Umzugswagen vor dem Haus gesehen noch Kartonstapel unten im Flur. Ich hatte diesen Musiker noch nie getroffen, ich wusste nicht einmal, in welche Wohnung er eingezogen war. Das Einzige, was ich uber ihn wusste: Der Mann spielte um 8.00 Uhr fruh Trompete auf dem Balkon. Das war eigentlich zu erwarten gewesen! Aus unerfindlichen Grunden ziehen hauptsachlich Durchgeknallte in unser Haus, keine vernunftigen Burohengste, keine Angestellten des offentlichen Dienstes, sondern sonderbare Kunstler und Sportler. Uber uns wohnt eine Opernsangerin, in der Wohnung gegenuber ein Dartspiel-Weltmeister, im Erdgescho? mein Hobbytrommler und Technofreak. Der Trompeter war unvermeidlich.

Am Nachmittag machte ich meinen neuen Nachbarn im Treppenhaus ausfindig: ein Jungstudent mit Lederjacke, Rucksack und schwarzem langem Haar. Ich sprach ihn auf das Trompetespielen an, ob er immer nur von 7.00 bis 8.00 Uhr spielen konne. Er sagte »Sdrawstwujte« zu mir. Tatsachlich ein Landsmann! Wir redeten eine halbe Stunde miteinander. Unglaublich aber wahr, es waren gleich zwei Russen in das Haus gezogen. Ab sofort wohnte ich mit einer Russen-WG unter dem selben Dach! Beide um die drei?ig Jahre alt. Der eine, Andrej, war erst vor kurzem nach Deutschland gekommen, er stammte aus Leningrad, heute St. Petersburg. Der andere, Sergej, war schon langer hier. Er kam aus Wei?russland, hatte in Vechta studiert, nahe Bremen gewohnt, in Koln gearbeitet und war dann nach Berlin umgezogen, weil er das Rheinland zu klein und langweilig fand. Ich verabredete mich mit Andrej noch auf der Treppe fur den Abend zum Schachspielen. Gott segne unser Haus, dachte ich unterwegs in der Stadt, endlich lustige Nachbarn!

Die Russen-WG

In den nachsten Tagen und Wochen lernte ich meine neuen Nachbarn besser kennen. Fast jeden Tag hing einer von ihnen bei mir in der Kuche, oft ging ich zu den Jungs nach oben. Wir wurden Freunde. Die anderen Bewohner unseres Hauses empfingen die Russen-WG nicht mit Blumen. Vor allem die Rentnerin aus dem vierten Stock und unser Hausmeister zeigten Misstrauen. Bei dieser Bevolkerungsgruppe ist die Fremdenangst am starksten entwickelt. Grundsatzlich konnen sie sich mit gro?en Hunden und frischen Auslandern schwer abfinden. Als ich vor einigen Jahren in dieses Haus einzog, hielt mich der Hausmeister auf dem Hof an und erzahlte etwas unvermittelt, auch er habe einmal acht Jahre in Neukolln in »vollig turkischer Umgebung« gewohnt und hatte »mit denen nie ein Problem« gehabt. Was meint er?, grubelte ich. Es war wahrscheinlich als eine Art Warnung gedacht. Danach wollte er wissen, was ich von der »Visa-Affare« halte. »Die Politiker sollten nicht nur reden, sondern sofort alle Konsulate in Osteuropa schlie?en und das Land am besten von allen Seiten einmauern«, sagte ich, um den Hausmeister zu provozieren. Er blickte misstrauisch, stimmte mir aber, wenn auch nachdenklich, zu.

Die Visa-Affare im Jahr 2005 war ein Hammer. Die Angst ging um in Deutschland, einem armen Land, das permanent gefahrdet ist und ausgebeutet wird - von Sozialhilfeempfangern, Arbeitslosen, Islamisten, Hasspredigern, Schwarzarbeitern und obendrein auch noch von Millionen ukrainischen Kriminellen und Prostituierten, die mit einwandfreiem Visum nach Deutschland kamen, um hier ihre Untaten zu begehen. »Jahrelang wurden bis zu 2000 Visa pro Tag in Kiew vergeben«, berichteten die Zeitungen. »Wenn das wahr ware, hatten die Eindringlinge das Land schon langst flachendeckend ausgeraubt«, dachte ich. Doch die meisten glaubten der Berichterstattung.

Deutschland tat sich schon immer schwer mit Auslandern. Auch wenn der Bundestag einstimmig die Bundesrepublik per Gesetz zu einem Einwanderungsland erklart, wird sich an den Tatsachen, die das Gegenteil beweisen, nichts andern. Die Ursachen fur die Fremdenabwehr bleiben im Dunkeln. Wahrscheinlich hat Deutschland mit seinen Auslandern und seinem Volk einfach Pech, sie wollen und wollen nicht zusammenkommen. Die deutschen Auslander sind meistens sehr zickig. Sie wollen sich nicht in die deutsche Kultur einweihen lassen, viel lieber bleiben sie unter sich und bilden zu diesem Zweck Cliquen und Ghettos. Sie sitzen den ganzen Tag in ihren Kneipen herum, kucken ihren Fu?ball und trinken ihr Bier. Sie sprechen auf den Stra?en und in den Geschaften laut ihre Fremdsprachen, ohne auf die Einheimischen Rucksicht zu nehmen. Es wirkt demutigend. Diese standige Fremdsprecherei lasst die Einheimischen argwohnen, dass die Auslander vielleicht Boses uber sie reden oder, noch schlimmer, ihnen etwas verheimlichen konnten. Daraufhin werden die Einheimischen sauer und meiden ihrerseits die Auslander. Die Einheimischen bilden eigene Cliquen und Ghettos, wo sie unter sich bleiben, ihren Fu?ball kucken und ihr Bier trinken. Nur wenige Einzelganger konnen uber diese Mauer des Misstrauens auf die andere Seite klettern. Ich nenne sie die Helden der Integration.

