Bewohner beider Stadte einander nicht ausstehen konnen. Diese Feindschaft hat eine lange Tradition und ist in der Geschichte Russlands tief verwurzelt. Die Moskauer halten die St. Petersburger fur arrogant, die St. Petersburger halten die Moskauer fur prollig. Selbst nach vielen Jahren in Berlin, werde ich von meinen Nachsten oft mit solchen Ausdrucken wie »typisch Moskauer« oder »dieser Moskauer Dialekt« gehanselt.
Ich bin kein gro?er Patriot und habe nichts gegen St. Petersburg. Es ist eine schone Stadt, ein wenig muffelig vielleicht, au?erdem gehen die Brucken standig auf und zu, die Bewohner sind unglaubliche Angeber, der See ist dreckig, das Wetter das ganze Jahr uber beschissen, das Nachtleben provinziell. Aber sonst finde ich St. Petersburg vollig in Ordnung. Nur diesen ewigen Hohn Moskau gegenuber, der schonsten aller russischen Stadte, kann ich nicht nachvollziehen. Auch viele Deutsche scheinen ein falsches Bild von Moskau zu haben.
»Lieber Herr Kaminer«, stand neulich in einem Brief, »hier ist ein Thema, das ich Ihnen gerne vorschlagen wurde fur Ihre literarische Arbeit. Es geht dabei um Moskauer Manieren. Als ich vor kurzem dort war, ist mir aufgefallen, dass alles, was bei uns unter Servicebewusstsein, Dienstleistungsmentalitat und ahnlichen Begriffen lauft, in Moskau nur rudimentar entwickelt bzw. uberhaupt nicht vorhanden ist. Diese versteinerten Mienen der Bedienungen in Laden, Supermarkten, an der Museumskasse oder im Restaurant. Ich wei? nicht, ob die allgemeine Misslaunigkeit vor allem Touristen oder nicht russischsprachige Menschen erfahren, glaube es aber fast nicht. Meine Kollegen, deutsche Korrespondenten und Journalisten, die ich in Moskau getroffen habe, waren die Griesgramigkeit so gewohnt, dass sie sie kaum noch wahrnahmen.«
Ich schrieb dem Absender zuruck:
Als geburtiger Moskauer kann ich Ihnen da nur zustimmen. Obwohl ich schon seit zwolf Jahren in der weltoffenen Metropole Berlin lebe, habe ich standig mit der mir anscheinend angeborenen Grimmigkeit zu kampfen. Es fallt mir schwer, freundlich zu lacheln. Ich vergesse manchmal »Bitte« und »Danke« zu sagen, und wenn ich meine Nachbarn im Treppenhaus gru?en will, sind sie normalerweise schon uber alle Berge. Hin und wieder neige ich sogar zu grob sittenwidrigen Handlungen und werde dann von meinen Nachbarn und meiner Frau, alles geburtige St. Petersburger, zu zivilisiertem Verhalten angehalten.
Die schwierige Last der Moskauer Manieren trage ich schon mein ganzes Leben lang und erkenne daher einen Landsmann immer schon von weitem. Ob in Lettland oder in der Ukraine, in Kasachstan oder Moldawien, uberall zeigen die Menschen sofort mit dem Finger auf einen und sagen ihren Kindern: »Schau mal da - ein Moskauer. Der sieht nicht gut aus.«
Sich uber Moskauer Sitten zu beschweren hat eine lange Tradition und ist inzwischen selbst in Russland eine Selbstverstandlichkeit geworden. Beinahe alle beruhmten Schriftsteller und Dichter haben sich uber dieses Thema ausgelassen. Sie beschreiben die schrecklich bauerlichen Moskauer Manieren, seit es Literatur gibt. Historiker berichten, dass der unaufhaltsame Sittenverfall und die kontinuierlich steigende Alltagskriminalitat in dieser Gegend bereits im elften Jahrhundert ein gro?es Thema war, als es Moskau noch gar nicht richtig gab. Sogar Tschingis Khan, der etwas spater die halbe Welt eroberte, hatte von den Moskauer Sitten schnell die Nase voll und verzichtete gelegentlich sogar auf die Schutzgeldzahlungen, nur um nicht schon wieder dorthin reiten zu mussen.
