Im Zwischendeck bestatigte sich die Befurchtung des Kapitans. Etliche Auswanderer, Manner wie Frauen und Alte wie Junge, weigerten sich in panischem Starrsinn, an Deck zu gehen.

Die holzernen Schotte, die sie umgaben, gaukelten ihnen eine trugerische Sicherheit vor. Feste Wande versprachen Schutz. Wie die Wande der Wohnungen und Hauser in ihrer deutschen Heimat.

Aber die Schotte der HENRIETTA wurden das Wasser nicht zuruckhalten, wenn die Bark immer tiefer sank. Das wu?te der Kapitan nur zu gut.

Und das Wasser, das bereits kniehoch im Zwischendeck stand, bestatigte es.

Mit Schreien und Handgreiflichkeiten trieb er die seiner Obhut uberantworteten Menschen an, ihr Quartier, das schnell zur Todesfalle werden konnte, zu verlassen. Einige Auswanderer mu?ten er und seine Manner geradezu an Deck zerren.

Aber lohnte sich die Muhe?

Hier oben, wo der Sturm mit unverminderter Kraft toste, sah es nicht so aus.

Die verzweifelten Versuche, die Rettungsboote zu wassern, scheiterten klaglich. Taljen und Bootsrumpfe zerbrachen splitternd, was die Verwirrung und die Panik unter den Amerikafahrern noch steigerte.

Viele sprangen aus freien Stucken uber Bord, blo? um beim Untergang der HENRIETTA nicht ein Opfer des Sogs zu werden. Es war das beste, was die Menschen angesichts des sicheren Schiffsuntergangs tun konnten.

Aber der Kapitan zweifelte nicht daran, da? die meisten der Auswanderer trotzdem sterben wurden. Der aufgewuhlte Atlantik war zu gierig.

Dann brach auch der Fockmast und sturzte aufs Deck.

Ein dickes Tau, das mit nach unten kam, peitschte uber Hinterkopf und Rucken des Kapitans.

Er verlor den Halt.

Gleichzeitig wurde ihm schwarz vor Augen.

Er merkte noch, da? plotzlich um ihn herum uberall Wasser war.

Dann ubermannte ihn die Schwarze.

*

Die Schwarze!

Er hatte Angst vor der Finsternis. Er verband sie mit Tod und Vernichtung.

Sie durfte ihn nicht bekommen!

Erleichtert stellte der Kapitan fest, da? er nur die Augen zu offnen brauchte, um das schummrige Licht der Ollampe zu sehen, die wahrend der ganzen Nacht seine Kabine erhellte und ihn vor der Dunkelheit beschutzte.

Der Traum war schlimm gewesen. Der Mann war schwei?gebadet, sein Nachthemd vollig durchna?t.

Er wurde sich nie an den Traum gewohnen, obwohl er ihn doch fast jede Nacht heimsuchte, seit mehr als zwanzig Jahren. Seitdem die HENRIETTA gesunken war und ausgerechnet er -ihr Kapitan - zu den wenigen Uberlebenden gehort hatte.

Aber wenigstens hatte er die Lampe, die ihn vor der schrecklichen Schwarze bewahrte. Er wu?te, da? er sich auf ihr Licht verlassen konnte, wenn ihn der Alptraum zu sehr peinigte. Vielleicht hatte er sonst gar keinen Schlaf gefunden, in seinem ganzen verfluchten Leben nicht.

Er stieg aus der Koje und zog das klitschnasse Nachthemd uber den Kopf.

Sein Schiff lag fast vollkommen ruhig. Kaum Seegang, schon gar kein Sturm vor der nordamerikanischen Pazifikkuste. Aber wenn er an die Mission dachte, die seinem Schiff bevorstand, konnte es leicht die sprichwortliche Ruhe vor dem Sturm sein.

Der Kapitan trocknete den Schwei?film an seinem Korper mit einem gro?en Baumwolltuch und zog sich dann an, um auf Deck zu gehen. Er war zu aufgewuhlt zum Schlafen. Vielleicht tat ihm die frische Nachtluft gut.

Die Manner der Bordwache gru?ten ihren Kapitan ohne Erstaunen. Sie waren langst daran gewohnt, da? er nachts an Bord herumwanderte wie ein ruheloser Geist.

Tatsachlich fuhlte er sich wie von Geistern besessen. Es waren Hunderte von Geistern. Die Geister der Menschen, die im Armelkanal ihr Leben lie?en, als sein erstes Schiff im Sturm sank.

Als der Kapitan an der Reling stand, blickte er hinauf zu der Vielzahl funkelnder Sterne, deren Bestandigkeit ihn ein wenig beruhigte. Ihr Licht wirkte auf ihn wie das Licht der Ollampe in seiner Kajute. Auf ihr Leuchten war Verla?.

