»Zahlen Sie lieber Ihre Rechnung!«, erwiderte Thomas, »und wir gehen als Freunde auseinander.«

»Freundschaft hat mit Geld nichts zu tun«, konterte die Frau. »Wenn wir uns dem Kapital unterordnen und nur uber Rechnungen miteinander kommunizieren, dann werden wir bald den Rest unserer Menschlichkeit verlieren und zu Tieren herabsinken«, erklarte sie und starrte an die Decke.

»Das stimmt«, bestatigte einer der Rentner aus der Ecke und bot der Dame noch eine Zigarette an. »Ich hei?e ubrigens Johannes«, sagte er.

»Aber Sie haben doch meine Wurste gegessen«, widersprach Thomas, »einfach so! Ist das etwa menschlich?«

»Ich habe mich dafur bedankt«, konterte die Frau.

Noch eine halbe Stunde verging, die Polizei war immer noch nicht da. Sergej und ich warteten fasziniert, wie diese kleine Revolution ausgehen wurde.

»Mochten Sie vielleicht einen Rotwein?«, fragte Thomas die Dame.

»Nein, lieber ein Mineralwasser, aber ohne Kohlensaure«, sagte sie.

Da ging die Tur auf, und ein Polizistenparchen kam herein. Der weibliche Polizist bezog Stellung an der Tur, der mannliche Polizist ging auf Thomas zu.

»Probleme?«, fragte er.

Thomas sa? zusammen mit der Dame und dem Rentner Johannes am Tisch und trank einen Schnaps nach dem anderen.

»Entschuldigung, es war ein Fehlalarm«, sagte er zu dem Polizisten.

»Wissen Sie was so ein Einsatz kostet?«, regte sich der Polizist auf. »Und wer zahlt das?«

»Ich werde nichts bezahlen«, brachte sich die Dame wieder ins Gesprach. »Aus Prinzip.«

Der Polizist schimpfte noch ein bisschen, dann verlie? er mit seiner Kollegin das Lokal. Die Dame wollte auch gehen.

»Kommen Sie wieder«, sagte Thomas zu ihr.

»Ach, ich wei? nicht so recht, vielleicht im nachsten Jahr«, kokettierte die Dame.

»Hier ist was los«, freute sich mein Nachbar.

Was mir mein Nachbar uber wei?russisches Bibergeil erzahlte

Jedes Land hat einen Vogel oder ein anderes Tier, auf das es besonders stolz ist. Es kann unter Umstanden auch ein Fisch oder ein Insekt sein, wichtig ist allein, es muss uber irgendeine wertvolle Substanz verfugen, eine, die au?ergewohnliche Qualitaten besitzt und dadurch die Einmaligkeit und Besonderheit des Landes und seiner Einwohner hervorhebt. Diese besondere Substanz muss Krankheiten heilen konnen, Menschen von Schmerz und dummen Gedanken befreien oder einfach nur sehr gut schmecken. Auf jeden Fall muss diese Substanz potenzsteigernd wirken, um die notwendige Beachtung der Welt zu gewinnen. Der Markt der besonderen Substanzen hat sich in Laufe der Jahrhunderte kaum verandert, er ist ubersichtlich geblieben: Tigerzahn, Affenfotus, Lowenmahne, Adlerschwinge, Eisbein, Barengalle, Foie gras. Auch Kolibrizungen, die Blase des kaspischen Stors und den Herbstschiss der georgischen Biene kannte und nutzte man bereits zur Zeit der Antike. Schon die Griechen und Romer haben sie geschatzt.

Naturlich waren all diese Substanzen schon immer sehr teuer und unglaublich schwierig zu beschaffen. Eine Menge Jager und Sammler mussten fur sie mit ihrem Leben bezahlen. Aber sie hatten keine andere Wahl. Die Historie zeigt, dass ohne eine eigene besondere Substanz kein Land, kein Volk, keine Nation auf Dauer bestehen kann. Warum aber die gro?en Kulturen der Vergangenheit, das griechische und romische Reich, trotz der vielen Substanzen, die sie besa?en, untergingen, das wei? man erst heute. Ihnen fehlte Bibergeil. Und obwohl Kanada immer wieder mit seinen Bibern angibt, muss hier gesagt werden, dass es richtig geiles Bibergeil nur in Wei?russland gibt. Es wird dort Biberstrahl oder auch »Gold der Sumpfe« genannt.

