Minette Walters

Der Schrei des Hahns

Meinem guten Freund Paul

»Der Schrei des Hahns« basiert auf der wahren Geschichte des sogenannten „Huhnerfarmmords”, der im Dezember 1924 in der Blackness Road in Crowborough in East Sussex verubt wurde.

KAPITEL 1

Methodistenkircbe in Kensal Rise, Nord-London, im Winter 1920

Schneeschwere Wolken verdunkelten den Himmel an dem Tag, an dem Elsie Cameron das erste Mal mit Norman Thorne sprach. Vielleicht hatte Elsie die dustere Stimmung als Vorzeichen kommender Ereignisse nehmen sollen. Aber wie hatte sie ahnen sollen, dass ein Mann, den sie in der Kirche kennenlernte, sie vier Jahre spater an einem Ort namens Blackness Road in Stucke hacken wurde?

Drau?en peitschten Wind und Schneeregen den gotischen Turm der Kirche in Kensal Rise. Drinnen sa?en in ihre Mantel verkrochen die Gemeindemitglieder und horten dem Pastor zu. Er wetterte gegen den Teufel Alkohol, der dem Menschen alles Moralgefuhl raubte. Gottes Fluch, donnerte er, werde den Mann treffen, der im Zorn die Hand erhob. Und die Frau, die vor der Ehe einem Manne beischlief.

Elsie Cameron, klein, reizlos, zweiundzwanzig Jahre alt, mit abgekauten Fingernageln und dicken Brillenglasern, horte kaum hin. Es war immer dieselbe Leier und fur ein einsames junges Madchen, das an Depressionen litt, eine Botschaft zermurbender Hoffnungslosigkeit. Elsie wollte geliebt werden. Aber die einzige Liebe, die in der Kirche geboten wurde, war die Liebe Gottes, und die war an Bedingungen geknupft.

Ihr Blick glitt seitwarts, zu dem jungen Mann, der nicht weit entfernt mit seinem Vater und seiner Stiefmutter in einer Bank sa?. Elsie klopfte das Herz immer ein wenig schneller, wenn sie ihn sah. Er war vier Jahre junger als sie — achtzehn -, aber er sah gut aus, und wenn er einen Blick von ihr auffing, lachelte er jedes Mal. Er hie? Norman Thorne und war Mechaniker bei Fiat Motors in Wembley.

Normans richtige Mutter war gestorben, als er acht gewesen war. Mit sechzehn hatte er sich zum Royal Naval Air Service, der Luftstreitmacht der Marine, gemeldet, um am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Der Krieg endete drei Wochen nach seiner Ankunft in Belgien, und er kam nie bis an die Front. Aber das spielte fur Elsie keine Rolle. Jeder Mann, der fur sein Vaterland eintrat, war ein Held.

Sie sorgte sich wegen des Altersunterschieds, weil sie Angst hatte, gehanselt zu werden. Wurden die Leute spotten, sie vergreife sich an kleinen Jungen, wenn sie mit ihm ausging? Aber die Arbeit als Mechaniker hatte ihn kraftiger werden lassen. Niemand wurde vermuten, dass er erst achtzehn war. Elsie kaute nervos auf den Fingernageln, wahrend sie uber einen Vorwand nachdachte, ihn anzusprechen.

Ihre Mutter hatte sie gelehrt, dass nur „liederliche” Frauenzimmer den ersten Schritt machten. Warte, bis der Mann zu dir kommt, hatte sie gesagt. Aber es hatte nicht geklappt. Elsies Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, fanden ohne Problem jemanden, der „mit ihnen gehen” wollte. Elsie nicht. Elsie machte den Mannern Angst. Sie war zu heftig in ihren Gefuhlen, zu vereinnahmend, zu verkrampft.

Sie furchtete, was sie sich wunschte, und wunschte sich, was sie furchtete. Sie hatte Alptraume, als alte Jungfer zu enden — nicht begehrt und nicht geliebt aber zu flirten wie die anderen jungen Madchen, das schaffte sie nicht. Der ideale Mann wurde sich damit begnugen, sie anzubeten, bis er ihr einen Ring an den Finger stecken durfte. Erst danach wurde so etwas passieren.

Elsie hatte etwas Verbohrtes, das sie verleitete, anderen die Schuld an ihren Schwierigkeiten zu geben. Sie konnte doch nichts dafur, dass sie nicht hubsch war. Daran waren ihre Eltern schuld. Und sie konnte auch nichts dafur, dass sie keine Freunde hatte. Sie musste schon dumm sein, Leuten zu vertrauen, die hinter ihrem Rucken tratschten.

