klappte irgendwie nicht: Kaum setzte er sich ans Steuer und gab Gas, schon hielt ihn die Polizei an.
»Man kann sich hier nirgendwo wild amusieren«, beschwerte sich Andrej bei uns in der Kuche.
Dann kam der Winter, fur uns immer die Urlaubszeit, und er wollte unbedingt nach St. Petersburg.
»Ich kann es nicht erwarten, meine alten Freunde dort wiederzusehen«, meinte er.
Zwei Wochen spater trafen wir uns alle in Berlin wieder. Meine Frau und ich hatten uns gut erholt, aber unser Freund sah vollig fertig aus. Er konnte nicht gerade stehen, lief immer gebuckt und mit deutlichem Linksdrall und war fur zwei Wochen krankgeschrieben. Voller Entsetzen erzahlte uns Andrej von den wilden Nachten, die er in St. Petersburg verbracht hatte. Er hatte seine Freunde getroffen, viel war in seiner Abwesenheit passiert. Der arme Physiklehrer hatte sich bei Coca-Cola als Verkaufsleiter beworben und den Job auch bekommen. Schnell war er reich geworden. Der scheue Grafikdesigner hatte eine Achtzehnjahrige in einer Bar kennengelernt, hatte sie geheiratet und war unglucklich geworden. Die Exfreundin von Andrej hatte sich in einen orthodoxen Religionsfanatiker verliebt, der ein Tatowierungsstudio in St. Petersburg betrieb. Dort bot er allen Glaubigen zu einem gerechten Preis schone Tatowierungen mit religiosen Motiven an. Der Religionsfanatiker erwies sich als so netter Kerl, dass er nach der zweiten Flasche Wodka in Andrejs Freundeskreis aufgenommen wurde.
Andrej horte sich all diese Geschichten an und bekam das Gefuhl, im westlichen Ausland zu verfaulen. Er konnte kaum etwas Aufregendes uber sein Leben in Berlin erzahlen - es stagnierte vor sich hin, wahrend es bei seinen Freunden mit Volldampf vorangegangen war. Eine Woche verbrachten sie im Suff. Dann musste Andrej wieder nach Berlin zuruck. Am letzten Abend schlug ihm der Religionsfanatiker vor, sich kostenlos eine Tatowierung bei ihm im Studio verpassen zu lassen, zur Erinnerung an ihre wunderbare Begegnung. Der Coca- Cola-Manager, Andrejs Exfreundin und der unglucklich verheiratete Grafikdesigner waren von der Idee begeistert. Warum eigentlich nicht, dachte Andrej. Ein nettes kleines Tattoo kann nicht schaden. Sie nahmen einige Flaschen Wodka und fuhren noch in derselben Nacht ins Studio. Der Meister bot Andrej das beste Piece aus seiner Sammlung an: die Kirche des heiligen Wladimir. Das riesengro?e Gebaude mit funf Kuppeln passte gerade so auf Andrejs Rucken. Andrej war verzweifelt.
»Um ein solches Gemalde auf meinen Rucken zu tatowieren, werden wir bestimmt drei Tage brauchen«, wandte er ein.
»Das ist eine Sache von drei Minuten«, beruhigte ihn der Religionsfanatiker. »Ich arbeiten namlich nicht mit der Maschine, sondern nach einem von mir personlich entwickelten Verfahren. Ich nenne es ›Schocktatowierung‹. Dabei wird ein von Hand gefertigtes Muster auf deinen Rucken gepresst - zack und fertig!«
Stolz zeigte der Tattoomeister Andrej ein Brett, aus dem Hunderte von Stahlnageln herausragten. Zusammen bildeten sie die Kirche des heiligen Wladimir. Andrejs Freunde waren von der Idee begeistert.
»Naturlich wird es fur dich ein Schock sein, ein bisschen Schmerz, ein wenig Leiden. Aber dafur wirst du dann noch lange an dieses religiose Ereignis erinnert«, meinte der Religionsfanatiker.
»Wir werden dich mit Wodka betauben, damit du nicht in Ohnmacht fallst«, beruhigten die Freunde Andrej.
Er legte sich auf die Couch. Der Tattoomeister trug die Farbe auf die Nagel auf. Dann gab er Andrej ein Schnapsglas, desinfizierte mit dem Rest des Alkohols seinen Rucken und presste das Nagelbrett mit voller Kraft darauf. Der Schmerz war so stark, dass unser Freund fur einige Minuten das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, stellte er fest, dass er sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Wahrscheinlich war bei der Prozedur irgendein Ruckennerv verletzt worden.
