Verteidiger, sich wegen seines Gemutszustands zu sorgen. Er setzte sein Vertrauen in Gott und schien sich uberhaupt nicht bewusst, dass alle Beweise gegen ihn sprachen. Sir Bernard Spilsbury, Englands angesehenster Pathologe, hatte die Obduktion durchgefuhrt. Und Spilsbury hatte mit aller Entschiedenheit auf Mord befunden.

Der leitende medizinische Gutachter der Verteidigung war Dr. Robert Brontё. Er hatte eine zweite Obduktion vorgenommen und war bereit, auszusagen, dass er an Elsie Camerons Hals von der Leine hinterlassene Male festgestellt hatte. Er wollte ferner vorbringen, dass „Tod durch Schock” nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes fuhren durfe. Es gebe keinerlei Beweise dafur, dass Elsies Tod beabsichtigt gewesen sei. Noch dass ein Kollaps vorhersehbar gewesen sei.

Aber Dr. Brontё genoss nicht das Ansehen von Spilsbury; es war unwahrscheinlich, dass die Geschworenen ihm eher folgen wurden als Spilsbury, der bei jedem beruhmten Mordprozess seit 1910 als Gutachter der Krone aufgetreten war. Sein Wort allein konnte bei den Geschworenen den Ausschlag geben.

Der Verteidiger und seine Mitarbeiter waren uberzeugt, einzig sein Vater konne Norman begreiflich machen, wie ernst seine Lage war. Zu diesem Zweck erhielt Mr. Thorne die Erlaubnis, am Tag vor Prozessbeginn im staatlichen Gefangnis in Lewes mit seinem Sohn zu sprechen. Er wurde in einen Raum im Erdgeschoss gefuhrt, wo sich der Trakt fur die Untersuchungshaftlinge befand.

»Geht's einigerma?en?«, fragte er, als Norman hereingebracht wurde.

Sie tauschten einen Handedruck. »Ja, es geht so. Es tut gut, dich zu sehen, Dad.«

Er sah so jung aus, dachte Mr. Thorne. Immer noch ein kleiner Junge. »Setz dich, mein Sohn. Dein Anwalt, Mr. Cassels, meinte, ich soll mit dir uber den Prozess sprechen. Wir beten alle darum, dass ein „Nicht Schuldig” herauskommt, aber -« Er brach ab. Wie sollte er seinem einzigen Sohn beibringen, dass er vielleicht an den Galgen kommen wurde?

Norman neigte sich uber den Tisch und streichelte sachte die Hand seines Vaters. »Aber es kann passieren, dass die Geschworenen diesem Spilsbury glauben?«

Mr. Thorne nickte.

»Mr. Cassels hat gesagt, sie mussen beweisen, dass ich Elsie toten wollte. Wie wollen sie das machen, wenn sie am Schock gestorben ist? Man kann einen anderen nicht zu Tode erschrecken.«

»Spilsbury wird behaupten, die Blutergusse in ihrem Gesicht waren der Beweis, dass du sie geschlagen hast — und dass dabei auch ihre Uhr und ihre Brille beschadigt worden sind. Wenn es ihr sehr schlecht ging, als du sie allein gelassen hast, weil du Bessie abholen wolltest, werden die Geschworenen vielleicht glauben, du wolltest sie sterben lassen.«

»Und was ist mit den Abdrucken von der Leine, die Dr. Brontё gefunden hat?«

Mr. Thorne seufzte. »Das ist nur sein Befund, Norman. Spilsbury wird sagen, es seien keine Abdrucke vorhanden gewesen.«

»Aber es waren welche da, Dad. Ich habe sie selbst gesehen. Als ich den Strick um Elsies Hals durchgeschnitten habe. Ich verstehe einfach nicht, wieso sie nicht erkennen, dass sie durch Erhangen gestorben ist. Sieht man das nicht in der Lunge, wenn jemand nicht mehr atmen kann?«

»Sie hatte vielleicht nie die Absicht, sich umzubringen. Wie ich Dr. Brontё verstanden habe, kann es schon einen Schock auslosen, wenn man sich nur eine Schlinge um den Hals legt und zuzieht.«

»Ja, das hat Mr. Cassels auch gesagt. Aber ich verstehe nicht, wieso.«

»Das ist der sogenannte Vagusreflex. Manche Menschen reagieren schon auf den leisesten Druck am Hals au?erst empfindlich. Es gab da eine Frau, die innerhalb von drei Sekunden starb, als ihr Geliebter ihren Hals streichelte.«

