alten Witze, nur die Nationalitaten wurden ausgetauscht. Den Witz uber den verletzten judischen Soldaten habe ich zum Beispiel auch uber einen Ukrainer, einen Russen und einen Armenier gehort. Aus der allgemeinen Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenuber den neuen Verhaltnissen entsteht so ein neuer Internationalismus, der alle Ethnien und Bevolkerungsgruppen in ihrer Damlichkeit gegenuber dem Kapitalismus vereint.

In der russischen Politik, wie in der deutschen auch, sind die einzigen Spa?vogel die Liberalen. Der russische Chef der liberalen Partei, Schirinowski, versucht auf russische Art lustig zu sein: Mal haut er einem Parlamentarier wahrend der Sitzung eins in die Fresse, mal wendet er sich an den amerikanischen Prasidenten Bush mit den Worten: »Vergiss den Irak, du Arschgeige, lass uns lieber gemeinsam Georgien plattmachen.«

Aber auch er schaffte es nicht, den russischen Prasidenten zum Lachen zu bringen. Er lacht nicht in der Offentlichkeit. Hochstens hinter verschlossenen Turen, wenn jemand einen dieser modernen tschetschenischen Terrorwitze erzahlt:

Ein Soldat der Einheit zur Terrorbekampfung schickt seiner Oma nach Sibirien einen Sprenggurtel als Souvenir.

»Liebe Oma«, schreibt er, »du wolltest doch schon immer eine warme Weste haben, jetzt habe ich eine fur dich. Sie ist gro?e Mode in Moskau und birgt eine Uberraschung. Da ist so ein kleiner Ring hintendran, wenn du daran ziehst, bekomme ich drei Tage Urlaub.«

Da lacht der Prasident!

Das russische Rebellen-Gen

Jede Nation hat eine Geschichte, die am besten mit einer anstandigen Schlacht beginnt, moglichst mit einer gewonnenen. Wenn nicht, wird sie im Grundungsmythos zu einer gewonnenen umgedeutet. Bei den Amerikanern war es der Unabhangigkeitskrieg gegen England, der mit der beruhmten Boston Tea Party begann. Die Deutschen leiten ihre Geschichte gerne aus der Hermannsschlacht im Teutoburger Wald ab, die neuerdings aus Grunden der politischen Korrektheit in »Varusschlacht am Kalkrieser Berg« umbenannt wurde. Laut Legende haben dort vor knapp 2000 Jahren wilde Germanen, mit handgeschnitzten Keulen bewaffnet, mehrere romische Legionen komplett im niedersachsischen Sumpf versenkt.

Sicher hat diese Schlacht aus heutiger Sicht den Deutschen mehr geschadet als genutzt. Hatten diese Barbaren damals die Romer nicht geschlagen, ware in Deutschland einiges anders gelaufen. Wir hatten zum Beispiel leckeres Risotto statt Klopse, guten Wein statt Bier und leidenschaftliche Liebesromanzen statt Blaskapellen als Volksmusik. Alle Nachrichtensprecher waren Blondinen mit gro?em Busen und die jungen Manner trugen dunkle Locken statt Glatzen. Aber die Germanen mussten ja den Romern zeigen, wer der Boss im Wald ist. Was haben sie nun davon? Doner Kebap! Naturlich hat dieser Sieg das germanische Selbstwertgefuhl enorm gesteigert. Er hat den vereinzelten Stammen geholfen, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zu werden, die Verantwortung fur ihren Wald und Sumpf ubernahm, sie pflegen und hegen und das Ganze »Heimat« nannte. Die Germanen haben gelernt, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und sie durchzusetzen.

In der russischen Geschichte spielt die Schlacht bei dem Dorf Kulikowo eine ahnlich herausragende Rolle. Im Jahr 1380 standen die Russen auf dem Feld vor Kulikowo den ganzen Sommer hindurch den Tataren gegenuber, angeblich um zu klaren, wer wem wie viel Steuern schuldete. Nach heutigem Kenntnisstand spricht vieles dafur, dass damals auf beiden Seiten Russen sowie Tataren aufmarschiert waren. Die einen wollten die anderen knebeln. Um es burokratisch auszudrucken: Am Feld von Kulikowo kam es zum Konflikt zwischen dem damaligen russischen Ur-Finanzamt - das auch heute das starkste und bestbewaffnete Amt in Russland ist - und den Steuerfluchtlingen, die sich vom Joch des Staates zu befreien suchten. In Russland lag die Hauptdemarkationslinie schon immer zwischen dem Staat und dem Volk. Sie trauten und mochten einander nie und nutzten jede Gelegenheit, um einander eins auszuwischen. Aber keiner konnte den anderen besiegen. Die Schlacht auf dem Kulikowo-Feld zog sich ebenfalls in die Lange. Wer letzten Endes damals gewonnen und wer verloren hat, ist bis heute unklar.