Der Himmel war klar. Der Fruhling des Jahres 1864 war uber den Westen der Vereinigten Staaten hereingebrochen und hatte die dusteren Winterwolken vertrieben, die monatelang uber dem Land gehangen hatten.

Aber der Kapitan lie? sich nicht tauschen, das Wetter wurde schlechter werden.

Wenn sich einer mit dem Wetter auskannte, dann er. Seit dem Ungluck damals im Armelkanal hatte er das Wetter noch eingehender studiert als zuvor. Wie ein Theologe die Bibel studierte. Nicht nur das Leben des Kapitans hing davon ab, sondern auch das der ihm anvertrauten Menschen -Mannschaften und Passagiere.

Und deshalb wu?te er, da? das ruhige Wetter bald voruber sein wurde. Er hatte dieses Wissen nur schlecht erklaren konnen. Es war fast wie der Instinkt eines Tieres. Der Kapitan witterte geradezu den bevorstehenden Wetterumschwung.

Sein Blick wanderte uber die wenigen Schiffe, die im Hafen lagen, Segler und Dampfer gemischt, hinuber zur Stadt. Sie schlief zum gro?ten Teil, selbst jetzt, wo so viele Menschen hier auf eine Schiffspassage warteten.

Fogerty war wohl noch nie ein aufregender Ort gewesen. Nur wenige Lichter blinkten an Land, keine Konkurrenz fur die strahlende Pracht der Gestirne.

»Eine ruhige Nacht, Kapten«, sagte ein Mann, der an seine Seite trat. »So ruhig wie die ganze Reise bisher. Wie Sie sehen, waren Ihre Befurchtungen vollig unbegrundet.«

Als der Kapitan sich zur Seite drehte, um den Mann anzusehen, fuhlte er sich schlagartig auf die HENRIETTA zuruckversetzt. Er sah den verzweifelt an den Pumpen kampfenden Maat wieder vor sich - Robert Schelp!

Das rote Haar und die breite Nase waren fast identisch. Nur die Stirn war bei diesem Mann ein wenig hoher.

Es war nicht der Maat Robert Schelp. Naturlich nicht. Der war im Armelkanal ertrunken.

Der Mann, dessen stutzerhafte Kleidung nicht so recht zu seinem derben Gesicht passen wollte, war Arnold Schelp, der jungere Bruder des Toten.

Ein schwarzer Chapeau claque verdeckte den gro?ten Teil seines Rotschopfes. Aber dichte rote Koteletten schauten darunter hervor und fuhrten fast bis zu dem vorspringenden Kinn. Schelp hatte den dunklen Gehrock zum Schutz gegen den kalten Nachtwind geschlossen. Darunter lugte eine Hose mit hell- und dunkelgrauen Karos hervor, die auf spitze schwarzglanzende Schuhe fiel.

Eine der wei?behandschuhten Hande hielt lassig den kleinen Stock, den Schelp fast immer bei sich trug. Der Kapitan hatte noch nie gesehen, da? er ihn beim Gehen tatsachlich benutzte.

»Noch sind wir nicht am Ziel«, entgegnete der Kapitan, und eine dustere Vorahnung schwang in seiner Stimme mit. »Noch wissen wir nicht einmal, wo unser Ziel liegt. Ich finde es reichlich merkwurdig, da? wir ums Kap Horn rum sind, wo wir doch eigentlich.«

»Psst!« unterbrach ihn zischend der andere Mann und legte den wei?en Zeigefinger der behandschuhten Linken vor seine wulstigen Lippen.

Er warf einen scheuen Blick zu den Mannern der Bordwache und sagte im Flusterton: »Wir wollen die Mannschaft nicht eher ins Bild setzen als unbedingt notig, Peterson!«

Bei der Nennung des Namens zuckte der Kapitan zusammen.

»Nennen Sie mich nicht so, Schelp!« verlangte er, ebenfalls flusternd. »Sie wissen, da? ich das nicht mag.«

»Oh, ich bitte um Verzeihung, Kapten.«

Schelps spottischer Tonfall und das belustigte Glitzern in seinen sonst eher truben Augen zeigten dem Kapitan, da? die Bitte um Verzeihung nur gespielt war.

Der Kapitan vermutete, da? Schelp den Namen mit voller Absicht genannt hatte. Wahrend der Reise von Hamburg nach Amerika hatte er es mehrmals getan. Der Kapitan wu?te auch den Grund. Schelp wollte ihn daran erinnern, da? er ihn in der Hand hatte. Das Schiff gehorchte dem Kapitan, aber der Kapitan mu?te Arnold Schelp

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