»Aber Elsie hing von dem Balken herunter, als ich sie fand, Dad. Sie wollte sich umbringen.«

»Vielleicht doch nicht. Vielleicht war es nur Theater, bei dem etwas schiefgegangen ist.«

Norman schuttelte den Kopf. »Ich verstehe es immer noch nicht.«

»Dr. Brontё meint, sie wollte dir einen Schrecken einjagen. Wenn sie die Schlinge schon fur den Moment deiner Heimkehr bereithielt, dann auf den Stuhl stieg, als sie horte, dass das Tor geoffnet wurde…« Mr. Thorne seufzte wieder. »Wenn der Tod infolge eines Vagusreflexes eingetreten ist, dann ist sie nach vorn gefallen. Deshalb hast du sie hangend gefunden.«

Norman starrte ihn an. »Willst du sagen, es war ein Unglucksfall?«

Sein Vater nickte. »Es konnte einer gewesen sein. Das ware dann auch der Grund, warum am Balken keine Spuren gefunden wurden. Sie hing da nicht lange genug. Jedenfalls nicht, wenn du sie sofort heruntergeholt hast.«

»Habe ich«, sagte Norman plotzlich erregt. »Glaubst du, die Geschworenen glauben mir? Und Dr. Brontё?«

»Vielleicht — wenn wir beweisen konnen, dass sie Selbstmorddrohungen gebraucht hat, um ihren Kopf durchzusetzen. Wir konnen ganz sicher nachweisen, dass sie gern Theater gespielt hat. Sie hat aller Welt erzahlt, sie ware schwanger. Sie hat sogar ein Babykleidchen gekauft, um die Tauschung aufrechtzuerhalten.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass sie lugt, Dad. Ihre Eltern hatten sie in eine Klinik bringen sollen. Sie war nicht richtig im Kopf. Sie brauchte Hilfe.«

»Zwei ihrer Arbeitskollegen werden das vor Gericht bestatigen, aber ob man ihnen glauben wird…« Mr. Thorne schwieg einen Moment. »Du hattest zur Polizei gehen sollen, als du sie gefunden hast, Norman. Warum hast du das nicht getan?«

Der Blick seines Sohnes bekam etwas Hoffnungsloses. »Weil sie mir nicht geglaubt hatten. Sie glauben mir ja auch jetzt nicht.«

»Aber damals hatten sie es vielleicht getan. Die Leute halten dich vor allem deshalb fur einen Morder, weil du sie zerstuckelt hast. Elsie hatte etwas Besseres verdient gehabt, Norman.«

Der Junge schauderte.

»Warum hast du das uberhaupt getan?«

Norman hatte Tranen in den Augen. »Irgendwie kam es mir gar nicht so schlimm vor. Sie war auch nur etwas Totes. Wahrscheinlich schaltet man seine Gefuhle ab, wenn man immerzu Huhner schlachten muss. Glaubst du, die Geschworenen werden das verstehen, Dad?«

»Nein, mein Junge«, antwortete Mr. Thorne voll Trauer. »Ich glaube nicht, dass sie es verstehen werden.« 

EPILOG

Am 16. Marz 1925 wurde Norman Thorne des Mordes an Elsie Cameron fur schuldig befunden. Er wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Seine Hinrichtung wurde fur den 22. April festgesetzt. Wie der Zufall es wollte, ware dies Elsies siebenundzwanzigster Geburtstag gewesen.

In der Offentlichkeit wurde Besorgnis uber das Urteil laut. Viele waren der Auffassung, im Prozess sei nicht „zweifelsfrei” nachgewiesen worden, dass Norman Elsies Tod herbeigefuhrt oder die Absicht gehabt hatte, ihn herbeizufuhren. Selbst Sir Arthur Conan Doyle — der Schopfer von Sherlock Holmes — fuhlte sich bewogen, Fragen zu stellen.

Es kam nichts dabei heraus. Normans Berufung gegen das Urteil und das Strafma? wurde zuruckgewiesen. Am Abend vor seiner Hinrichtung schrieb er seinem Vater. Es war ein Brief voller Hoffnung.

Es wird ein hell leuchtendes Licht geben, und alles wird zu Ende sein. Nein, es wird nicht zu Ende sein, es wird erst anfangen, denn ich gehe zu Gott. Ich werde auf Dich warten, wie andere auf mich warten. Ich bin frei von Sunde. In Liebe…

ANMERKUNG DER AUTORIN

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