Zu diesen Menschen gehort zum Beispiel mein neuer Nachbar Andrej aus der Russen-WG im vierten Stock. Er wird nicht mude, sich fur alles Deutsche zu interessieren, vor allem fur deutsche Frauen und die deutsche Sprache. Er hat sich vorgenommen, das Deutsch-Russische Worterbuch auswendig zu lernen und ist schon beim Buchstaben »J« angekommen. Das alles ist ihm aber noch nicht genug. »Wir mussen die Sorgen der Einheimischen verstehen konnen, ihr Leben von innen studieren«, behauptet er. Zu diesem Zweck kuckt er sich seit Monaten alle Staffeln von »Big Brother« an. Seine erste Erkenntnis war, dass die Deutschen selbst ihre Sprache in viel kleinerem Umfang benutzen, als es in dem tausend Seiten dicken Deutsch- Russischen Worterbuch eigentlich vorgesehen ist. Die Container-Insassen kamen mit gerade mal funf Satzen prima klar.

Fur Andrej war das ein Zeichen: Er musste sich nicht weiter mit dem dicken Worterbuch qualen. Auch die moderne deutsche Singkultur reizte ihn sehr, weil sie so lebensfroh klingt und keine besonders ausgepragten Sprachkenntnisse erfordert. Er kaufte sich auf dem Flohmarkt eine Platte mit dem deutschen Superhit »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer«, legte sie in einer Endlosschleife auf, spielte dazu Trompete und terrorisierte damit einen Monat lang das ganze Haus. Die Nachbarn von unten klopften immer wieder mit einem Besen gegen die Decke. Andrej dachte, sie freuen sich, wenn sie ihre Folklore horen. Die Nachbarn beschwerten sich jedoch beim Hausmeister, der bei uns im Haus unter anderem fur den Frieden und die Volkerverstandigung zustandig ist. Der Hausmeister klingelte daraufhin bei der Russen-WG.

»Ich habe Signale bekommen, dass Sie mit Ihrem Freund nachts laut afrikanische Tanzmusik horen, dazu schreien und im Wohnzimmer herumspringen. Horen Sie auf damit«, sagte der Hausmeister. »Bei uns in Deutschland wird nach 22.00 Uhr nicht mehr getanzt. Hier leben Menschen, die fruh aufstehen mussen. Und bringen Sie endlich Ihren Balkon in einen ordentlichen Zustand, im Interesse des Gesamtanblickes der Hausfassade. Wir wollen doch alle Frieden, oder?«

Andrej war erstaunt, dass seine Nachbarn ihre eigene Folklore nicht mochten, fugte sich jedoch. Doch sein Drang zu standiger Kommunikation mit den Vertretern des Gastlandes war damit auf keinen Fall erloschen. Anders als sein schweigsamer, nachdenklicher Mitbewohner ist Andrej ein Kommunikationstier. Uber solche Menschen wird behauptet, dass sie zu sprechen beginnen, noch bevor sie geboren werden. Danach horen sie nicht mehr auf. Auch seine Gastfreundschaft kennt keine Grenzen. Die Russen-WG gleicht einer Falle: Man kommt sehr leicht hinein, aber kaum wieder heraus. Mir ist es ebenfalls noch nicht gelungen, weniger als drei Stunden bei meinen Nachbarn zu verbringen.

»Wladimir«, sagte Andrej neulich zu mir, als wir uns wieder einmal auf der Treppe begegneten, »ich habe in der Zeitung deine Geschichten gelesen. Du musst unbedingt uber meine Oma schreiben, sie macht vollig irre Sachen. Komm bitte kurz mit nach oben, das muss ich dir erzahlen.«

Erst nach drei Stunden gelang es mir, seine Wohnung wieder zu verlassen. Zwischendurch musste ich meine Frau anrufen, die sich schon Sorgen gemacht hatte, weil ich ja eigentlich nur zum Briefkasten gehen wollte, um die Post abzuholen. In den drei Stunden habe ich alles uber Andrejs Oma erfahren sowie uber seine anderen zahlreichen Verwandten, die alle Ende der Neunzigerjahre ihre Heimatstadt St. Petersburg verlassen und sich uber die ganze Welt verstreut hatten. Andrej erzahlte mir tatsachlich interessante Geschichten; die Menschen in seiner Familie schienen alle sehr abenteuerlustig zu sein. Seltsamerweise hatte ich jedoch keine Lust, uber seine Oma oder die anderen Familienmitglieder zu schreiben. Ich wollte blo? nach Hause und die Zeitung lesen. Das ging aber nicht. Andrej erzahlte und erzahlte, ich horte hoflich zu. Nach einer Weile begriff ich, dass er von alleine nie aufhoren wurde. Aus Hoflichkeit verbrachte ich noch eine weitere halbe Stunde in der Kuche, dann nutzte ich eine Pinkelpause von ihm, um mich schnell zu verabschieden.

Ich wei?, dass Andrej selten Besuch bekommt. Seine Landsleute kennen ihn und haben einfach keine Lust

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