an ihre Stelle. Neulich war ich Zeuge, wie er mit einer solchen beliebten Berliner Verkuppelungssendung telefonierte:
»Hallo, ich hei?e Alexander, wohne in Charlottenburg und mochte eine Frau kennenlernen.«
Das war ein Experiment: Er gab sich als jemand anderer aus, um herauszufinden, ob es an ihm oder an der Menschheit lag. Und ob er als Alexander aus Charlottenburg mehr Chancen hatte.