Sergej Lukianenko

Das Schlangenschwert

Prolog

Es war der Tag, an dem sich meine Eltern fur den Tod entschieden. Das Sterberecht wird ihnen durch unsere Verfassung garantiert.

Ich war ahnungslos.

Es ist sicher kaum zu glauben, aber mir kam bis zum Schluss nicht in den Sinn, dass meine Eltern aufgeben konnten. Mein Vater hatte vor uber einem Jahr seine Arbeit verloren, sein Anspruch auf Unterstutzung endete, aber meine Mutter arbeitete noch in den Dritten Staatlichen Minen. Ich wusste nicht, dass die Dritten Staatlichen schon seit langem am Rande des Bankrotts dahinvegetierten. Der Lohn wurde in Naturalien ausgezahlt: in Form von Reis, den ich verabscheute, und durch Begleichung der Miete, worum ich mich noch nie gekummert hatte. Aber so lebten viele. Es gab in der Schule nur wenige Kinder, bei denen beide Eltern Arbeit hatten.

Ich kam vom Unterricht zuruck. Warf die Mappe aufs Bett und schaute vorsichtig ins Wohnzimmer, aus dem leise Musik zu horen war.

Zuerst dachte ich: Vater hat endlich Arbeit gefunden!

Mutter und Vater sa?en am Tisch, der mit einer wei?en Tischdecke gedeckt war. In der Mitte brannten Kerzen in einem antiken Kerzenstander aus Kristall, der nur an Geburtstagen und zu Weihnachten benutzt wurde. Auf den Tellern waren Essensreste — echte Kartoffeln, echtes Fleisch. Vater hatte seinen noch halb vollen Teller von sich geschoben. Es kam selten vor, dass er etwas ubrig lie?. Auf dem Tisch standen eine halb volle Wodkaflasche mit echtem Wodka und eine fast leere Weinflasche.

»Tikki«, rief mich Vater, »komm schnell essen!«

Ich hei?e Tikkirej. Das ist ein sehr wohlklingender Name, aber verteufelt lang und unbequem. Mama ruft mich manchmal Tik, Vater Tikki. Meiner Meinung nach ware es fur sie einfacher gewesen, vor dreizehn Jahren einen anderen Namen auszusuchen. Obwohl — mit einem anderen Namen ware ich auch ein anderer Junge.

Ich setzte mich, ohne zu fragen. Vater mag kein Nachfragen. Ihm gefallt es, wenn er von sich aus die Neuigkeiten erzahlen kann. Sogar dann, wenn es nur um so eine Kleinigkeit wie ein neues Hemd fur mich geht. Mama versorgte mich schweigend mit einem Berg Kartoffeln und Fleisch und stellte die Flasche mit meinem Lieblingsketschup neben den Teller. Also leerte ich in voller Zufriedenheit meinen Teller, bis Papa meine Ahnungslosigkeit beendete.

Eine Arbeit hatte er nicht gefunden.

Fur Leute ohne Neuroshunt gibt es jetzt uberhaupt keine Arbeit mehr.

Sie mussten sich einen Shunt einsetzen lassen, aber bei Erwachsenen ist das eine sehr gefahrliche und teure Operation. Und Mutter bekommt kein Geld ausbezahlt, also konnen sie nicht einmal mehr die Lebenserhaltungssysteme bezahlen. Dabei ist es vollig klar, dass man auf unserem Planeten nur unter den Kuppeln leben kann.

Also wird uns die Wohnung gekundigt und wir werden in die Au?enansiedlung gezwungen. Ohne den Schutz der Kuppeln konnen normale Menschen ein oder zwei Jahre uberleben — wenn sie gro?es Gluck haben.

Deshalb haben die beiden ihr Verfassungsrecht in Anspruch genommen…

Ich sa? da und war regelrecht versteinert, ich konnte nicht sprechen, sah die Eltern an und ruhrte mit der Gabel in den Kartoffelresten herum, die ich gerade mit Ketschup vermengt und in einen roten Brei verwandelt hatte. Ich nehme eben gern zu allem Ketschup, obwohl ich deshalb ausgeschimpft werde…

Jetzt schimpfte niemand mit mir.

Ich hatte sicherlich sagen mussen, dass wir lieber alle zusammen ins Au?enleben gehen sollten. Wir wurden peinlich genau die Desinfektion durchfuhren, wenn wir aus der Erzgrube zuruckkehrten, und so noch lange, lange leben und genug Geld verdienen, um wieder ein Lebensrecht unter der Kuppel zu erwerben. Aber ich konnte es einfach nicht aussprechen. Ich erinnerte mich an die Exkursion zum Bergwerk, die wir einmal gemacht hatten. Erinnerte mich an die Menschen mit grauer Haut voller Geschwure, die in den alten Bulldozern und Baggern sa?en. Erinnerte mich daran, wie ein Bagger wendete und aus der Grube heraus unserem Schulbus entgegenfuhr und dabei mit der Baggerschaufel gru?te. Und aus dem Fuhrerhaus heraus lachelte ein Baggerfuhrer mit einem »Krokodilmaul«, das sich bei allen Verstrahlten ausbildet. Er wollte uns naturlich einfach nur erschrecken, aber die Madchen schrien und auch die Jungen bekamen eine Gansehaut.