In der Badewanne fiel Andrej beinahe ein zweites Mal in Ohnmacht, als er im Spiegel seinen Rucken sah. Dem betrunkenem Tattoomeister war ein fataler Fehler unterlaufen: Er hatte das Brett falsch aufgesetzt und die Kirche verkehrt herum auf den Rucken gedruckt - mit den Kuppeln nach unten. Nun sah sie wie eine riesige funfbeinige Krake aus, und war als Kirche uberhaupt nicht mehr erkennbar. Zuerst wollte Andrej dem gro?en Meister die Fresse einschlagen, doch Letzterer sa? volltrunken in seiner Werkstatt und war nicht ansprechbar. Am nachsten Tag verlie? Andrej seine Heimat und flog zuruck nach Berlin. Verfluchtes St. Petersburg! Sein Rucken sei nun hoffnungslos versaut, meinte er. Die Arzte hatten ihm zwar gesagt, dass sie ihm ein Implantat aus Kunststoff annahen oder ein Stuck Haut aus seinem Hintern verpflanzen konnten, aber das sei tierisch teuer und auch nicht ungefahrlich.
»Ware ich nur mit euch nach Teneriffa gefahren, dann ware das alles nicht passiert«, seufzte er bedruckt. Und wir gaben ihm Recht.
Blauwurste und Dame mit Hut
In Dezember beschlossen Sergej und ich mit seinem Auto einen Ausflug nach Charlottenburg zu unternehmen, um einen alten Freund von mir zu besuchen. Thomas, ein ehemaliger Theaterkollege von mir, hatte sich ein Jahr zuvor von der Kunst verabschiedet und als Geschaftsfuhrer ein Restaurant in der Nahe des Savignyplatzes ubernommen. Seitdem langweilte er sich zu Tode. Jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, erzahlte er mir, wie toll dieses Lokal fruher gewesen ware - das einzige Restaurant in der Stadt mit echter frankischer Kuche im Angebot: blaue gekochte Bockwurste in Apfelsud und dazu erlesene Weine.
»In den Zwanzigerjahren wurden hier sogar Wohltatigkeitskonzerte veranstaltet, und jede Menge beruhmte Musiker traten hier auf. Heute kommen nur noch drogenabhangige Punker mit ihren Gitarren bei uns vorbei. Sogar die Touristen meiden uns und fahren inzwischen nach Ost-Berlin«, beschwerte sich Thomas.
»Ost-Berlin ist heute in«, bestatigte Sergej, der neuerdings nur in Reimen Deutsch sprechen konnte. Wir sa?en alle drei an einem Ecktisch, drau?en leuchteten Girlanden, die ganze Stadt verwandelte sich unaufhaltsam in einen einzigen Weihnachtsmarkt.
Das Restaurant war an dem Abend leer, nur zwei Rentner nippten an ihren Kaffeetassen, und ein junges Parchen besprach seine interne Beziehungssituation. Keiner interessierte sich fur Thomas’ blaue Wurste. Da ging die Tur auf, und eine Frau betrat das Lokal. Sie trug ein langes schwarzes Kleid unter dem Mantel und hatte einen riesengro?en Hut auf dem Kopf, als kame sie aus einer anderen Zeit, oder als hatte der Fundus der Komischen Oper seine Garderobe zu Weihnachten verramscht.
»Ich habe Hunger«, sagte sie zu Thomas, »was wurden Sie mir empfehlen?«
Thomas empfahl ihr naturlich die blauen Wurste, dazu einen Rotwein und Pflaumenkuchen zum Dessert. Die Frau aus den Zwanzigerjahren a? alles auf, trank anschlie?end noch einen Cognac und weigerte sich dann zu bezahlen. So etwas passierte Thomas zum ersten Mal. Zwar war es schon mehrmals vorgekommen, dass Kunden weggelaufen waren, ohne ihre Rechnung zu begleichen, doch diese Frau hatte nicht vor wegzulaufen.
»Ich zahle nie«, wiederholte sie nur immer wieder, »das lehne ich prinzipiell ab.«
Thomas war aufgeschmissen. Die Frau lachelte ihn freundlich an und fragte, ob er vielleicht eine Zigarette fur sie habe. Er riet ihr stattdessen mit bosem Gesicht, die Rechnung zu bezahlen: »Sonst werde ich die Polizei alarmieren!«
»Tun Sie, was Sie fur richtig halten, ich zahle nie«, wiederholte die Dame.
Thomas ging zum Telefon, kehrte dann aber wieder zu der Dame zuruck. Er hatte keine Lust auf die Polizei.
»Uberlegen Sie es sich noch einmal grundlich, das kann namlich schlecht fur Sie ausgehen!«, warnte er.
»Junger Mann«, sagte die Dame, »brullen Sie mich nicht so an, alarmieren Sie von mir aus die ganze Stadt, ich werde nicht weglaufen. Kann ich noch einen Rotwein haben?«
»So eine Frechheit!«, rief Thomas verzweifelt und telefonierte dann doch mit der Polizei.
Alle Gaste starrten nun die Dame mit dem Hut an. Sie benahm sich sehr gelassen, als tate sie so etwas jeden Tag. Wahrscheinlich tat sie das auch. Einer der Rentner gab ihr eine Zigarette. Die Polizei kam und kam nicht. Thomas wurde immer nervoser und drehte in seinem Restaurant sinnlose Kreise. Die Dame strahlte wahrenddessen weiter Freundlichkeit aus. Eine halbe Stunde verging.
»Regen Sie sich nicht so auf«, beruhigte sie Thomas, »sie kommen schon noch - fruher oder spater. Die Polizei hat heutzutage viel zu tun.«