Wahrend die Europaer sehr fruh einen schwermutigen Patriotismus, eine gemutliche Zuneigung ihren kleinen Landchen gegenuber entwickelten, gaben sich die Russen in ihrem Riesenland stets Muhe, nach alternativen Lebenskonzepten zu suchen. Sie wollten sich auf keine klare gesellschaftliche Form festlegen. Um in einem kleinen europaischen Land zu uberleben, braucht es Gehorsam und Disziplin. Es werden jede Menge Gesetze verabschiedet, um das gesellschaftliche Zusammenleben bis in jede Kleinigkeit zu regeln. Individualisten werden von der Allgemeinheit abgelehnt. Die Europaer sind allein schon wegen der Enge ihrer Lander aufeinander angewiesen. Hat einer kurz mal nicht aufgepasst, schon steht er einem anderen auf dem Fu?. Im russischen Riesenreich entwickelten die Einwohner dagegen eine ablehnende, anarchistische Haltung gegenuber jeder Art von Gesetzgebung. Sie wollten und wollen keine Macht uber sich dulden.

In einer endlosen Reihe nie zu Ende ausgetragener Kampfe zwischen dem Staat und dem Volk wurde das russische Rebellen-Gen immer robuster. Seit Anbeginn teilte sich die russische Gesellschaft in Semschtschina und Opritschnina - in Landmenschen und Staatsmenschen. Die Zugehorigkeit zu einer der Gruppen war ausschlaggebend fur den weiteren Lebenslauf. Die Staatsmenschen und die Landmenschen hielten einander fur die schlimmsten Finger Russlands. Unter Iwan dem Schrecklichen drifteten beide Gruppen vollends auseinander. Die Staatsmenschen schworen einen Eid auf den Herrscher, infolgedessen sie sich mit den Landmenschen nicht einmal unterhalten durften. Sie trugen au?erdem gema? eines Befehls des Zaren eine Uniform: lange schwarze Kleider, ahnlich denen der Monche in den Klostern, mit einem auf dem Armel genahten Symbol ihrer Macht, ein Hundekopf, unterstrichen von einem Besen. Das Symbol deutete ihre Aufgabe an: die anarchistichen Hundekopfe aus dem Land zu fegen. Um ihre Existenz zu finanzieren, erhoben die Staatsmenschen eine Steuer, die sie selbst eintreiben mussten.

Sie waren, um es deutlicher auszudrucken, Steuerfahnder.

Die Hundekopfe wiederum waren diejenigen, die keine Steuern zahlten. Sie begingen Steuerflucht, das hei?t sie nahmen einen Stock in die Hand und wanderten ein Stuck weiter in die Steppe in der Hoffnung, der Staat wurde sie dort nicht finden und in Ruhe lassen. Die Steuerfahnder folgten ihnen jedoch. Wahrend die europaischen Staaten sich durch Eroberungs- und Kreuzzuge in weit entfernten Kolonien vergro?erten und dort bereicherten, wuchs der russische Staat quasi an Ort und Stelle, in dem er seinen Burgern hinterhereilte.

Als Vorbeugungsma?nahme versuchte der russische Staat immer wieder seine Burger einzuzaunen, doch schon nach kurzester Zeit entstand in jedem russischen Zaun ein gro?es Loch. Die Russen liefen in alle Himmelsrichtungen, nach Suden und nach Norden. Sie gingen durch die Wuste, kletterten uber Berge, bauten gro?e Siedlungen in der Taiga und kampften gegen Eingeborene. Sie taten alles, um dem Staat zu entkommen. Fruher oder spater wurden sie jedoch von dessen Gesandten eingeholt und gebandigt. Nach ihrer Zahmung fand man diese staatsfluchtigen Landmenschen in den russischen Geschichtsbuchern wieder - dort wurden sie als mutige Staatsmenschen gepriesen, die sich im Auftrag des Imperiums bemuhten, neue Landereien zur Ehre Russlands zu erobern und dem Reich wilde Stamme anzuschlie?en. Auf diese Weise wurde die Geschichte Russlands immer wieder neu geschrieben.

Der Hauptunterschied zwischen Russland und den europaischen Nachbarn lag und liegt also in der Gro?e des Landes. Der deutsche Wald, die Felder Frankreichs, die Berge Italiens, von dem Inselchen England ganz zu schweigen, sind gut uberschaubar und hinter dem nachsten Baum schon fast zu Ende. Die russische Steppe verspricht dagegen Grenzenlosigkeit. Sie macht Hoffnung auf einen moglichen Neuanfang auf unbekanntem Territorium. Diese Hoffnung nahrt die russische Anarchie. Kaum hat sich der Staat entspannt und ein Auge zugedruckt, schon hauen alle ab, oder es gibt eine Revolution, oder es wird geputscht. Bose Zungen behaupten, Russland habe gar keine Geschichte, weil die Geschichte eines Landes von ihren Bewohnern als Lehre benutzt werden muss. Sie bietet den Menschen die Moglichkeit, die Entwicklung ihres Landes zu reflektieren. In Russland aber fangt jeden Tag alles immer wieder von vorne an.

Kaum jemand im Westen hat eine Vorstellung von der Gro?e dieses Landes. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Russland auf den Weltkarten an einer sehr ungunstigen Stelle liegt und von daher verzerrt eingezeichnet wird. Mit den beiden Enden nach oben wirkt es auf der Karte wie ein halb zusammengerolltes Zigarettenpapierchen. Wenn man aber Russland ganzlich auseinanderrollen wurde, ware es mindestens doppelt so

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