Und ich sagte nichts. Uberhaupt nichts. Mama fing entweder an zu lachen und mich auf die Stirn zu kussen oder erklarte sehr ernst, dass jetzt mein Nutzungsrecht fur die Lebenserhaltungssysteme um sieben Jahre verlangert wurde und ich es schaffen wurde, gro? zu werden und einen Beruf zu erlernen. Mein Neuroshunt ware sehr gut, sie hatten damals viel Geld verdient und es sich etwas kosten lassen, also wurde es keine Probleme mit der Arbeit geben. Hauptsache, ich wurde nicht in schlechte Gesellschaft geraten, keine Drogen nehmen, immer hoflich zu Lehrern und Nachbarn sein, rechtzeitig die Kleidung waschen und sauber halten sowie die staatlichen Lebensmittelkarten beantragen.

Sie begann erst dann zu weinen, als Papa, so als ob er meine Verzweiflung spuren konnte, sagte, dass sich die Entscheidung nicht ruckgangig machen lie?e. Nachdem die Eltern ihren Tod beantragt hatten, wurde ihnen ein spezielles Praparat verabreicht, worauf sie auch ihre »Abschiedspramie« erhielten. Das hei?t, sogar wenn es sich die Eltern anders uberlegen sollten, mussten sie sterben. Aber dann wurde man mir nicht das Nutzungsrecht fur die Lebenserhaltungssysteme verlangern.

Ich hatte keinen Appetit mehr. Kein bisschen. Obwohl es noch Eis, Torte und Konfekt gab. Mama flusterte mir ins Ohr, dass sie von der »Abschiedspramie« meine Geburtstagsfeier fur sieben Jahre im Voraus bezahlt hatten. Ein spezieller Mitarbeiter des Sozialdienstes wurde herausfinden, was ich fur ein Geschenk mochte, es kaufen, mir zum Geburtstag bringen und das Geburtstagsessen zubereiten.

Auch wenn unser Planet arm und unwirtlich ist, sind die Sozialdienste nicht schlechter organisiert als auf der Erde oder dem Avalon.

Das Eis a? ich dann trotzdem. Mama schaute so bittend und mitleiderregend, dass ich die kalten, su?en, nach Erdbeeren und Apfeln duftenden Stucke herunterschluckte, obwohl ich fast daran erstickte.

Im »Haus des Abschieds« wurden die Eltern am fruhen Morgen erwartet. Wenn sie es bis Mittag herauszogern wurden, mussten sie auch so sterben, dann allerdings qualvoll.

Ich lag bis drei Uhr nachts wach und schaute auf meine Uhr in Form eines Roboters. Er blinkte mit strengen Augen, schwenkte die Arme, schritt auf der Stelle und lie? manchmal die feine Spitze seines »Laserschwerts« durch das Zimmer wandern. Mama beklagte sich immer, dass es unmoglich sei, mit »diesem Unfug« im Zimmer zu schlafen, verlangte aber niemals, den Roboter abzuschalten. Sie erinnerte sich immer daran, wie ich mich gefreut hatte, als sie mir diese Uhr zum achten Geburtstag schenkten.

Erst da bemerkte ich, dass ich an die Eltern im Prateritum dachte, als ob sie schon gestorben waren. Ich sprang auf, riss die Tur auf und rannte zu ihnen ins Schlafzimmer. Ich bin nicht mehr klein. Ich verstehe alles. Und was Erwachsene, auch die Eltern, nachts machen, wei? ich genau.

Aber ich konnte nicht mehr allein sein.

Ich warf mich ins Bett zwischen Mama und Papa. Bohrte mein Gesicht in Mamas Schulter und fing an zu weinen.

Sie sagten nichts. Weder Mama noch Papa. Sie umarmten und streichelten mich. Da spurte ich, dass sie lebten. Aber nur noch bis zum Morgen. Ich beschloss, dass ich heute nicht schlafen wurde, schlief aber trotzdem ein. Am Morgen machte Mama meine Schulsachen fertig. Sie bestand darauf, dass ich unbedingt zum Unterricht gehen solle. Sie brauchten keine Begleitung. Ein langer Abschied wurde nur uberflussige Tranen bedeuten.

Erst als sie weggingen, sagte Papa: »Tikki…«

Er sprach nicht weiter. Es blieb ihm zu wenig Zeit fur all das, was er mir zu sagen hatte. Ich wartete.

»Tikki, du wirst verstehen, dass das richtig war.«

»Nein, Papa«, erwiderte ich.

Ich hatte »ja« sagen mussen, aber ich konnte nicht.

Vater lachelte, aber irgendwie sehr traurig, nahm Mamas Hand und sie verlie?en mich.

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