Auch viele meiner Freunde und Bekannten mogen diese Stadt nicht. Meine Freunde Sergej und Andrej zum Beispiel, der eine ein geborener St. Petersburger, der andere ein Wei?russe, die heute wie ich in Berlin leben, regen sich jedes Mal furchterlich auf, wenn sie in Moskau sind. Fast uberall fuhlen sie sich beleidigt und verletzt und beschweren sich anschlie?end bei mir. Am Zeitungsstand in Moskau sagt die Verkauferin niemals »Hallo«. Sie kuckt so finster aus ihrem Hauschen, als ware der Kiosk ihr Panzer und sie eine Kanone, die gleich Feuer spuckt. Sie wird einen Kunden niemals fragen, was fur eine Zeitung er denn gerne hatte. Das ist ihr namlich schei?egal. Wenn sie einen schlechten Tag hat, kriegt der Kunde gar nichts. Wenn sie aber gut drauf ist, kann er alle Zeitungen umsonst bekommen, einfach so! Weil wir Moskauer eigentlich total freundlich und intelligent sein konnen. Und hoflich! Nur nicht jeden Tag. Und wir lachen nicht uber jeden Witz. Und man kann ein anstandiger Mensch sein, ohne jedem standig mit »Bitte« und »Danke« auf die Nerven zu gehen.
Weil wir Moskauer so sensibel sind, brauchen wir unsere schlechten Manieren, um uns zu schutzen. Denn was ist diese hei?begehrte Service-Mentalitat, wenn nicht eine Luge? Und was sind die Hoflichkeitsgesten in einer Gesellschaft wert, wo jeder eh nur um seinen Bauchnabel kreist. Dafur konnen die grimmigen Moskauer mitten im Winter in einen Fluss springen, um einen herrenlosen Hund an Land zu ziehen, ihn anschlie?end futtern und verwohnen, weil die Liebe die Welt errettet. Und ihn am nachsten Tag wieder in den Fluss werfen, weil das Ganze sowieso keinen Sinn hat.
Die allgemeine Unzufriedenheit liegt in der Natur meiner Landsleute. Deswegen gibt es so gut wie nie gutes Wetter in Moskau. Es ist immer entweder zu hei? oder zu kalt, zu trocken oder zu regnerisch.Wenn die Moskauer uber ihre Arbeit reden, ist es in der Regel eine Schei?arbeit, die au?erdem schlecht oder gar nicht bezahlt wird. Die Moskauer gehen ungern aus, sie haben keinen Bock auf Theater und interessieren sich nicht fur Ballett. Ich kenne auch keinen einzigen Moskauer, der schon einmal im Mausoleum war. All diese Menschen, die in den Kinos und Theatern sitzen oder in der Schlange vor dem Lenin-Mausoleum stehen, sind Zugezogene, St. Petersburger oder Auslander. Eigentlich zahlen alle als Auslander, die nicht seit dem elften Jahrhundert in Moskau leben. Sie werden von den echten Moskauern verachtet. »Wo kommt ihr nur alle her? Geht weg da!«, schrie immer eine alte Oma aus unserem Haus, die extra tagelang an einer Bushaltestelle verbrachte, um die Menschen in den uberfullten Busen zur schnelleren Weiterfahrt zu motivieren. Sonst aber ist Moskau eine kosmopolitische Stadt. Nur mit der Heimatliebe sieht es nicht gut aus. Die Regierung war ganz schon erstaunt, als uber siebzig Prozent der Bevolkerung auf die Frage »Was wurden Sie tun, wenn die Hauptstadt Russlands nach Nowgorod verlegt wurde?«, antworteten: »Auch nach Nowgorod ziehen.«
Egal ob gehasst oder geliebt: Moskau ist fur alle ein Erlebnis - auch ohne Servicebewusstsein. Und die Korrespondenten und Journalisten aus aller Welt, die in Moskau arbeiten, sollten sich auf die seltsamen Sitten schon im Vorfeld einstellen. Das ist gar nicht schwierig, denn die Moskauer machen aus ihren Macken kein Geheimnis. Sogar in dem weltberuhmten Lied von 1957 »Moskauer Nachte« wird ausfuhrlich beschrieben, worauf man gefasst sein muss. Leider habe ich im Internet keine deutsche Textfassung gefunden, aber auch in der computerubersetzten Version werden die Sitten meiner Heimatstadt sichtbar:
Klartext: Normalerweise verbringt man in Moskau die Nacht zu Hause, weil es drau?en dunkel und nicht ungefahrlich ist. Wenn einer trotzdem Lust hat, in einem gro?en Garten - zum Beispiel im Gorki-Park - nachts spazieren zu gehen, wird er dort wenig zu sehen und zu horen bekommen. Sollte er aber in den Buschen doch irgendetwas horen, dann ware es angebracht, ganz schnell aus dem Garten zu verschwinden. Weiter hei?t es im Lied:
Klartext: Sollten Sie doch in eine Auseinandersetzung mit Unbekannten geraten, rufen Sie nicht um Hilfe. Es kann dadurch nur noch schlimmer werden.
Klartext: In einer solchen Situation ist eines wichtig: Keine bloden Bemerkungen uber das Au?ere und das