Der Biber ist der gro?te Stolz der Wei?russen. Das, was den Franzosen Napoleon, den Amerikanern Washington und den Deutschen, ah, Kohl ist, ist den Wei?russen der Biber. Gleich hinter dem Biber kommt auf der Popularitatsskala der wei?russische Diktator-Prasident Alexander Lukaschenko. Eigentlich hei?t der wei?russische Biber »europaischer Biber«, doch weil die Wei?russen nicht in die EU aufgenommen wurden, haben sie ihren Biber umgetauft. Er gilt als Symbol fur den Arbeitsflei?, die Intelligenz und Bescheidenheit der Wei?russen. Er lebt in speziell fur ihn eingerichteten Reservaten unter der Schirmherrschaft von Alexander Lukaschenko. Niemand kann dem wei?russischen Biber etwas anhaben. Der Biber hat in Wei?russland ein geiles Leben, je besser es ihm geht, desto mehr Bibergeil kann er produzieren.

Das Bibergeil ist eine stark riechende Flussigkeit, die die Biber in ihren Hoden haben. Jeder Biber hat Hoden, egal ob Mannchen oder Weibchen. Besonders viel Bibergeil wird in der Paarungszeit produziert, wenn die Biber Biberburgen bauen und Familien grunden. Zu dieser Zeit schneiden die Sicherheitskrafte des Prasidenten den Bibern die Hoden ab und sammeln das Bibergeil in speziellen Behaltern aus Leder. Davon wird die Halfte vom Prasidenten personlich, die andere Halfte von seinen engsten Mitarbeitern und Familienangehorigen verbraucht. Sie werden nie krank und sehen geil aus. Wenn noch etwas Bibergeil ubrig bleibt, wird der Rest nach Westeuropa oder nach Saudi-Arabien fur viel Geld verkauft. Nach Amerika will der wei?russische Prasident nichts verkaufen, er mag die Amerikaner nicht.

Die Ernte geht nicht immer glatt. Manchmal streiken die Biber und bringen den Prasidenten in Bedrangnis. Es ist eben viel einfacher, Menschen zu verwalten als Biber, denn die Biber tun, was sie wollen, und horen nie zu.

Letztes Jahr fuhr Lukaschenko mit einer Journalisten-Eskorte in den Sumpf, um die Biberburgen personlich zu besichtigen. Die Reise sollte sein Image als Vater der Nation aufpolieren, ein Vater, der sich um alles, sogar um kleine Tierchen, kummert. Es wurden auch auslandische Gaste eingeladen und der Sicherheitsdienst des Prasidenten hatte eine Route durch die Sumpfe des Naturparks vorgegeben, die maximale Sicherheit garantierte. Nur die Biber machten nicht mit. Sie hatten ausgerechnet an dem von den Sicherheitsorganen vorgesehenen Ort keine Biberburgen gebaut. Und nun war es zu spat, um die Route zu andern. Also mussten zwei Kolchosen aus der Region herangezogen werden, um in dem Sumpf auf die Schnelle Biberburgen zu bauen. Die Menschen gaben sich Muhe, doch am Morgen, kurz bevor der Prasident ankam, schwammen die richtigen Biber an den falschen Burgen vorbei, inspizierten sie, befanden die Burgen fur schlecht - sie rochen nach Menschenschwei? und Kolchose, nicht nach Bibergeil - und zermalmten sie an Ort und Stelle zu Kleinholz. Bei der Ankunft des Prasidenten schwammen nur noch Holzspane auf dem Wasser.

Die Biber hatten den Prasidenten vor den Journalisten und auslandischen Gasten total blamiert. Lukaschenko lie? sich nichts anmerken, tobte aber hinter den Kulissen furchterlich, wie einige Familienangehorige anschlie?end berichteten. Es wurden Schuldige gesucht und auch gefunden, sie wurden der Spionage und Sabotage bezichtigt und mit der hochstmoglichen Strafe gema? der wei?russischen Gesetzgebung bestraft. Unter den Beschuldigten war verstandlicherweise kein einziger Biber, denn die haben zusammen mit dem Prasidenten in Wei?russland einen Sonderstatus und konnen tun und lassen was sie wollen.

Moskauer Sitten

Ich bin ein Moskauer, aber die meisten Freunde von mir kommen aus St. Petersburg oder Wei?russland. Auch mein Lieblingsschriftsteller, mein Lieblingsmaler, meine Frau und neuerdings auch meine Nachbarn kommen von dort. Diese Tatsache macht mich als Moskauer zu einem Au?enseiter. Als eingefleischter Moskowiter darf ich eigentlich den Petersburgern nicht einmal die Hand schutteln. Kaum jemand kann noch genau erklaren, warum die

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