Elsie war Stenotypistin in einer kleinen Firma in der City, aber ihre Arbeitskollegen hatten von ihren Stimmungsschwankungen schon lange genug. Sie nannten sie „schwierig” und murrten uber ihre Fehler. Sie grollte ihnen dafur. Sie grollte ihrem Chef, der sie zur Rede stellte, weil sie ihre Arbeit nicht ordentlich machte.

Ganz selten einmal — in den Tiefen der Hoffnungslosigkeit — fragte sie sich, ob ihre Kollegen vielleicht recht hatten. War sie schwierig? Im Allgemeinen gab sie ihnen die Schuld daran, dass sie unglucklich war. Wenn die Leute freundlich zu ihr waren, war sie gern auch freundlich. Aber warum sollte sie immer als Erste freundlich sein mussen?

Leben und Tod hangen an solchen Kleinigkeiten.

Ware einer von ihnen gestorben, wenn Norman nicht gelachelt hatte?

Als die Gemeinde zur Kirche hinausdrangte, war Norman Thorne ein, zwei Schritte vor Elsie. Sie tat, als kramte sie in ihrer Handtasche, und trat ihm mit voller Absicht von hinten auf die Ferse. Er sah sich irritiert nach ihr um.

Sie stie? einen dunnen Schrei der Besturzung aus. »Huch!«, rief sie und grapschte nach seinem Armel.

Norman bot ihr die Hand, um ihr Halt zu geben. »Alles in Ordnung?«

Elsie nickte. »Entschuldigen Sie vielmals.«

»Denken Sie sich nichts.« Er machte Anstalten weiterzugehen.

»Ich wei?, wer Sie sind«, sagte sie hastig. »Norman Thorne. Ich bin Elsie Cameron. Wir wohnen ganz in der Nahe. Meine Mutter hat erzahlt, dass Sie im Krieg waren. Dann sind Sie also ein Held.«

Norman lachelte schuchtern. »Eigentlich nicht.«

»Ich finde schon.«

Der Junge war geschmeichelt. Und warum hatte er es nicht sein sollen? Er war jung, und noch nie hatte ein Madchen ihn so angesehen. Norman, von seinem Vater streng erzogen, trank nicht und rauchte nicht. Er half bei der ortlichen Pfadfindergruppe aus, unterrichtete in der Sonntagsschule und war auf vielerlei Art in der Gemeinde tatig.

Sein Lacheln wurde breiter. »Es ist mir ein Vergnugen, Sie kennenzulernen, Elsie.«

Normans Vater war nicht erfreut, als sein Sohn ihm erzahlte, dass er eine Freundin hatte.

»Du bist zu jung fur solchen Unfug«, erklarte Mr. Thorne. »Steck deine Krafte lieber in die Arbeit.«

»Ich hab ja gar nicht vor, sie zu heiraten, Dad.«

»Dann sei vorsichtig, mein Junge. Wir brauchen keine Mussheiraten in unserer Familie.«

Elsies Mutter war ebenso wenig erfreut. »Er ist noch ein halbes Kind, Schatz. Ein alterer Mann ware besser fur dich.«

»Er sieht nicht aus wie achtzehn.«

»Das kann ja sein, Elsie... aber auf lange Sicht macht er dich bestimmt unglucklich. Er wird anfangen, sich zu langweilen, und wird dich dann wegen einer anderen verlassen. So sind diese jungen Kerle.«

Mrs. Cameron, die beim Waschewaschen war, stand uber den Spulstein in der Kuche gebeugt. Ihre Arme steckten tief in Seifenschaum, und Elsie starrte mit Abscheu auf ihren gekrummten Rucken. »Warum musst du mir immer alles vermiesen?«, fragte sie.

»Das will ich doch gar nicht«, antwortete ihre Mutter seufzend, »aber dein Vater und ich finden -« Sie brach ab. Sie war der Diskussionen mude, und Elsie nahm ihre Ratschlage ohnehin nie an.

Sie hatte ihre Tochter im Grunde schon aufgegeben. In Elsies Leben gab es kein Mittelma?. Liebe musste bedingungslos sein. Hilfe unermudlich gegeben werden. Und wehe, man fand etwas an ihr auszusetzen. Bei der

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